Einweihung und Mysterien – Juli bis September 1903

Rudolf Steiner, Zeitschrift Luzifer, Juli-September 1903

Einen »Garten der Reife« nennen alte Weise den Ort, den der Mensch betritt, wenn die Geheimnisse der Welt ihm offenbar werden. Keine Blume sei in dem Garten, die nicht ihre Frucht, kein Ei, das nicht das in ihm keimende Leben gereift hätte. Aber als dunkel und gefahrvoll werden zugleich die Pfade geschildert, die zur »engen Türe« führen, durch die dieser Garten abgeschlossen ist. Zugleich wird versichert, das Dunkel werde heller als die Sonne, die Gefahren machtlos gegen die in der Seele schwellenden Kräfte für den, welchem ein Myste, ein »Eingeweihter« mit sorgender Hand diese Pfade weist. Als kindliche Vorstellungen einer Zeit, in der man nichts ahnte von den Wissenschaften unserer Tage, wird solches beiseite geschoben von dem »Aufgeklärten«, der unterscheiden zu können vermeint zwischen den Wahngebilden »tastender Einbildungskraft« und den nüchternen Einsichten eines »wissenschaftlich geschulten« Verstandes. Und wer dennoch heute von solchen Vorstellungen spricht, der darf sicher sein, dass er bei vielen seiner Zeitgenossen, wenn nicht auf ein hochmütiges, so doch wenigstens auf ein mitleidiges Lächeln stößt.

Und trotz alledem gibt es solche, die heute ähnlich wie jene alten Weisen von der Welt der Seele und der Heimat des Geistes sprechen. Sie werden für Personen gehalten, die von einer Welt reden, die ihnen nur ihre zügellose Phantasie vorspiegelt. Man bedauert wohl gar, dass sie, mitten in einer Welt, die durch nüchterne Logik so unendlich viel erreicht hat, als Trunkene taumeln, die in jedem Augenblick die Sicherheit verlieren, weil sie sich nicht an das halten, was »tatsächlich« vorhanden ist.

Was sagen nun diese »Trunkenen« selbst zu solcher Widerrede? Wenn sie sich auf der Höhe fühlen, auf der ihnen ein Recht erteilt wird, über sich zu sprechen, dann hört man aus ihrem Munde das Folgende: Wir verstehen euch, die ihr unsere Widersacher sein müsst, ganz genau. Wir wissen, dass viele von euch ehrliche Leute sind, die sich rückhaltlos in den Dienst des Wahren und Guten stellen. Aber wir wissen auch, dass ihr uns nicht verstehen könnt, solange ihr so denkt, wie ihr eben denkt. Über die Dinge, von denen wir zu sprechen haben, können wir mit euch erst sprechen, wenn ihr euch bemüht haben werdet, unsere Sprache zu erlernen. –

Nach diesem unseren Ausspruch werden wohl viele von euch mit uns fertig sein, denn sie werden nun zu erkennen glauben, dass sich zu unserer phantastischen Schwärmerei auch noch unser unheilbarer Hochmut gesellt. Wir aber verstehen euch auch in solcher Behauptung, und wir wissen zugleich, dass wir nicht hochmütig, sondern bescheiden zu sein haben. Um euch zu dem Versuch zu bewegen, auf unsere Vorstellungen einzugehen, haben wir nur eines zu sagen. Ihr dürft uns glauben, dass wir niemandem ein echtes Recht zugestehen, über unsere Erkenntnisse mitzusprechen, der euch nicht nachfühlen kann, was euch zu euren Behauptungen drängt, und der nicht die Kraft, die überzeugende Gewalt und Tragweite eurer Wissenschaft gründlich kennt.

Wer nicht das sichere Wissen in sich trägt, dass er so nüchtern, so »wissenschaftlich« denken kann, wie der nüchternste Astronom, Pflanzen- und Tierforscher, der sollte in Dingen des geistigen Lebens, in mystischen Erkenntnissen nur ein Lernender, kein Lehrender sein. Aber man missverstehe uns nicht: wir sprechen nur von Lehrenden, nicht von Lernenden. Ein Schüler der Mystik kann jeder Mensch werden, denn in jedes Menschen Seele liegen die Ahnungsvermögen, die sich der Wahrheit erschließen. Zu den Unwissendsten sollte der Mystiker verständlich sprechen. Und denen, welchen er nach dem Grade ihres Verständnisses nicht ein Hundertstel der Wahrheit sagen kann, er sage ihnen ein Tausendstel. Heute erkennen sie das Tausendstel, und morgen werden sie das Hundertstel erkennen. Alle sollen Lernende sein. Aber keiner sollte Lehrender sein wollen, der nicht des nüchternsten Verstandes und der strengsten Wissenschaft Disziplin an sich wirken lassen kann. –

Nur die sind wahre Lehrer der Mystik, die vorher strenge Wissenschafter gewesen sind, und die deshalb wissen, wie es sich in der Wissenschaft lebt. Auch der wahre Mystiker sieht jeden für einen Phantasten, für einen Trunkenen an, der nicht in jedem Augenblicke der Mystik ernstes Feiertagskleid ausziehen, und im Wochentagsanzug des Physikers, des Chemikers, des Pflanzen- und Tierforschers einhergehen könnte. –

So spricht der echte Mystiker zu seinen Gegnern; in aller Bescheidenheit versichert er ihnen, dass er ihre Sprache versteht, und dass er sich kein Recht zugestände, Mystiker zu sein, wenn er sich unkundig in ihrer Sprache wüsste. –

Dann aber darf er auch hinzufügen, dass er weiß, so weiß, wie man Tatsachen des äußeren Lebens weiß: im Falle seine Gegner seine Sprache erlernen, werden sie aufhören, seine Gegner zu sein. Er weiß das, wie jeder Mann, der Chemie studiert hat, weiß, dass unter gewissen Bedingungen aus Sauerstoff und Wasserstoff Wasser wird.

Dass Plato niemand in die höheren Stufen der Weisheit einführen wollte, welcher der Geometrie unkundig war, bedeutet nicht, dass er nur gelehrte Geometer zu seinen Schülern machte, sondern, dass diese sich an ernstes, strenges und genaues Forschen gewöhnt haben mussten, bevor ihnen die Geheimnisse des Geisteslebens erschlossen wurden. Eine solche Forderung erscheint in rechtem Lichte, wenn man bedenkt, dass in diesen höheren Gebieten die Kontrolle aufhört, die den gewöhnlichen Forscher auf Schritt und Tritt korrigiert. Wenn der Pflanzenforscher sich falsche Vorstellungen macht, so werden ihn bald seine Sinne über seinen Irrtum aufklären. Er verhält sich dem Mystiker gegenüber wie derjenige, der auf ebenem Wege geht, zum Bergsteiger. Der eine kann zu Boden fallen; er wird sich nur in Ausnahmefällen töten; dem andern steht diese Gefahr immer bevor. Und gewiss kann niemand Berge besteigen, der nicht gehen gelernt hat. –

Weil geistige Tatsachen nicht in derselben Art die Vorstellungen korrigieren wie äußere Tatsachen, ist strengstes, zuverlässiges Denken eine ganz selbstverständliche Voraussetzung für den mystischen Forscher.

Gibt man sich solchen Gedanken hin, so erkennt man, was jene alten Weisen meinten, wenn sie von den Gefahren sprachen, die dem Menschen drohen, der zu den Geheimnissen der Welt vordringen will. Wer mit ungeschultem Denken zu ihnen kommt, in dessen Seele richten sie Verwirrung an. Sie werden gefährlich wie eine Dynamitbombe in den Händen eines Kindes. Daher tritt an jeden mystischen Forscher die strenge Forderung heran, dass sich die Richtigkeit seines Denkens, ja seines ganzen Seelenlebens an schwierigen, dornenvollen Aufgaben erst erprobe, bevor er den eigentlichen höheren Aufgaben sich nähert. –

Das ist eine Hindeutung darauf, was der Mystiker im Sinne hat, wenn er von den ersten Stufen der »Einweihung« in die höheren Wahrheiten spricht.

Unzählige, die glauben auf der Bildungshöhe unserer Zeit zu stehen, halten gesundes Denken und Mystik für unversöhnliche Gegensätze. Sie meinen, eine klare wissenschaftliche Erziehung müsse in dem Menschen alle mystischen Neigungen austilgen. Und besonders unbegreiflich finden sie es, wenn jemand solche Neigungen hat, dem die wichtigsten Ergebnisse der neueren Naturwissenschaft bekannt sind. Wenn die recht hätten, die also denken, dann müsste man wohl zugeben, dass Mystik in der Gegenwart wenig Aussicht habe, den Zugang zu den Seelen unserer Zeitgenossen zu finden. Denn niemand, der Verständnis für die geistigen Bedürfnisse dieser Gegenwart hat, kann zweifeln, dass die Siege vollberechtigt sind, welche die Naturwissenschaft errungen hat, und noch erringen wird. Es muss ohne Einschränkung zugegeben werden, dass heute sich niemand ungestraft an dem Geiste echter naturwissenschaftlicher Denkungsart versündigen darf. –

Und dennoch: wer Augen hat, zu sehen, muss ebenso zugeben, dass die Zahl derer immer größer wird, die sich unbefriedigt fühlen bei dem, was naturwissenschaftliche Denker über die unabweislichen Fragen der menschlichen Seele vorzubringen haben. Fast schüchtern versenken solch Unbefriedigte sich in die Werke der Mystiker. Da finden sie, wonach ihre Seelen dürsten. Da strömt ihnen entgegen, wessen ihr Herz bedarf: wirkliche geistige Lebensluft. Sie fühlen dabei das Wachstum ihrer Seele; sie finden, wonach der Mensch unaufhörlich doch suchen muss: den Hauch eines Göttlichen. –

Aber unaufhörlich schärft man ihnen immer wieder und wieder ein: sie müssten durch die Naturwissenschaft klares, ruhiges Denken lernen, und sich nicht durch Phantasten und Schwärmer bestricken lassen. –

Kommen sie dann etwa einer solchen Aufforderung nach, so erfahren sie nur, dass ihre Seele verödet.

