Der Weg ins spirituelle Reich des Geistes führt heute durch das intellektuelle Reich | 1902

Rudolf Steiner an Wilhelm Hübbe-Schleiden, Berlin-Friedenau, 16. August 1902

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Aber, lieber, verehrter Herr Doktor: ist nicht auch in diesem Falle vielleicht das Beste der Feind des Guten. Das Beste wäre ja zweifellos etwas ganz Neues, ohne Anlehnung an Bestehendes. Doch glaube ich, daß wir dieses Beste auch im Rahmen der Theosophical Society Section vielleicht doch durchführen können. Das wissen Sie aus unserem kurzen Zusammengehen, daß ich nie etwas anderes im Rahmen der Theosophical Society tun kann, als was auch Ihren Intentionen entsprechen wird. Das Risiko, dem ich mich aussetze, schwebt mir klar vor Augen. Und ich glaube, ich muß mich demselben aussetzen. Was kann denn nur kommen? Was muß vielmehr kommen? Entweder wir sind in der Lage, der Theosophical Society Section in Deutschland als Rahmen ein Bild einzusetzen, das wir für das richtige hal­ten. Dann werden die bisherigen Persönlichkeiten sehen, wie sie sich zu uns stellen. Oder aber wir sind nicht in der Lage: dann ist die Summe der bisherigen Persönlichkeiten einfach durch diese Tatsache – selbst wenn sie eine Sektion zustande brächten, was gewiß nicht der Fall sein wird – ins Nichts zusammengesunken. Denn damit hätten sie ein für allemal auf die Bewegung innerhalb der deutschen Geistesbildung verzichtet. Und wir hätten es dann mit einer tabula rasa zu tun, die nicht wir erst gemacht haben und die uns unser Wirkensfeld eröffnet. Solange aber das nicht der Fall ist, sind wir zur Untätigkeit bestimmt. Ich möchte am liebsten ganz positiv in meiner Tätigkeit sein; die nutzlose und wesenlose Opposition möchte ich den Herren Bresch und Hubo überlassen. Ich will auf die Kraft bauen, die es mir ermöglicht, »Geistesschüler« auf die Bahn der Entwicklung zu bringen. Das wird meine Inaugurationstat allein bedeuten müssen. Deshalb möchte ich in allem positiv sein.

Auch die Leipziger werden ja dann nachzusehen haben, ob sie ferner contra uns sein wollen oder sich mit uns vereinen wollen. Ich werde sie natürlich niemals als »Gesellschaft« bekämpfen. Aber anschließen könnte ich mich den Leipzigern als »Gesellschaft« nicht, weil ich einfach der Meinung bin, daß sie vielleicht bis zu einem gewissen Punkte kommen können, aber nicht darüber hinaus, Ich glaube, man braucht die Theosophical Society noch lange nicht für etwas auch nur relativ Vollkommenes zu halten, aber man wird doch zugeben müssen, daß sie mehr Entwicklungskeime in sich trägt als die Leipziger Gesellschaft. Ich mag vielleicht unrecht haben, aber ich stehe auf dem Standpunkte, daß ich mich der Theosophical Society anschließen darf, daß ich mit ihr wirken darf, – daß ich aber ein Gleiches mit der Leipziger Gesellschaft nicht dürfte. Ich glaube nämlich, daß die Bewegung, die H.P.B. und A. Besant eingeleitet haben, über H. P. Blavatsky und Annie Besant hinausschreiten kann, daß aber die Leipziger Gesellschaft höchstens bis zu H. P. Blavatsky und Annie Besant vordringen kann. Und damit habe ich für Sie, mein hochverehrter, lieber Herr Doktor, den Standpunkt präzisiert, den ja auch Sie einnehmen.

In herzlicher Hochachtung ganz Ihr

Rudolf Steiner

Beilage zum vorhergehenden Brief

Hochverehrter, lieber Herr Doktor!

Hier möchte ich mit einigen Sätzen meine Meinung über die mit (*) bezeichneten Sätze aufschreiben:

Nach meinen Erfahrungen ist es heute ebenso unzulänglich, auf diejenigen zu bauen, die in leichter Art die Erhebung durch zu schnell geistig gedeutete äußere Vorgänge suchen, wie auf diejenigen, die auf den »Schwingen praktischer Begeisterung sich über das theoretische Verständnis leicht hinwegsetzen«. Das sind wunderschöne Worte, die Sie im Sinne Ihres Briefes von gestern den ersten Seiten einzufügen gedenken. Für mich liegt nun in einer gewissen anderen Beziehung heute eine ebenso große Gefahr wie in dieser »Begeisterung«. Von Ihnen kann ich wohl nicht mißverstanden werden, wenn ich sage: ich sehe heute eine gewisse Gefahr in solchen Vorträgen wie in den Leadbeaterschen über die »unsichtbaren Helfer«. Ich weiß, daß hier für viele ein Weg zur Theosophie sich eröffnet. Aber unter diesen sind wieder viele, die zu bequem sind, den höheren Weg des mentalen Verständnisses sich anzueignen. Bei jeder spiritistischen Sitzung kann man das sehen. Der in den  meisten Menschen latente materialistische Sinn feiert da wahre Orgien. Wir halten aber das mentale Verständnis  zurück, wenn wir einer unzeitigen Deutung phänomena­ler Erscheinungen Vorschub leisten. Und wir liefern Wasser auf die Mühle des Materialismus.

