< Lucian Hölscher über Zanders Grenzen
03.01.2012

Dogma und Inquisition


»Zander versteht sich als philologischer Detektiv«, schreibt Rahel Uhlenhoff, die Herausgeberin des Sammelbandes »Anthroposophie in Geschichte und Gegenwart«, in Ihrem Vorwort, »der eine ›biographische Kriminalgeschichte‹ über Rudolf Steiner nach dem scheinbaren Auftragsprofil verfasst: Wühlen Sie nur genug in den Details seiner Vergangenheit und den Fußnoten seiner Werke herum, Sie werden schon einen dunklen Fleck finden, und falls nicht, so werden Sie ihm schon genügend Dreck zur öffentlichen Denunziation andichten (aus der alten Trickkiste: Lügen, Plagiate, Machtmissbrauch bis Frauengeschichten; aus der neuen Trickkiste: Scharlatanerie, allgemein Rassismus, speziell Antisemitismus); irgendein Vorwurf bleibt immer hängen.

Die vorerst indirekt erhobenen Vorwürfe lassen sich hernach zu Bausteinen eines direkten Verdächtigungsgebäudes auftürmen und der Delinquent damit überführen. Helmut Zanders direkter Machtvorwurf soll Steiner als einen Machtmenschen, der direkte Plagiatsvorwurf ihn als einen Betrüger und beide zusammengenommen sollen den Geistesforscher indirekt als Lügner verdächtigen. Mit einem Lügner fiele erst die Glaubwürdigkeit der Geistesforschung und mit ihr der Geist der Anthroposophie, mit einem Betrüger dann die Lauterkeit der Anthroposophischen Gesellschaft und mit einem Machtmenschen schließlich die Legitimation der anthroposophischen Bewegung. Infolgedessen fielen die Sympathisanten von der anthroposophischen Bewegung, die Anthroposophen von der Anthroposophischen Gesellschaft und Freien Hochschule für Geisteswissenschaft ab – und Helmut Zander hätte endlich jenes Ziel erreicht, das er sich bereits vor Veröffentlichung von Anthroposophie in Deutschland gesteckt hatte: die Anthroposophen von Rudolf Steiner abtrünnig zu machen.

Zur Erreichung dieses Zieles verfolgte Helmut Zander folgende Argumentationsstrategie: Zander gab erst vornehm Deutungsabstinenz gegenüber Steiners Geistesforschung und Philosophie vor; er wolle sich auf die Philologie und Historiographie bescheiden. In diesen Feldern unterstellte er die Prämissen des Plagiats- und Machtvorwurfs; als ob diese Konstruktionen selbst keine Deutung wären. Dann kämmte er die Quellen zum Beleg dieser willkürlich gesetzten Deutung mittels Datensuchmaschinen durch, exzerpierte passend erscheinende Zitate aus dem Werkkontext, verdrehte ihren Sinn nicht selten um 180 Grad und remontierte sie in sein vorgefasstes Deutungsschema ein. Schließlich kommentierte er diese mit so hergeholten Kontext-Konstruktionen, dass die Konklusionen hernach bewiesen, was die Prämissen schon behaupteten: Rudolf Steiner sei ein Lügner, Betrüger und Machtmensch gewesen. Allesamt Behauptungen, die auf den Untersteller reflexiv zurückfallen. Mit dieser a priori verdrehten Deutung und verleumderischen Lehre besetzte er a posteriori das ebenso bescheiden offen gelassene Geistesvakuum wie die vornehm freigelassene Leere. So schlug Zanders erst vorgegebene Deutungsabstinenz gegenüber Steiners Geistesforschung und Philosophie hernach über seine tendenziöse Philologie und Historiographie schließlich in Deutungshypertrophie um.

Dieses Vorgehen ist kein Forschen nach ergebnisoffener Fragestellung, sondern nach ergebnisdeterminierter Vorverurteilung. Wenn das Ergebnis oder Urteil der Untersuchung aber schon vor derselben feststeht, dann handelt es sich in der Wissenschaft um Dogmatisierung und in der Jurisprudenz um Inquisition.« (S. 23-26)