Es bleibt aber eine tief in jedes Menschenherz eingegrabene Wahrheit, dass die Natur des Menschen große Lehrmeisterin ist. Wer könnte es Goethe nicht nachfühlen, wenn er davon spricht, dass er sich von den Verirrungen und Disharmonien der Menschen immer wieder gerne zu den ewigen Notwendigkeiten der Natur zurückziehe. –

Und wer könnte, ohne rückhaltlose Zustimmung, die Worte lesen, mit denen der große Dichter die Empfindungen schildert, die ihn überkamen bei einer einsamen Betrachtung der ehernen Gesetze, nach denen die Natur Gebirge bildet: »Auf einem hohen nackten Gipfel sitzend und eine weite Gegend überschauend, kann ich mir sagen: Hier ruhst du unmittelbar auf einem Grunde, der bis zu den tiefsten Orten der Erde hinreicht ... In diesem Augenblicke, da die innern anziehenden und bewegenden Kräfte der Erde gleichsam unmittelbar auf mich wirken, da die Einflüsse des Himmels mich anher umschweben, werde ich zu höheren Betrachtungen der Natur hinauf gestimmt ... So einsam, sage ich zu mir selber, indem ich diesen ganz nackten Gipfel hinab sehe, ... so einsam wird es dem Menschen zu Mute, der nur den ältsten, ersten, tiefsten Gefühlen der Wahrheit seine Seele eröffnen will. Da kann er zu sich sagen: hier auf dem ältesten ewigen Altare, der unmittelbar auf die Tiefe der Schöpfung gebaut ist, bring ich dem Wesen aller Wesen ein Opfer.«

Nur selbstverständlich ist es, dass man solche Gesinnung, mit der man ehrfürchtig vor der großen Lehrmeisterin Natur steht, auch auf die Wissenschaft überträgt, die von ihr spricht.

Es darf kein Widerspruch bestehen zwischen den Gefühlen, welche die Seele durchströmen, wenn sie sich den »ältsten, ersten, tiefsten Wahrheiten« über das geistige Leben nähert, und denen, die in sie einziehen, wenn das Auge auf der ewigen Bautätigkeit der Natur ruht.

Hat der Mystiker für solche Harmonie der Natur mit den heiligsten Gefühlen der menschlichen Seele kein Verständnis ?

Aber über dem Altare, an dem der wahre Mystiker seine Opfer darbringt, stand zu allen Zeiten, in die des Menschen Forschung reicht, mit Flammenschrift als höchstes Gesetz: »Die Natur ist der große Führer zum Göttlichen; und des Menschen bewusstes Suchen nach den Quellen der Wahrheit soll folgen den Spuren ihres schlafenden Willens.«

Folgen die Mystiker diesem ihrem höchsten Gesetz, so sollte kein Gegensatz sein zwischen ihren Wegen und jenen, welche die Erforscher der Natur wandeln. Am wenigsten sollte ein solcher Gegensatz in einem Zeitalter zutage treten, das der Naturwissenschaft Unsägliches verdankt.

Um in dieser Richtung klar zu sehen, muss gefragt werden: worinnen kann denn die Übereinstimmung zwischen Naturwissenschaft und Mystik bestehen? Und worinnen würde ein Gegensatz liegen? –

Die Übereinstimmung kann doch nur darin gesucht werden, dass die Vorstellungen, die man sich über das Wesen des Menschen macht, nicht fremd sind denen, die man von den andern Wesen der Natur hat. Dass man eine Art von Gesetzmäßigkeit in dem Wirken der Natur und in dem Leben des Menschen sieht. Ein Gegensatz würde dann bestehen, wenn man in dem Menschen ein Wesen völlig anderer Art erblicken wollte als in den anderen Geschöpfen der Natur. Für diejenigen, die einen Gegensatz in dieser Weise wollen, wirkte es erschütternd, als vor mehr als vier Jahrzehnten der große Forscher Huxley, aus dem Geiste der neueren Naturwissenschaft heraus, wegen der Ähnlichkeit der anatomischen Beschaffenheit die nahe Verwandtschaft des Menschen mit den höheren Tieren in die Worte zusammenfasste: »Wir können ein System von Organen nehmen, welches wir wollen, die Vergleichung derselben in der Reihe der Affen führt uns zu einem und demselben Resultate: dass die anatomischen Verschiedenheiten, welche den Menschen vom Gorilla und Schimpansen scheiden, nicht so groß sind, als die, welche den Gorilla von den niedrigeren Affen trennen.« –

Solch ein Satz kann nur dann erschütternd wirken, wenn man ihn in eine falsche Beziehung zum Wesen des Menschen bringt. Gewiss, es kann sich daran der Gedanke knüpfen: wie nahe steht doch der Mensch dem Tiere! Diese nahe Verwandtschaft hat für den Mystiker nichts Bedenkliches. Denn für ihn stellt sich sofort der andere Gedanke ein: wie können doch die Organe, die beim Tiere vorhanden sind, höheren Zielen dienen, wenn sie zu menschlichen umgebildet sind. Er weiß, dass der schlafende Wille der Natur aus tierischer Wahrnehmung menschliche macht, indem er die tierischen Organe in anderer Form entwickelt. Er folgt den sicheren Spuren der Natur und setzt ihre Taten fort. Für ihn ist das Werk der Natur mit dem nicht abgeschlossen, was sie ihm geschenkt hat. Er wird dadurch ein treuer Schüler der Natur, dass er ihr Werk erhöht. Sie hat ihn bis zum menschlichen Denken und Empfinden gebracht. Er nimmt Denken und Empfinden nicht als Starres, Unbewegliches hin, sondern macht sie zu höheren Tätigkeiten fähig. Durch seinen Willen geschieht, was in der äußeren Natur ohne diesen vor sich geht. Seine Augen beweisen, dass Augen noch zu anderem fähig sind, als sie beim Affen verrichten. Augen können somit umgebildet werden. –

Des entwickelten Mystikers Seelenvermögen verhalten sich zu denen des unentwickelten Menschen, wie sich menschliche Augen zu Affenaugen verhalten. Es ist begreiflich, dass, wer nicht Mystiker ist, so wenig die Seelenart des Mystikers versteht, wie das Tier das Denken des Menschen verstehen kann. –

Und wie einem nichtdenkenden Geschöpfe eine neue Welt aufginge, wenn es in sich die Fähigkeit des Denkens entwickeln könnte, so blickt der Mystiker, nach Entwickelung seiner höheren Fähigkeiten, in eine andere Welt. Er ist in diese Welt »eingeweiht«. Wer nicht Mystiker wird, verleugnet die Natur. Er setzt nicht fort, was ihr schlummernder Wille ohne ihn vollbracht hat. Dadurch stellt er sich in Gegensatz zur Natur. Denn diese bildet ihre Formen fortwährend um. Sie schafft ewig Neues aus dem Alten. Wer im Sinne der neueren Naturwissenschaft an diese Umgestaltung, an diese Entwickelung glaubt, und dennoch sich nicht selbst wandeln will, der erkennt zwar die Natur; aber er stellt sich in seinem eigenen Leben in Widerspruch mit ihr. Man soll nicht bloß Entwickelung erkennen; man soll sie leben. Also begrenze man unsere Lebensfähigkeiten nicht dadurch, dass man ausschließlich auf unsere Verwandtschaft mit den übrigen Wesen hinweist. –

Wer in mystischer Erziehung ein treuer Schüler der Natur wird, dem geht der Sinn auf für Höherentwickelung des Menschen.

Viele werden zu diesen Andeutungen über Mystik und »Einweihung« sagen: »Was nützt uns solches Reden von Fähigkeiten, die uns unbekannt sind. Gebt uns diese Fähigkeiten, und wir werden euch glauben.« –

Niemand kann einem anderen etwas geben, das dieser zurückweist. Und schroffe Zurückweisung ist es zumeist, was unsere Mystiker erfahren. –

Sie können gegenwärtig nicht viel anderes tun, als denen ihre mystischen Erkenntnisse erzählen, die zuhören wollen. Das scheint allerdings zunächst so, als wenn man dem von Amerika bloß erzählte, der von uns verlangt, dass wir ihm einen Besuch dort ermöglichen. Aber es scheint eben nur so. Mit geistigen Dingen ist es anders als mit physischen. Lange bevor der Mensch die Wahrheit in hellem Lichte zu schauen imstande ist, vermag er sie zu ahnen und in sein Gefühl aufzunehmen. Und dieses Gefühl ist selbst eine Kraft, die ihn weiterführen kann. Es ist eine Stufe, die notwendig ist. Wer mit Hingebung der Darstellung des Mystikers folgt, der schreitet bereits den Pfad vorwärts zu den höheren Wahrheiten. –

Nur der Eingeweihte versteht ganz den Eingeweihten. Aber die Liebe zum Wahren macht auch den Uneingeweihten empfänglich für die Worte des Mystikers. Und durch solche Empfänglichkeit arbeitet er daran, seine mystischen Anlagen zu erschließen. Das erste ist, dass man für die Möglichkeit höherer Erkenntnisse eine Empfindung habe. Dann geht man nicht mehr achtlos vorbei an den Personen, die von ihnen sprechen.

Es ist in diesem Aufsatze bereits gesagt worden, dass es auch gegenwärtig Persönlichkeiten gibt, die sich um die Erneuerung mystischen Lebens bemühen. In einem weiteren Aufsatze soll von zwei Erscheinungen dieses Gebietes gesprochen werden. Von Annie Besants Buch »Esoterisches Christentum, oder die kleineren Mysterien«. (Es ist soeben in deutscher Übersetzung von Mathilde Scholl erschienen. Leipzig 1903, Griebens Verlag.) Und von dem Werk des genialischen französischen Denkers und Dichters Edouard Schuré: »Die großen Eingeweihten« (»Les grands Initiés«).

