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27.04.2012

Gute Gründe, Zander nicht zuzustimmen


Helmut Zanders opus magnum zur Geschichte der »Anthroposophie in Deutschland« liest Steiners Weg in die Anthroposophie als eine Geschichte von »Brüchen, Diskontinuitäten und Neujustierungen«. Zander schreibt: »Mit Steiners Beitritt zur Theosophischen Gesellschaft begann die Konstruktion seiner theosophischen ›Weltanschauung‹, die sich tiefgreifend von seinen Vorstellungen vor 1900 unterschied und die zum Fundament seiner Überzeugungen und gesellschaftlichen Wirkungen als Theosoph und späterer Anthroposoph wurde. Sein Einstieg in diese Welt weltanschaulicher und im Kern religiöser Vorstellungen vollzog sich zwischen 1900 und 1902 über eine philosophisch geprägte Annäherung ..., die er in seinem Buch ›Theosophie‹ öffentlichkeitswirksam bestätigte.« Steiners »Konversion« zur spiritualistischen Weltsicht der Anthroposophie findet nach Zander ihren ersten Niederschlag in der 1901 erschienenen Schrift »Die Mystik im Aufgang des neuzeitlichen Geisteslebens ...«. Grundlegend für die »entscheidende Neujustierung« von Steiners »intellektueller Biographie« sei »die spirituelle Interpretation der ... Welt [...].

Was aber das spezielle Thema der »metaphysischen Kosmologie« – ein Kernstück der philosophischen Weltanschauung Rudolf Steiners – betrifft, so haben wir gute Gründe, der Interpretation Zanders nicht zuzustimmen. Denn in dem »all-einen Wesen, das in uns als eine schlechthin absolute und geistige Kraft zum Dasein kommt [und] das wir sind, indem wir denken«, sowie mit der intellektuellen Transformation des Inviduellen ins Universelle, dem »Zusammenschluss von Kosmos und Individuum im Element des Denkens, und so weiter haben wir bereits in der »Philosophie der Freiheit« (1893/94) [im Traubschen Original: »1993/94«], und nicht erst in den Vorlesungen zur Mystik aus dem Jahre 1901, genau die zentralen Elemente von Steiners philosophischer Weltanschauung vor uns, von denen Zander behauptet, sie seien das Ergebnis einer »Neujustierung« von Steiners Denken in Folge seiner Begegnung mit der Theosopphie in den Jahren nach 1900. [...]

In Steiners »Theosophie« aus dem Jahre 1904 finden sich mehrere Stellen, in denen das Verhältnis zwischen dem universell-geistigen »all-einen Wesen, das alles durchdringt« und der individuellen Persönlichkeit in genau dem Sinne, ja mit denselben Metaphern, dargestellt wird, wie im Kapitel V der »Philosophie der Freiheit«. [...]

Für die philosophische Weltanschauung Rudolf Steiners bietet somit die »Philosophie der Freiheit«, und insbesondere deren Kapitel V, ein dauerhaftes Fundament, das auch für die späteren esoterischen Lehren tragende und orientierende Gültigkeit hat. [...] Es sind somit nicht die 27 Vorträge über die Mystik aus dem Jahre 1901, wie Zander das im Kapitel 7.2 seines Buches rekonstruiert, von denen aus Steiner seinen Weg in die Theosophie antritt, sie sind dies schon gar nicht als sein philosophischer Ausgangspunkt. Sondern was die frühe Konzeption einer anthroposophisch angehauchten metaphysischen Kosmologie betrifft, so liegt diese offensichtlich – als philosophische Konzeption – bereits in der »Philosophie der Freiheit«, insbesondere in deren Kapitel V vor.

Hartmut Traub in »Philosophie und Anthroposophie. Die philosophische Weltanschauung Rudolf Steiners - Grundlegung und Kritik«, Stuttgart 2011, S. 461-464.