Ich habe gerade darin Erfahrung, da ich es nie verschmäht habe, mich vor die ganze Front hinzustellen, welche der Materialismus unserer Tage aufzuführen in der Lage ist. Tut man dies, so muß man mit Mitteln arbeiten, welche aus der Werkstätte dieses Materialismus selbst entnommen sind; und ich bin oft genötigt, die materialistischen Ausdrucksmittel in einem geistigen Sinne zu gebrauchen, der einer äußerlichen Beobachtung nicht immer gleich durchsichtig ist. Meine Broschüre Haeckel und seine Gegner« ist ein voller Beweis dafür. Wer in ihr den Absatz von Seite 27 »Nun aber wird die dualistische ... « bis Seite 30 » ... bloße Verdächtigung desselben hinausläuft« [liest], sollte keinen Augenblick zweifeln, daß der Sinn »theosophisch« ist, daß ich die Naturwissenschaft hier in die »Theosophie« einmünden lasse, und zwar ganz bewußt. Dennoch stelle ich mich in der ganzen Broschüre auf den Standpunkt des Haeckelsehen Religionsbekenntnisses, weil für mich jedes Religionsbekenntnis eine Entwicklungsstufe zur Wahrheit ist und ich mich bemühe, die Wahrheit in den Bekenntnissen zu suchen. Ich halte es eben nicht für richtig, es mit dem Haeckelismus zu machen, wie der Hofrat Seiling es macht. Dann tut man genau dasselbe Haeckel selbst mit dem Christentum tut.

Nun sind die meisten der gegenwärtig sich auf Gebetserhörungen Berufenden in genau demselben Sinne Materialisten, wie etwa Ludwig Büchner einer war. Für mich haben aber die Büchnerianer eines voraus: die Aufrichtigkeit und Beharrlichkeit in sich selbst. Sie sagen einfach: Für mich ist da ein Zufall, wo ich kein Gesetz wahrnehmen kann. Das tut ja auch Lehmann in seinem im üblen Sinne zeitgemäßen Buch über den »Aberglauben«. Ich glaube nun nicht, daß wir auf den vielen Materialismus innerhalb der theosophischen Bewegung bauen dürfen. Es ist wohl einer der geschicktesten Winkelzüge Franz Hartmanns, daß er sich in den Fragen, welche spiritistisch Gläubige an ihn stellen, ironisch verhält.

Man erlebt zuviele Enttäuschungen, wenn man auf diejenigen baut, auch ohne daß man es will, denen man von »geistiger« Entwicklung spricht und die dann kommen und einem »doch« von den »Gesundbetern« vorschwärmen. Es scheint mir, daß wir vor allem nach dieser Richtung hin ganz klar sein müssen. Ich weiß, was mir noch alles für Mißverständnisse nach dieser Seite hin blühen werden. Nehmen Sie mir nicht übel, daß ich meine Bedenken gerade über diesen Punkt rückhaltlos äußere. Ich glaube aber nicht, daß es gut wäre, wenn wir alles darauf anlegten, von den spiritualistischen Materialisten in Anspruch genommen zu werden, und dafür die Opposition der zwar noch unentwickelten, aber dafür innerlich strebenden und, wenn auch unbewußt, auf theosophischer Bahn wandelnden materialistischen Spiritualisten wachriefen. Wir haben dazu in Anbetracht der Geistesverfassung der Gegenwart keinen Grund.

Ich möchte vielmehr alles tun, um die Theosophie in der Gegenwart in das Fahrwasser zu bringen, das in Ihren Worten liegt: »Dieser Weg ins spirituelle Reich des Geistes führt heute durch das intellektuelle Reich.« Die meisten aber, die heute etwa Leadbeaters Vortrag über die »unsichtbaren Helfer« unterschreiben, wollen oder können noch nicht durch das intellektuelle Gebiet. Deshalb frage ich Sie, ob der Satz: » ... sondern auch die stets und überall berichteten Gebetserhörungen« nicht wegbleiben kann? In einer Zeit, in der Bischöfe selbst von dem geistigen, nicht materiellen Ursprung der Reliquien zu sprechen sich gedrängt fühlen, muß man auf die möglichen Mißverständnisse wohl achten.

Mir kommt es überall darauf an, daß eine Sache von dem wirklich verstanden wird, der sie zu verstehen vorgibt. Und das ist zweifellos mit den »unsichtbaren Helfern« bei dem Troß der »Theosophen« nicht der Fall.

Schreiben Sie diese meine Meinung nicht der Ängstlichkeit vor der materialistischen Borniertheit unserer Tage zu. Ich habe nicht die geringste Angst vor den Materialisten. Aber ich möchte nicht unnötig Mauern errichten, die von dieser Seite her den Eingang zu uns versperren, während uns es doch durchaus nicht darum zu tun sein kann, die materialistische Gesinnung in der theosophischen Bewegung zu pflegen.

Quelle: Rudolf Steiner, Briefe, Band 1, 1892-1902, Dornach 1953