Beide Bücher verbreiten Licht über das Wesen der sogenannten Einweihung oder Initiation. Annie Besant zeigt, wie das Christentum als Werk solcher Einweihung verstanden sein soll. Edouard Schuré entwirft Bilder der größten Führer der Menschheit auf dem Grunde seiner Überzeugung, dass die großen Bekenntnisse und Weltanschauungen, die von ihnen der Menschheit geschenkt worden sind, ewige Wahrheiten bergen, die man nur in ihnen finden und aus ihnen herausholen müsse. –

Beide Schriften erfahren ihre Berechtigung nur auf dem Boden der Mystik. Sie sind aus derjenigen geistigen Strömung unserer Zeit hervorgegangen, die bestimmt ist, die Menschheit aus einer rein äußerlichen Kultur zur Höhe geistiger Anschauung zu erheben. Es wird eine Zeit kommen, in der »wissenschaftliches Denken« dieser Strömung nicht mehr wird feindlich gegenüberstehen können. Dann wird die Naturwissenschaft erkennen, dass sie selbst Mystik sein muss. Denn sie wird einsehen, dass man den Geist nicht begreift, indem man ihn leugnet, und dass man gegen die Naturgesetze sich nicht auflehnt, wenn man die geistigen sucht. Man wird die Mystiker nicht mehr als Finsterlinge bezeichnen, denn man wird wissen, dass nur für ihre Gegner das Gebiet dunkel ist, von dem sie sprechen.

Und über die »Einweihung« wird man ebensowenig spotten, wie man gegenwärtig über die Forderung spottet, dass derjenige erst das Mikroskopieren lernen muss, der über das Leben kleinster Organismen forschen will. Zur Forschung gehört die Erfüllung gewisser Vorbedingungen. Diese Bedingungen sind für den angehenden Mystiker allerdings nicht solche, die in äußerer Technik, sondern in der Pflege einer bestimmten Richtung des seelischen Lebens bestehen. Durch diese Pflege wird der Sinn erschlossen für Wahrheiten, die nicht von Vergänglichem reden, sondern von dem, wovon – in Goethes Worten – das Vergängliche »nur ein Gleichnis ist«. –

Im Schoße des menschlichen Daseins ruhen höhere Fähigkeiten, wie im Schoße der Blume die Frucht ruht. –

Und deshalb sollte kein Wesen die Vermessenheit haben, zu sagen, dass in seiner Welt etwas Erschöpfendes, Fertiges liege. Hat ein Mensch solche Vermessenheit, so gleicht er dem Wurm, der die Welt seiner Sinne für den Umkreis des Daseins hält.

Einen »Garten der Reife« nennt man den Ort, wo die Geheimnisse der Welt offenbar werden. Um sich diesem Orte zu nähern, muss der Mensch selbst den Willen zu seiner Reifung haben. »Du musst die Eierschalen deines alltäglichen Wesens abstreifen, und das in dir verborgene innere Leben erwecken, so du willst durch die ›enge Pforte‹ in den ›Garten der Reife‹ eintreten.«

Gleich vielen großen Persönlichkeiten sprach Goethe manches aus dem tiefsten Schachte seiner Einsicht nicht in breiter, umständlicher Rede, sondern in kurzen, oft rätselhaften Andeutungen aus. Solch eine Andeutung ist in seinem Spruche enthalten: »In den Werken des Menschen, wie in denen der Natur, sind eigentlich die Absichten vorzüglich der Aufmerksamkeit wert.« In seiner vollen Tiefe wird dieser Satz erkannt, wenn man ihn auf die bedeutungsvollsten Erscheinungen des menschlichen Geisteslebens anwendet. –

Denn so wie wir Sinn und Verständnis für die Handlungen eines einzelnen Menschen erst gewinnen, wenn wir seine Absichten erkennen, so ergeht es uns auch mit der Geschichte des ganzen menschlichen Geschlechtes. Aber welche Kluft besteht zwischen dem Beobachten der Handlungen, die offen zu Tage liegen, und dem Erkennen der Absichten, die im Verborgenen der Seele ruhen! Man kann ein Zwerg an Einsicht und Verstand gegenüber einem andern sein: seine Handlungen wird man beobachten können. Man muss von seiner Geistesart und Seelenhöhe etwas haben, wenn man seine Absichten durchschauen will. Hat man es nicht, so bleibt der Quell seines Handelns ein Geheimnis, ein Rätsel, zu dessen Lösung der Schlüssel fehlt. Nicht anders ist es mit den großen Taten der menschlichen Geistesgeschichte. Diese Taten selbst liegen vor dem Blicke des Geschichtsbetrachters offen zu Tage: die Absichten ruhen in geheimnisvollen Tiefen. Zu diesen Tiefen muss dringen, wer den Schlüssel zum Verständnisse haben will. –

Nun wird aber die Absicht einer Handlung um so tiefer liegen, je bedeutungsvoller, je umfassender die Handlung ist. Die Absicht für eine Handlung des alltäglichen Lebens ist nicht schwer zu durchschauen. –

Nicht so kann es natürlich sein bei Handlungen, deren Horizont Jahrhunderte umfasst.

Wer solches bedenkt, der erhält eine Ahnung von dem, was Mysterien sind. Denn in diesen Mysterien ruht nichts anderes, als die Absichten zu den großen, weltumspannenden Taten der Menschheitsentwickelung. Und diejenigen, welche diese Absichten erkennen, und damit selbst ihren Handlungen das Schwergewicht zum Wirken in Jahrhunderte hinein geben können: das sind die Eingeweihten.

Wer in der Weltgeschichte nur eine Sammlung von Zufällen sieht, der kann das Dasein von Mysterien und Eingeweihten leugnen. Ihm ist so lange nicht zu helfen, bis er mit liebevollem Blick auf die Tatsachen der Geschichte eingeht. Dann leuchtet ihm allmählich Sinn und Zusammenhang auf; und er sieht diese geschichtlichen Tatsachen ebensowenig für absichtslos an, wie er einen handelnden Menschen für einen Automaten ansieht. Er gelangt dann in seiner Forschung dahin, wo die Eingeweihten den Fortgang der Menschheit leiten nach den Erkenntnissen, die in das Dunkel der Mysterien gehüllt sind.

Von solchen Mysterien sprechen die Religionsurkunden aller Zeiten. Und auf sie werden diejenigen geführt, welche nicht bei dem äußeren Leben der Religionsstifter und bei den geschichtlichen Tatsachen der Verbreitung ihrer Lehren stehen bleiben; sondern sich zu erheben versuchen zu den Absichten dieser Stifter. –

Es sollte nicht Verwunderung erregen, dass diese Absichten in geheimnisvolles Dunkel gehüllt sind, dass sie nur Auserwählten mitgeteilt worden sind, innerhalb der Weisheitsschulen, die eben die Mysterien sind. Denn es hat nur einen Sinn, dasjenige dem Menschen mitzuteilen, was er verstehen kann; oder, mit anderen Worten, es ihm erst dann mitzuteilen, wenn er sich die Bedingungen des Verständnisses angeeignet hat. Um bedeutungsvolle Taten zu vollbringen, muss man hohe Weisheit besitzen; und um hohe Weisheit sich anzueignen, muss man eine lange und schwierige Vorbereitungszeit durchmachen. So ist es mit den Mysterien.

Durch die verschiedenen Religionen und Weltanschauungen schreitet die geistige Entwickelung der Menschheit vorwärts. Wer an dieser Entwickelung mitarbeitet, bringt die geistigen Kräfte der Menschen in Bewegung. Er muss die Gesetze kennen, von denen diese Bewegung abhängt, wie derjenige die Gesetze der Chemie kennen muss, der Stoffe zweckvoll vermengen soll. –

In den Mysterien werden die hohen Gesetze des geistigen Lebens, wird die seelische Chemie gelehrt. –

Man muss Blicke in das Wesen dieser Gesetze zu tun versuchen, wenn man die Beweggründe, auch nur ahnend, erkennen will, die den Taten der großen Menschheitslehrer zum Grunde liegen.

Im Einklang mit allen, die für solche Blicke ihr geistiges Auge zu öffnen suchten, spricht Annie Besant, die Seele der theosophischen Bewegung, von einer »verborgenen Seite der Religionen« in ihrem Buche »Esoterisches Christentum, oder die kleineren Mysterien«.

Lichtvoll leitet sie in die Auseinandersetzung über die mystischen Geheimnisse des Christentums – über dessen sogenannten esoterischen Gehalt – durch die Frage hinein: »Was ist der Zweck der Religionen?« Und sie sagt darüber: »Sie werden der Welt gegeben von Menschen, die weiser sind als die Massen des Volkes, dem sie zuteil werden, und sie haben den Zweck, die menschliche Entwickelung zu beschleunigen. Um dies in wirksamer Weise zu tun, müssen sie die Individuen erreichen und sie beeinflussen. Nun stehen nicht alle Menschen auf derselben Entwickelungsstufe, sondern man könnte die Entwicklung darstellen als eine schräge Fläche, auf deren sämtlichen Punkten Menschen stehen. Die höchst Entwickelten stehen sowohl an Intelligenz wie an Charakter weit über den wenigst Entwickelten; die Fähigkeit zu verstehen sowohl wie die, zu handeln, ändert sich auf jeder Stufe. Deshalb ist es nutzlos, allen dieselbe Lehre zu geben; das was dem intellektuellen Menschen hilft, würde dem weniger intelligenten ganz und gar unverständlich sein, während das, was den Heiligen in Verzückung versetzt, den Verbrecher ganz unberührt lassen würde. ... Die Religion muss ebenso abgestuft sein wie die Entwickelung, sonst verfehlt sie ihren Zweck.« –

Wie also der Lehrer der Religion zu den Menschen verschiedener Entwickelungsstufen spricht, das macht er von den Geistes- und Herzensbedürfnissen derer abhängig, zu denen er sprechen soll. Um das zu können, muss er den Kern der Weisheit, durch die er wirken soll, selbst in seiner Seele tragen; und die Art, wie er diesen Kern trägt, muss eine solche sein, dass sie ihn befähigt, zu jeglichem Menschen in dessen Auffassungsweise zu sprechen. Wer die Reden der Religionslehrer nach ihrer Außenseite betrachtet, erkennt deshalb nur die eine, eben die äußere Seite ihrer Weisheit.

Eindringlich weist auf diese Tatsache hin Edouard Schuré in seinem Buche über die »Großen Eingeweihten«. Er gibt darin eine Darstellung der großen Weisheitslehrer: Rama, Krishna, Hermes, Moses, Orpheus, Pythagoras, Plato und Jesus in der Weise eines intuitiven Forschers, eines edlen Gedankenkünstlers und einer von tiefem religiösen Empfinden getragenen Persönlichkeit.

Seinen Gesichtspunkt umschreibt er in der Einleitung: »Alle großen Religionen haben eine äußere und eine innere Geschichte; die eine offenbar, die andere verborgen. Durch die äußere Geschichte erschließen sich mir die Dogmen und Mythen, wie sie öffentlich in Tempeln und Schulen verkündet werden, wie sie in den Kulten und in dem volkstümlichen Aberglauben zur Darstellung kommen. Durch die innere Geschichte erschließen sich mir die tiefe Wissenschaft, die geheimnisvolle Weisheit und die verborgenen Gesetze der Taten der großen Eingeweihten, Propheten und Reformatoren, welche diese Religionen geschaffen, gestützt und verbreitet haben.

Die erste, die äußere Geschichte kann man überall kennen lernen; sie ist nicht wenig dunkel, widerspruchsvoll und verworren. Die zweite, die ich die esoterische Geschichte, oder die Weisheit der Mysterien nennen möchte, ist sehr schwer aus der ersten herauszuentwickeln. Denn sie ruht in den Tiefen der Tempel, in den geheimen Gesellschaften, und ihre erschütterndsten Dramen entrollen sich ausschließlich in den Seelen der großen Propheten, die weder Urkunden noch Schülern ihre erhabensten Erlebnisse und ihre sie zum Göttlichen hebenden Vorstellungen vertraut haben. Man muss ihre Rätsel lösen. Aber, was man dann findet, erscheint lichtvoll, organisch, in Harmonie mit sich selbst. Man könnte es auch die ewige und universelle Religion nennen. Es stellt sich als das Innere der Dinge dar, als die Innenseite des Menschheitsbewusstseins im Gegensatz zur bloß geschichtlichen Außenseite. Da ergreifen wir den schöpferischen Keimpunkt von Religion und Philosophie, die am anderen Ende der Ellipse in der ungeteilten Wissenschaft zusammentreffen. Es ist der Punkt, der den übersinnlichen Wahrheiten entspricht. Da finden wir die Ursache, den Ursprung und das Ziel der wunderbaren Arbeit der Jahrhunderte, die Weltenlenkung in ihren irdischen Sendboten.«

Diese »irdischen Sendboten« arbeiten in der geistigen Apotheke, im geistigen Laboratorium der Menschheit. Was sie zu solcher Arbeit befähigt, sind die unvergänglichen Gesetze der geistigen Chemie, und was sie als geistig-chemische Prozesse vollbringen: das sind die großen intellektuellen und moralischen Taten der Weltgeschichte. Was aber aus ihrem Munde strömt, das sind nur Gleichnisse, nur Bilder der höheren in ihren Seelentiefen wohnenden Weisheit, angepasst dem Verständnisse derjenigen, die ihnen das Ohr leihen. Nur denen, welche die Bedingungen erfüllen, die das Verständnis und den rechten Gebrauch der höheren Weisheit verbürgen, kann diese eröffnet werden. Diese aber empfinden dann in der Mysterien-Einweihung die unmittelbare Berührung mit den geistigen Urgründen, mit den Vater- und Muttermächten des Daseins.

Man höre, was einer sagt, der von solchen Empfindungen durchdrungen war. Klemens von Alexandrien, der christliche Schriftsteller des zweiten und dritten Jahrhunderts unserer Zeitrechnung, der vor seiner Taufe Myste, das ist Mysterienschüler war, preist diese Mysterien mit den Worten: »O der wahrhaft heiligen Mysterien! o des lauteren Lichtes! Eine Fackel wird mir vorangetragen, wenn ich den Himmel und Gott anschaue; ich werde heilig, wenn ich die Weihe empfange. Die Geheimnisse aber erschließt mir der Urgeist und besiegelt den Eingeweihten durch die Erleuchtung; eingeweiht in den Glauben, stellt er mich dem All-Einen vor, damit ich im Schoße der Ewigkeit aufbewahrt werde. Das sind die Weihezeremonien meiner Mysterien! Willst du, so lass auch du dich einweihen, und du wirst mit den Geisteskräften des Daseins den Reigen schließen um den ungeschaffenen, unvergänglichen, all-einen Weltengeist herum, und die Sprache, die dir vom Kosmos inspiriert ist, wird diesem All-Einen die Loblieder anstimmen.«

Man begreift Annie Besants Schilderung der Mysterien, wenn man bedenkt, dass die Eingeweihten so von ihnen sprechen mussten, wie dies Klemens in obigen Worten tut. »Die Mysterien Ägyptens« – so führt A. Besant auf Seite 15 des »Esoterischen Christentums« aus – »waren der Ruhm jenes alten Landes, und die edelsten Söhne Griechenlands, wie zum Beispiel Plato, gingen nach Sais und Theben, um von den ägyptischen Weisheitslehrern in die Mysterien eingeweiht zu werden. Die mithräischen Mysterien der Perser, die orphischen und die bakchischen Mysterien und die späteren eleusinischen Halb-Mysterien der Griechen, die Mysterien von Samothrake, Skythien, Chaldäa, sind, wenigstens dem Namen nach, allgemein bekannt. Sogar in der äußerst abgeschwächten Form der eleusinischen Mysterien wird ihr Wert von den vornehmsten Männern Griechenlands sehr gepriesen, so von Pindar, Sophokles, Isokrates, Plutarch und Plato.« –

Nicht auf die Erweiterung des Wissens, auf die bloße Erklärung unbekannter Dinge kommt es bei der Mysterienweisheit an: sondern auf die Erhöhung des ganzen menschlichen Wesens, so dass es sich erfüllt mit der Weihestimmung, die zu ergreifen imstande ist die Quellen und Keime des Kosmos. Der Myste erkennt nicht nur höhere Dinge; sondern sein eigenes Wesen verschmilzt mit diesen höheren Dingen. Er muss vorbereitet sein, damit er den Quellen alles Lebens, die in ihn einströmen, den rechten Empfang bereiten kann. –

Gerade in unserer Zeit, in der man als Erkenntnis nur das Grob-Wissenschaftliche anerkennen will, wird es schwer zu glauben, dass es in den höchsten Dingen auf eine Stimmung ankomme. Die Erkenntnis wird dadurch zu einer intimen Angelegenheit der menschlichen Seele gemacht. Für den Mysten ist sie eine solche. Man sage jemand die Lösung aller Welträtsel. Der Myste wird finden, dass sie als leerer Schall an dem Ohre vorbeitönt, wenn die Seele nicht durch Vorbedingungen auf eine höhere Stufe gehoben ist; dass sie das Gefühl unberührt lässt, wenn dieses nicht gestimmt ist, den Empfang der Weisheit als Weihe zu empfinden.

Nur wer das durchschaut, kennt die geistige Atmosphäre, aus der Worte eines Mystikers, wie die Plotins, gesprochen sind: »Oftmals, wenn ich aus dem Schlummer der Körperlichkeit erwache, zu mir komme, von der Außenwelt abgewendet in mich einkehre, so schaue ich eine wundersame Schönheit; dann bin ich gewiss, meines besseren Teils inne geworden zu sein. Ich betätige das wahre Leben, bin mit dem Göttlichen geeint, und in ihm gegründet gewinne ich die Kraft, mich noch über die Überwelt hinaus zu versetzen. Wenn ich dann nach diesem Ruhen in dem Geistigen der Welt, aus dem Schauen des Höchsten wieder zur gewöhnlichen Gedankenbildung herabsteige, dann frage ich mich, wie es zuging, dass meine Seele sich mit dem Alltäglichen verstrickt habe, da doch dort ihre Heimat ist, wo ich eben verweilt habe.« –

Wer weiß, welcher Grad von Reinigung des Gefühls- und Verstandeslebens nötig ist, um so zu empfinden, der kennt auch die Gründe, warum das mystische, das Weihe-Wissen kein Gegenstand des Alltagslebens, auch keiner der gewöhnlichen Unterweisung und der Urkunden der äußeren Geschichte sein kann; warum es in der Seele der göttlichen Sendboten verschlossen ist und nur – wie Schuré sagt – der Gegenstand der Einweihung in intimen Brüderschaften sein muss. –

Bleibt aber auch dies unmittelbare Ergreifen der Wahrheit eine Sache intimster Unterweisung: die Segnungen der Weisheit werden allen Menschen zuteil. Gleich wie die Früchte des elektrischen Eisenbahnbetriebes der ganzen Bevölkerung zugute kommen, die Gesetze der Einrichtung dieses Betriebes aber nur den Elektrikern bekannt sind, so ist es auch mit der Wirkung, den Früchten und mit der Weisheit der Mysterien. Und wie das Segenvolle der technischen Kenntnisse in äußeren Kultureinrichtungen, so stellt sich das der Mystenweisheit in den geistigen Lebensinhalten der Menschheit dar: in ihren Mythen, Glaubens- und Religionsvorstellungen, in ihrer Sagen- und Märchenwelt, aber auch in ihren Moral- und Rechtsvorstellungen, und zuletzt auch in ihrem künstlerischen Schaffen, in ihren Wissenschaften und Philosophien. –

Der Myste weist auf die Wurzel dieser Lebensinhalte in dem tiefsten Wissen der Menschheit, und er ist sich klar darüber, dass sie alle dort erst ihre wahre Erklärung finden können. Klemens von Alexandrien spricht davon, dass »ein Mensch Glauben haben kann, ohne Gelehrsamkeit zu besitzen«, aber zugleich betont er, dass »unmöglich ein Mensch ohne Wissen die Dinge verstehen könne, die in dem Glauben erklärt werden« (vergleiche Annie Besant: »Esoterisches Christentum«, Seite 59).

Jeder Mystiker kennt dieses wahre Verhältnis zwischen Glauben und Wissen und weiß, dass ein Widerspruch zwischen beiden unmöglich ist. Er kann aber auch Mystik nur auf der Grundlage wahrer Wissenschaft gelten lassen. Auch davon spricht Klemens: »Manche, die sich von der Natur begabt glauben, wollen weder mit der Philosophie noch mit der Logik in Berührung kommen; ja sogar wollen sie nicht einmal Naturwissenschaft studieren. Sie verlangen bloß Glauben ... So nenne ich denn den wirklich gelehrt, der alles in Beziehung zu der Wahrheit bringt, so dass er selbst aus der Geometrie, der Musik, der Grammatik und der Philosophie alles herausliest, was nützlich darin ist... Wie nötig ist es für den, der des Weltgeistes Macht teilhaftig werden will, intellektuelle Dinge auf philosophische Art zu behandeln ... Der Mystiker bedient sich der Zweige des Wissens zu vorbereitenden Hilfsstudien.« (Annie Besant: »Esoterisches Christentum«, Seite 59f.) –

Wer in diesen tiefen Einklang des Glaubens mit dem Wissen einen Blick getan hat, der muss immer wieder auf eine charakteristische Eigenschaft unserer neueren Kultur hinweisen, die eine Kluft zwischen beiden errichtet hat.

Schuré deutet gleich in den ersten Sätzen seines Buches auf diese Kluft. »Das größte Übel unserer Zeit ist, dass in ihr Wissenschaft und Religion wie zwei feindliche und unvereinbare Mächte erscheinen. Es ist ein um so gefährlicheres Übel, als es von den Höhen der Bildung kommt und langsam, aber sicher in alle Geister einsickert, wie ein Gift, das man mit der Luft einatmet. Und jedes intellektuelle Übel wird mit der Länge der Zeit ein Übel der Seele und weiterhin ein soziales. Solange das Christentum imstande war, in naiver Weise den christlichen Glauben, inmitten des noch halbbarbarischen, mittelalterlichen Europa auszubilden, war es die größte moralische Macht: es hat die moderne Seele gestaltet. –

Solange die Experimentalwissenschaft, öffentlich wiederhergestellt im sechzehnten Jahrhundert, für sich die Rechte der Vernunft und der unbeschränkten Freiheit in Anspruch nahm, war sie die größte intellektuelle Macht; sie hat das Antlitz der Welt erneuert, den Menschen aus Jahrhunderte alten Fesseln befreit und seinem Geiste die unzerstörbare Grundlage gegeben. –

Aber seit die Kirche unfähig geworden ist, ihre ursprünglichen Dogmen gegenüber den Ansprüchen der Wissenschaft zu verteidigen, hat sie sich eingeschlossen wie in ein Haus ohne Fenster, sie setzte der Vernunft ihren Glauben wie ein absolutes und nicht diskutierbares Gesetz entgegen; und seit die Wissenschaft berauscht ist von ihren Erfolgen in der physischen Welt, wurde ihr die psychische und intellektuelle immer fremder; sie verschloss sich durch ihre Methoden dem Höheren und wurde in ihren Grundsätzen materialistisch. Seitdem bewegt sich aber auch die Philosophie richtungslos zwischen beiden hin und her: sie hat auf ihre ureigenen Rechte verzichtet, um gegenüber den übersinnlichen Dingen in Zweifelsucht zu verfallen, und Klüfte haben sich geöffnet sowohl in der Seele der menschlichen Gesellschaft wie in derjenigen des Individuums.« (Schuré, »Les Grands Initiés«, Seite VII f.)

Nicht minder stark weist Annie Besant auf diese Eigentümlichkeit der neueren Geistes-Kultur hin. »Jedem, der die letzten vierzig Jahre des vergangenen Jahrhunderts studiert hat, ist es klar, dass eine Menge denkender und moralischer Leute der Kirche den Rücken gekehrt haben, weil die Lehren, die sie erhielten, ihre Intelligenz beleidigten und ihr Gefühl empörten. Vergebens behauptet man, dass der weitverbreitete Agnostizismus dieser Zeit seinen Grund in dem Mangel an Moral, oder in bewusstem Mangel an Logik des Verstandes hätte.

Jeder, der sorgfältig die erwähnten Erscheinungen prüft, wird zugeben, dass Menschen von scharfem Verstände aus dem Christentum hinausgetrieben worden sind.« (»Esoterisches Christentum«, Seite 27.) Die Frage, was in dieser Richtung zu geschehen hat, beantwortet Annie Besant von dem Gesichtspunkte aus, dass auch die Wurzel des Christentums in einer verborgenen Weisheit ruht, und dass der Glaube, um zu bestehen, sich zu dieser Wurzel wieder durchringen muss. Wenn das Christentum »weiter leben soll, so muss es das Wissen, welches es verloren hat, wieder erwerben ...; es muss wieder als ein mit Autorität ausgestatteter Lehrer der geistigen Wahrheiten auftreten, mit jener Autorität, die allein etwas wert ist, mit der Autorität des Wissens ... Dann wird das verborgene Christentum wieder in das Adytum hinabsteigen, hinter den Schleier, der das ›Allerheiligste‹ behütet, in welches nur der Eingeweihte eintreten darf.« (»Esoterisches Christentum«, Seite 29.)

Wie die »großen Eingeweihten« und wie insonderheit das Christentum durch die »enge Pforte« in den »Garten der Reife« führen, stellen Annie Besant und Edouard Schuré in den genannten Büchern dar.

Durch den Sinn des Auges vernimmt der Mensch die Natur in hundertfältigen Licht- und Farbenschattierungen. Es sind die Strahlen des Sonnenlichtes, die, von den Dingen zurückgeworfen, deren Lichtschattierungen bewirken. Ist auf diese Art die Wahrnehmung des Sonnenlichtes eine tägliche Gewohnheit des Auges, so vermag das Auge doch nicht ungestraft in den Quell des Lichtes, in die Sonne selbst zu schauen; es wird durch die unmittelbaren Sonnenstrahlen geblendet. Was in seinen Wirkungen dem alltäglichen Beruf des Auges entspricht: das wird der Anlass eines Schmerzes, wenn es als Ursache selbst den Sinn des Sehens trifft. –

Wer dieses Bild in der richtigen Art auf das Geistesleben des Menschen anzuwenden weiß, der versteht, warum diejenigen, die da »wissen«, von Gefahren der Einweihung in die Mysterien sprechen. Diese Gefahren sind durchaus vorhanden; nur dürfen die Worte dessen, der von ihnen spricht, nicht buchstäblich in dem Sinne verstanden werden, wie man im gewöhnlichen Leben von Gefahren spricht. –

Des Menschen Verstand und Vernunft sind ebensowenig daran gewöhnt, die Quellen der Wahrheit in dem Weltganzen zu schauen, wie das Auge unmittelbar in die Sonne zu sehen vermag. So wie dieses die Wirkungen des Lichtes als das ihm Entsprechende empfindet, so Verstand und Vernunft die Wirkung der ewigen Weisheit in den Erscheinungen der Natur und in dem Verlauf der Menschengeschichte. Und wie das Auge ohnmächtig wird dem Lichtquell gegenüber, so wird menschliches Verständnis den Urquellen der Weisheit gegenüber.

Dieses Verständnis versagt zunächst. Man muss nur dasjenige, was mit dem Menschen da geschieht, in der rechten Art mit der Tatsache vergleichen, dass das Auge von der Sonne geblendet wird. Weil der Mensch daran gewöhnt ist, in Natur und Geistesleben nur den Abglanz der Wahrheit, nicht diese selbst zu schauen, steht er dieser ohnmächtig gegenüber, wenn sie ihm entgegentritt. Gewöhnt, nur die derbe Wirklichkeit zu fassen, die ihn alltäglich umgibt, empfindet er die Offenbarungen höherer Weisheit als Illusion, als Gebilde unwirklicher Phantastik. Sie können ihm nichts sagen. Sie sind ihm Luftgebilde, verschwimmend, wenn er sie ergreifen will. Denn er will sie so ergreifen, wie er gewohnt ist, die Dinge der gewöhnlichen Wirklichkeit zu ergreifen. Diese Wirklichkeit zieht ihn mit tausend Banden an sich. Was sie ihm versprechen kann, das kennt er, das hat er tausendfältig schätzen gelernt. –

Wer hier im rechten Lichte sieht, der versteht, was religiöse Legenden meinen, wenn sie von dem Versucher sprechen, der denen alle Herrlichkeiten dieser Welt verspricht, die den Pfad höherer Erleuchtung betreten wollen. Ist in ihnen nicht die Kraft erweckt, diesem Versucher zu widerstehen: dann verfallen sie ihm unbedingt. Und damit ist etwas angedeutet von dem, was mit den Gefahren der »Schwelle« gemeint ist, die überschritten werden muss, wenn der »Pfad« der Weisheit betreten werden soll. –

Keiner kann auf diesen Pfad gelangen, der sein geistiges Auge, seinen Verstand und seine Vernunft, nur so gebrauchen will, wie sie im Alltagsleben gebraucht werden. Als ein Verwandelter, als einer, dessen Geist-Auge stark gemacht ist, muss der Mensch die Schwelle betreten. –

Und es ist in unserem gegenwärtigen Zeitalter schwer, das Auge also zu stärken. Denn dieses Auge ist gerade durch unsere Wissenschaft nur auf das Handgreifliche eingestellt. Um ihre Eroberungen auf dem Gebiete der äußeren Naturkräfte zu machen, musste diese Wissenschaft das Auge abstumpfen für die geistigen Gewalten des Daseins. Man missverstehe dies nicht dadurch, dass man es als einen Vorwurf deutet.

Wer den Mechanismus einer Uhr verstehen will, braucht gewiss nicht die Gedanken des Erfinders der Uhr zu erforschen: er kann sich an dasjenige halten, was er in der Physik gelernt hat. Er kann die Uhr aus ihrem Mechanismus selbst verstehen. Aber niemand kann verstehen, wie die Kräfte und Dinge, die in der Uhr zusammenwirken, ursprünglich gefügt sind, der nicht den Geist sucht, der sie gefügt hat, und die Gründe erforscht, warum sie gefügt sind. Der Naturforscher vermag die Natur nur richtig zu verstehen, wenn er zunächst die Kräfte ihres Wirkens in ihr selbst sucht. Behauptet er, dass sie sich selbst zusammengefügt haben, so gleicht er dem, der da meinen kann, die Uhr habe sich selbst verfertigt. Aberglaube ist nicht, hinter den Dingen den Geist zu suchen: sondern ihn blindlings in die Dinge selbst zu verlegen. Der Abergläubische gleicht nicht dem, der zur Uhr den Erfinder sucht, sondern dem, der in der Uhr selbst einen Geist vermutet, der die Zeiger vorwärts bewegt. –

Nur wenn man diejenigen so missversteht, die nach dem Geist in dem Weltendasein suchen, kann man sie zusammenwerfen mit denen, die man mit Recht des Aberglaubens beschuldigt, und die man heute mit ebensolchem Rechte als Störenfriede betrachtet, weil sie die Segnungen gefährden, die unsere wissenschaftliche Kultur geschaffen. (Wer unbefangen sieht, wird wissen, wer nach beiden Richtungen hin gemeint ist.)

Wer die »Schwelle« zur höheren Einsicht betritt, muss, wenn ihm der Fortschritt gelingen soll, mit der Kraft ausgestattet sein, die zum Empfinden des Wirklichen da führt, wo der gewöhnliche Verstand und die alltägliche Vernunft Phantastik und Illusion wahrnehmen. –

Denn es ist das Dauernde und Ewige dort, wo dem auf das Vergängliche und Zeitliche eingestellten Auge nur Illusion und Phantastik erscheinen. Nichts kann es daher dem Menschen helfen, wenn er mit seinem gewöhnlichen Verstande vor die Quellen der ewigen Weisheit geführt wird. Deshalb ist in den Mysterien die erste Stufe der Einweihung nicht die Vermittlung neuen Verstandeswissens, sondern völlige Umwandlung der menschlichen Erkenntniskräfte.

Mit feinsinniger Einsicht charakterisiert daher Edouard Schuré in seinem Buche »Die großen Eingeweihten« den Weg der durch die Mysterien zum »Wissen« Strebenden: »Die Einweihung war eine stufenweise Hinführung der menschlichen Wesenheit gegen die schwindelerregenden Gipfel des Geistes hin, von denen das Leben beherrscht wird.« Und weiter wird uns gesagt: »Um die Meisterschaft zu erreichen, sagten die alten Weisen, hat der Mensch eine gänzliche Umgestaltung seiner physischen, moralischen und intellektuellen Wesenheit nötig. Diese Umgestaltung ist nur möglich durch gleichzeitige Übung des Willens, der Intuition und der Vernunft. Durch ihre vollständige Übereinstimmung kann der Mensch seine Fähigkeiten bis zu unberechenbaren Grenzen erweitern. Die Seele hat schlafende Sinne. Die Einweihung erweckt sie. Durch vertieftes Studium, durch konstanten Fleiß kann der Mensch in bewusste Beziehung zu den geheimen Kräften des Universums gelangen. Durch eine erstaunliche Anstrengung kann er bis zur unmittelbaren spirituellen Vollkommenheit gelangen, kann sich die Wege dahin öffnen und sich fähig machen, sich selbst dahin zu richten. Dann allein kann er sagen, dass er das Geschick besiegt hat, und dass er von da aus seine göttliche Freiheit erobert hat. Nur der Eingeweihte kann Einweiher, Prophet und Theurg werden, das heißt sehend und Schöpfer von Seelen. Denn nur wer sich selbst die Wege weist, kann sie andern weisen: der allein kann befreien, der frei ist.« (»Die großen Eingeweihten«, Seite 124.)

So muss man die Aufgabe der Mysterien verstehen, insoferne deren erste Stufe in Betracht kommt. Nicht bloß um eine neue Wissenschaft handelte es sich, sondern um das Schaffen neuer Seelenkräfte. Ein anderer musste der Mensch werden, ein Verwandelter, bevor er in die Geistessonne, zu dem Quell der Weisheit geführt wurde.

Wessen Kräfte nicht gestählt sind, wenn er die »Schwelle« betritt, der empfindet nicht die Wirklichkeit der ewigen, geistigen Gewalten, die ihm da entgegentreten. Statt sich zu verbinden mit einer höheren Welt, fällt er in die niedere zurück. Dieser Gefahr ist ausgesetzt, wer nach den Quellen der Weisheit sucht. Erliegt hier der Mensch, dann hat er den Ewigkeitskeim in sich vorläufig ertötet. Dieser Keim schlummerte vorher in ihm. Aber auch als schlummernder war er dasjenige, was die vergängliche, niedere Natur adelte und verklärte. Naiv, unbewusst lebte der Mensch mit seiner Anlage zur höheren Geistigkeit. Durch den missglückten Einweihungsversuch ist die schlummernde Anlage erstorben. Nichts ist dem Menschen geblieben als der Trieb, in dem Vergänglichen zu leben, dem Reiche dieser Welt allein zu leben. Weil er das Göttlich-Geistige als Illusion empfunden hat, vergöttert er das Sinnlich-Stoffliche. So kann an der »Schwelle« dem Menschen sein Wertvollstes, sein unsterblicher Teil verloren gehen. Dies ist die Gefahr, die analog der Blendung des Auges in obigem Bilde ist.

Es leuchtet ein, dass diejenigen, denen in den Mysterien die Einweihung oblag, aus dem Bewusstsein ihrer Verantwortung heraus, an die Jünger die höchsten Anforderungen stellten. Denn diese Anforderungen mussten zur Stählung der geistigen Kräfte in dem geschilderten Sinne wirken. Schuré schildert die Stufenfolge der Einweihung, wie sie in der Schule des Pythagoras (582-507 v.Chr.) gepflogen war. Von genialischem Künstlersinn und mystischer Tiefe ist diese Schilderung eingegeben. –

Mit Anlehnung an diese Darstellung sei hier von diesen Stufen gesprochen. –

Nur diejenigen wurden zur Einweihung zugelassen, die durch die Beschaffenheit ihres intellektuellen, moralischen und geistigen Wesens die Sicherheit des Erfolges boten. Für diese begann dann die Zeit der Vorbereitung. Sie wurden während mehrerer Jahre Hörer. In unserer Zeit, in der ein jeder sich zum kritischen, prüfenden Urteil berechtigt glaubt, wenn er einiges gelernt hat, oder auch – vielleicht noch mehr – wenn er nichts gelernt hat, ist es gar nicht leicht, einen sympathischen Begriff von dieser langen Hörerschaft zu geben. Diesem Hörer war absolutes Schweigen geboten. Das Schweigen war nicht äußerlich gemeint. Es war ein Schweigen des Urteils. Man musste völlig unbefangen aufnehmen, ohne sich diese Unbefangenheit durch vorzeitige Prüfung zu verlegen. Der Weise wusste, und die Hörer hatten Vertrauen. Prüfen durften sie vorläufig nicht. Denn das Wissen, das sie empfingen, sollte sie ja erst reif zur Prüfung machen. Wie soll jemand wirklich lernen, der sogleich prüfen will, was er lernt. –

Mit dieser Anschauung von schweigendem Lernen haben die Pythagoreer einem Grundsatz gehuldigt, der allein die Stufen der Erkenntnis hinaufführen kann. Wer den Erkenntnis weg gegangen ist, weiß das. Er hat nur Mitleid für diejenigen, die sich durch vorzeitiges Urteilen und Kritisieren den Erkenntnisweg verbauen. Unsere Zeit ist ganz erfüllt von diesem unreifen kritischen Geist. Man braucht sich nur in dem umzuschauen, was von unseren Rednern geredet, was von unseren Schriftstellern geschrieben wird.

Wäre nur ein wenig pythagoreischer Geist in unserer Zeit zu finden, so bliebe wohl viel mehr als neun Zehntel von dem ungesprochen, was gesprochen wird, und ebensoviel von dem ungedruckt, was gedruckt wird. Wer heute ein paar Beobachtungen gemacht, ein paar Begriffe sich gebildet hat, der glaubt sich über die wesentlichsten Dinge zu einem Urteil berechtigt. Aber solches Recht hat nur der, welcher verstanden hat, jahrelang sein Urteil zurückzuhalten, und unbefangen hinzuhören auf das, was die Weisen der Menschheit gesagt haben. Prüfet alles, und das beste behaltet, ist ein trüglicher Grundsatz in der Seele dessen, der nicht reif zur Prüfung ist. Unser Urteil ist so lange nichts, gar nichts vor der Wahrheit, so lange wir es nicht haben von der Wahrheit selbst prüfen lassen. Statt zu sagen: ich prüfe alles, und will das beste behalten, sollten viele sagen: ich will mich von der Wahrheit prüfen lassen; und wenn ich gut genug bin für sie, dann mag sie mich behalten. Wer nicht Jahre hindurch sich geübt hat in der Anschmiegung, im Einleben, in der rückhaltlosen Hingabe an das Urteil der weisen Führer der Menschheit, dessen Urteil ist Schall und Rauch.

Dies ist gewiss ein unsympathischer Grundsatz in unserem Zeitalter der »Aufklärung«, der öffentlichen Kritikasterei und des Journalistengeistes. Aber ihm gemäß lebten die pythagoreischen Hörer.

Hatte der Hörer die notwendige Reife erlangt, so kam für ihn der »goldene Tag«, mit dem die Offenbarungen über das Wesen der Natur und des Menschengeistes begannen. Es wurde ihm die Gesetzmäßigkeit des körperlichen und seelischen Daseins allmählich klar gemacht. Wer mit dem alltäglichen, ungeläuterten Verstande diese Gesetzmäßigkeit erfassen will, begreift nichts von ihr. –

Goethe deutete einmal auf das, worauf es hier ankommt. Als er sich in Italien und Sizilien eifrig dem Studium der Pflanzenwelt hingegeben und seine heute viel besprochenen, aber wenig verstandenen Anschauungen über die »Urpflanze« sich gebildet hatte, schrieb er nach Deutschland, dass er eine Reise nach Indien machen wolle, nicht um Neues zu entdecken, sondern das Entdeckte nach seiner Art anzuschauen.

Es kommt eben nicht darauf an, die Gesetze zu kennen, welche die Verstandes-Botanik zu Tage gefördert hat, sondern darauf, mit Hilfe dieser Gesetze in das innere Wesen des Pflanzenlebens einzudringen. Man kann ein gelehrter Professor der Botanik sein, und nichts von diesem Leben begreifen. Unsere Gelehrten haben da allerdings besonders merkwürdige Auffassungen. Sie glauben entweder, in das Innere der Natur könne man überhaupt nicht dringen; oder sie behaupten, unsere Forschung sei eben noch nicht »so weit«. Sie ahnen nicht, dass sie durch diese Forschung der Sinne und des Verstandes zwar in segensreicher Weise unsere Kenntnisse immer vermehren können, dass aber zur Erforschung des »Inneren« eine ganz andere Denkweise nötig ist, als sie entwickeln. Sie wollen von dem Erfinder der Uhr nichts wissen, indem sie nach den Grundsätzen der Physik die Uhr studieren. Weil sie in der Uhr kein kleines Geistchen finden können, das die Zeiger vorwärts treibt, leugnen sie entweder den Geist, der die Räder gefügt, oder sie behaupten: er sei dem menschlichen Erkennen entweder ganz, oder »bis heute« unzugänglich. Wer von dem Geist in der Natur spricht, wird beschuldigt, bloß mit Worten zu phantasieren. Nun, er kann eben nicht dafür, dass die Anschuldiger bloße Worte hören. Die Pythagoreer-Schüler wurden auf der zweiten Stufe ihres Unterrichtes in den Geist der Natur eingeführt.

Hatten sie diese Stufe überschritten, dann erst konnten sie zur »großen« Einweihung geführt werden. Jetzt waren sie reif, die Geheimnisse des Daseins in sich aufzunehmen. Ihr geistiges Auge war jetzt genügend dazu gestärkt. Sie lernten nunmehr nicht bloß den Geist in der Natur, sondern auch die Absichten dieses Geistes [kennen]. –

Von da ab kann über das Wesen der Mysterien nicht mehr im eigentlichen Sinne, sondern nur noch bildlich gesprochen werden, weil unsere Sprache ganz dem Verstände angepasst ist und gar keine Worte für die höhere Erkenntnisart hat, die hier in Betracht kommt. So bitte ich denn auch das Folgende zu verstehen. –

Vor allen Dingen lernte der Mensch über sein persönliches Leben hinausschauen. Er erfuhr davon, dass dieses sein Leben die Wiederholung früherer Leben auf neuer Daseinsstufe ist. Er konnte sich davon überzeugen, dass dasjenige, was man im rechten Sinne Seele zu nennen berechtigt ist, sich oftmals verkörpert und wiederverkörpert, und dass er die Fähigkeiten, Erlebnisse und Handlungen dieses seines Lebens als Wirkungen von Ursachen aufzufassen hat, die in seinen früheren Leben liegen. Auch wurde ihm klar, dass die Taten und Erlebnisse seines gegenwärtigen Lebens in einem zukünftigen Dasein ihre Wirkungen nach sich ziehen werden. –

Da die Absicht ist, über die großen Gesetze von »Wiederverkörperung« und »Weltgesetzmäßigkeit«, oder »Reinkarnation« und »Karma« in dieser Zeitschrift ausführlich zu sprechen, so sei hier bei diesen Andeutungen stehen geblieben. –

Diese Wahrheiten konnten für den Mysterienschüler so zur Überzeugung werden, wie für den gewöhnlichen Menschen die Wahrheit »zweimal zwei ist vier«, weil er dazu reif war auf der dritten Stufe. Aber man kann auch auf dieser Stufe nur ein völlig sicheres Urteil über diese Erkenntnisse haben, weil man erst auf ihr ihren Sinn richtig zu verstehen in der Lage ist. –

Es wird auch heute wie zu allen Zeiten an diesen Vorstellungen viel herumkritisiert. Was da aber kritisiert wird, sind nur die willkürlichen Gedanken der Kritiker selbst; und die sind ganz ohne Belang. –

Im übrigen soll aber durchaus zugestanden werden, dass viele Anhänger der Wiederverkörperungs-Idee auch keine besseren Vorstellungen von ihr haben, als deren Gegner. –

Es soll hier natürlich nicht behauptet werden, dass heute jeder diese Lehren versteht, der sie verteidigt. Auch unter diesen Verteidigern gibt es viele, die durchaus zu bequem oder zu – selbstbewusst sind, um schweigend zu lernen, bevor sie lehren.

Wenn nun vielleicht auch nicht bei den Pythagoreern, so gab es doch in andern Mysterien nach der »großen« Offenbarungs-Einweihung die Stufe der eigentlichen mystischen Einweihung. Es war diejenige, in der sich nicht allein Anschauung und Denken, sondern das ganze Leben über die unmittelbare menschliche Persönlichkeit hinaus erweiterte. Hier wurde der Jünger nicht nur ein Weiser, sondern ein Seher. Er nahm nun nicht nur das Wesen der Dinge wahr, sondern er erlebte es mit ihnen. Es ist sehr schwierig, eine Vorstellung von dem zu geben, um was es sich da handelt. Der Seher empfindet nicht bloß die Dinge, sondern er empfindet in den Dingen; er denkt nicht über die Natur, sondern er tritt aus sich heraus, und denkt in der Natur. –

Der Theosoph kennt diesen Vorgang und spricht von ihm, indem er ihn das Öffnen der astralen Sinne nennt. –

Der Verstandesmensch geht an den Sehern vorbei; sie müssen ihm Schwärmer, wenn nicht etwas Schlimmeres sein. Wer Sinn für ihre Gaben hat, der hört auf sie mit frommer Scheu, denn er empfindet, dass aus ihnen nicht mehr eine menschliche Persönlichkeit spricht, sondern die lebendige Weisheit selbst. Sie haben ihre persönlichen Neigungen, Sympathien und Meinungen hingeopfert, damit sie ihren Mund leihen konnten dem ewigen Worte, durch das »alle Dinge gemacht sind«. Denn wo noch menschliche Meinung spricht, wo Neigungen und Interessen in Betracht kommen, da schweigt die ewige Weisheit. Und dringt sie an die Ohren derer, die keine Empfindung dafür haben, dann erscheint sie als persönliches Menschenwort, wenn göttliche Kraft auch immer in ihr liegen mag. –

Von den Sehern selbst könnten aber die Menschen hören lernen, denn der Seher ist schweigsam in seiner menschlichen Persönlichkeit, wenn der Wahrheit Stimme zu ihm spricht. Sein Urteil – schweigt, seine Interessen und Neigungen liegen vor ihm, so bedeutungslos für ihn, wie der Tisch, der vor ihm steht, bedeutungslos ist, er ist ganz nur dem inneren Hören hingegeben.

Nur der Seher soll zur folgenden Stufe emporsteigen, welche die Alten die des Theurgen nannten, und die in der deutschen Sprache dadurch angedeutet werden kann, dass man sie als die bezeichnet, auf der eine »vollständige Umkehrung der menschlichen Fähigkeiten« stattfindet, Kräfte, die sonst nur in den Menschen einströmen, die strömen jetzt von ihm aus. Auf gewissen Gebieten, in denen der Mensch bloß Diener ist, wird derjenige Herrscher, dessen Fähigkeiten »gewendet« sind. Und da nur der Seher die Tragweite und Wirkensart solcher Kräfte zu beurteilen in der Lage ist, wird der Mensch diese Kräfte dann missbrauchen, wenn er in ihren Besitz gelangt, ohne die Reinheit des Sehers erlangt zu haben. Und diese »Weisheit ohne Reinheit« ist durch eine gewisse Verkettung von Umständen, die hier nicht zu erörtern sind, möglich. –

In ausgezeichneter Weise spricht Schuré von der höheren Einweihung mit Bezug auf die Pythagoreer: »... Auf dem Gipfel verschwand die Erde wie ein Schatten, gleich einem sterbenden Stern. Von da aus eröffneten sich die himmlischen Aussichten – und es entrollte sich, wie ein wunderbares Ganzes, der ›Gesichtspunkt der Höhe‹, die ›Epiphanie‹ des Universums. Der Zweck der Unterweisung war nicht, den Menschen aufgehen zu lassen in Kontemplation oder Ekstase. Der Lehrer hatte die Jünger in die unberechenbaren Regionen des Kosmos geführt, er hatte sie getaucht in die Abgründe des Unsichtbaren. Von der furchtbaren Reise waren die wahren Eingeweihten auf die Erde besser zurückgekommen, kräftiger und gestählter für die Prüfungen des Lebens ... Auf die Einweihung der Intelligenz war diejenige des Wollens gefolgt, die schwierigste von allen. Denn es handelte sich darum, den Jünger aufzunehmen in die Wahrheit, in die Tiefen des Lebens ... Auf dieser Höhe wurde der Mensch Adept, und besaß eine genügende Energie, um in den Besitz neuer Kräfte und Fähigkeiten zu kommen. Die inneren Kräfte der Seele öffneten sich, und der Wille strahlte in die andern.« –

Zu allem, was der Mensch vor Erreichung dieser Stufe vollbringt, liegen die Ursachen in Regionen, die ihm vollkommen unbekannt sind. Des Theurgen Blick sieht in diese Regionen; und bewusst lässt er von sich ausstrahlen, was in dem Menschen gewöhnlich in den tiefsten Schachten der Seele unbewusst schlummert. Er steht Auge in Auge gegenüber dem Führer, der ihn vorher unsichtbar »von hinten« geleitet hat. Mit solchen Gedanken gerüstet, soll man Sätze lesen, wie den folgenden aus dem alten Weisheitsbuch »Mundakopanishat«: »Wenn der Seher den goldfarbenen Schöpfer sieht, den Herrn, den Geist, dessen Schoß Brahman ist, dann, nachdem er Verdienst und Mangel an Verdienst weggeworfen hat, fleckenlos, erreicht der Weise die höchste Vereinigung.«

Auf die Gipfel, die also erreicht werden, richtet Schuré das Auge; und der mystische Glaube an die leuchtende Kraft dieser Gipfel gibt ihm die Fähigkeit, einige der Nebelwolken zu durchschauen, die das wahre Wesen der großen Führer der Menschheit verhüllen. Das befähigt ihn, sie zu schildern, die großen Eingeweihten: Rama, Krishna, Hermes, Moses, Orpheus, Pythagoras, Platon und Jesus. Stufenweise sind durch diese Führer die Kräfte in die Menschheit eingestrahlt worden, je nach der Reife, die in den Zeiten das Menschengeschlecht erlangt hatte. Rama führte zu dem Tore der Weisheit, Krishna und Hermes gaben einigen den Schlüssel in die Hand, Moses, Orpheus und Pythagoras zeigten das Innere, und Jesus, der Christus, stellte das Heiligtum dar. –

Es hieße den ganz eigenen Zauber des Schureschen Buches beeinträchtigen, wollte man die Ausführungen nacherzählen, in die, so wie sie sind, ein jeder selbst sich vertiefen sollte.

Schuré deutet daraufhin, wie durch den Stifter des Christentums in der Form, dass es die Ohren der Menschheit hören konnten, die Weisheitskräfte der Mysterien in die geistigen Adern der Menschheit gegossen worden sind. –

Und auf den Wegen, die Schuré darstellt, ist auch auf diesem Gebiete die Wahrheit zu suchen. –

Die Kraft, die von Jesu Persönlichkeit ausstrahlt, ist lebendige Kraft in den Herzen aller derer, die sie in sich strömen lassen. Verstehen kann das lebendige Wort, das in dieser Kraft wirkt, nur, wer sich durch das Verständnis der Mysterienweisheit den Schlüssel zu diesem Worte holt. Und dazu gibt, soweit möglich, Annie Besants »Esoterisches Christentum« die Grundlage. Es ist ein Buch, durch das der verborgene Sinn der Bibelworte sich für den hingebungsvollen Leser enthüllt.

In unserer Zeit sind solche Schlüsselbücher notwendig. Die Menschheit war in einem anderen Zustand als dem gegenwärtigen, als sie das Evangelium, die »frohe Botschaft« erhielt. Heute hat der Verstand eine ganz andere Schulung als vor neunzehn Jahrhunderten. Heute kann der Mensch die lebendige Kraft des »offenbaren Wortes« nur erleben, wenn er mit seiner Urteilsfähigkeit diese Kraft erfassen kann. Aber was wahr ist, bleibt ewig wahr; auch wenn die Art, wie es der Mensch erfassen muss, sich im Laufe der Zeiten ändert. Dass heute der Verstand, die Urteilsfähigkeit ihre Rechte geltend machen, ist eine Notwendigkeit; der Kenner der Menschheitsentwickelung weiß, dass das so sein muss. Deshalb gibt er heute dem Verstande, was vor Jahrhunderten anderen Seelenkräften gegeben worden ist. –

Aus dieser, und aus keiner anderen Erkenntnis heraus sollte der wahrhafte Theosoph wirken. Annie Besants »Esoterisches Christentum« will so aufgefasst werden.

Der Theosoph weiß, dass im Christentum die Wahrheit ist. Und er weiß auch, dass Jesus, in dem der Christus verkörpert war, kein Führer der Toten ist, sondern ein Führer der Lebendigen. Er versteht das große Meisterwort: Ich bin bei euch alle Tage bis ans Ende. An den lebendigen Führer, nicht an den der geschichtlichen Berichte wendet sich zuerst, wer so wie Annie Besant das Christentum erklären will. Was das »lebendige Wort« noch heute dem Ohre verkündet, das lauschen will: das strahlt dann ein in die Evangelienberichte.

Jawohl, er ist dageblieben bis heute, der Kündiger des Wortes, und er kann uns selbst sagen, wie wir den Buchstaben zu erfassen haben, der von seinen Taten und Reden berichtet. Esoterisch sollen die »frohen Botschaften« erfasst werden, das heißt, erst muss in unserem Innern die lebendige Kraft erwacht sein, die ihnen den Stempel des »Heiligen« aufdrückt. Und weil der Verstand, die Urteilskraft die großen Mittel der gegenwärtigen Kultur sind, müssen sie befreit werden aus den Banden der bloß sinnlichen Erfassung, des rein handgreiflichen Verstehens der Wirklichkeit. Der Verstand der Gegenwartsmenschheit muss selbst eintauchen in das Meer, das ihn mit wahrer Frömmigkeit erfüllt. Denn es ist nicht richtig, dass der kluge Verstand nur die »Illusionen« zerstört, die der religiöse Sinn um die Dinge gewoben hat. Das vollbringt nur derjenige Verstand, der geblendet ist und festgebannt von den Erfolgen, die er in der Erkenntnis und Beherrschung der rein materiellen Naturkräfte erlangt hat. –

Die Menschen der Gegenwart, und mit ihnen unsere Physiker, Biologen, Kulturgeschichtsschreiber glauben sich frei in ihrer rein auf das Tatsächliche gerichteten Verstandeswelt. In Wahrheit leben sie unter einer allbeherrschenden Suggestion. Frei bis zu einem gewissen Grade könntet ihr werden, ihr Physiker, Biologen und Kulturgeschichtsforscher der Gegenwart, wenn ihr erkennen wolltet, dass eure Vorstellungen von Wirklichkeit, ja von Stoffen und Kräften der Welt, von Menschengeschichte und Kulturentwickelung nichts sind als Massen-Suggestionen. Einst wird die Binde von eueren Augen fallen, und dann werdet ihr erst erfahren, inwiefern Wahrheit und nicht Irrtum ist, was ihr über Elektrizität und Licht, über die Entwicklung der Tiere und des Menschen denkt. Denn, wohlgemerkt, auch die Theosophen sehen eure Behauptungen nicht als Irrtum, sondern als Wahrheit an. Denn auch eure Naturanschauung ist ihnen ein religiöses Bekenntnis, und wenn sie sagen: sie wollen den Wahrheitskern in allen Bekenntnissen suchen, so tun sie das nicht allein in bezug auf Buddha, Moses und Christus, sondern auch in bezug auf Lamarck, Darwin und Haeckel. –

Und Schriften wie die genannten von Edouard Schuré und Annie Besant sind berufen, von eueren Augen die Binden zu nehmen; sie sollen euch euere Suggestionen durchschauen lehren. Insofern kommt es bei solchen Büchern gar nicht allein auf das an, was in ihnen wörtlich steht, sondern auf die verborgenen Kräfte, welche den Verfassern die Federn führten, und die sich in die Adern der Leser ergießen, so dass diese von einer neuen Wahrheits-Gesinnung durchrieselt werden. Leser, die von solchen Büchern die rechte Wirkung erfahren, werden verstandesgemäß in gewisser Beziehung eingeweiht. –

Wer hinter diesem Satze nicht die Behauptung eines Wunders wittert, und wer imstande ist, etwas anderes als eine Phrase in ihm zu sehen, der wird auch verstehen, wenn ihm diese Bücher nicht bloß mit dem Ansinnen zur gewöhnlichen Lektüre, sondern mit dem ganz anderen vorgelegt werden, dass sie durch Kräfte, mit denen sie geschrieben sind, in ihm schlummernde Kräfte erwecken sollen, wenn auch diese Kräfte zunächst nur die der Verstandesseele sein können. Aber für unsere Zeit gibt es keine echte Einweihung, die nicht durch den Verstand hindurchginge. –

Wer heute mit Umgehung des Verstandes zu den »höheren Geheimnissen« führen will, weiß nichts von den »Zeichen der Zeit«; und er kann nur neue Suggestionen an die Stelle der alten setzen.

Meditation

Wer den Weltengeist leugnet, weiß nicht, dass er sich selbst leugnet. – Ein solcher aber begeht nicht bloß einen Irrtum, sondern er versäumt seine erste Pflicht: selbst aus dem Geist heraus zu wirken.

Quelle: GA 34, S. 34-65