Die Geisteswissenschaft als Anthroposophie und die zeitgenössische Erkenntnistheorie. Persönlich-Unpersönliches | 1917

Rudolf Steiner. Zuerst erschienen in »Das Reich«, hrsg. v. A. v. Bernus, München, 2. Jahr, Buch 2, Juli 1917; ferner in »Anthroposophie. Zeitschrift für freies Geistesleben«, 17. Jahrgang Buch 2, März 1935; erste selbständige Ausgabe Dornach 1950. GA 35.

Als 1894 meine »Philosophie der Freiheit« gedruckt war, übergab ich das Buch persönlich Eduard von Hartmann. Mir lag damals viel an einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit diesem Manne über die grundlegenden Anschauungen, auf denen der Ideenbau meines Buches ruhte.

Meine diesbezüglichen Erwartungen schienen berechtigt, da Eduard von Hartmann meinem literarischen Wirken vom Anfang an in wahrhaft freundlicher Art entgegengekommen war. Jedesmal, wenn ich ihm meine vor der »Philosophie der Freiheit« veröffentlichten Schriften übersandt hatte, erfreute er mich mit oft ausführlicher brieflicher Beantwortung der Zusendung. Im Jahre 1889 durfte ich mit ihm ein langes Gespräch führen, welches die damals die philosophische Welt bewegenden erkenntnistheoretischen Fragen zum Inhalt hatte. Und besonders deshalb erwartete ich vieles von einer Auseinandersetzung über mein Buch, weil ich einerseits warmer Verehrer des Idealismus seiner Philosophie, aufmerksamer Betrachter seiner Behandlung wichtiger Lebensfragen, andrerseits sein entschiedener Gegner war in allem Wesentlichen der erkenntnistheoretischen Grundlegung einer Weltanschauung. In völligem Einklang wusste ich mich allerdings mit ihm in einem wichtigen Punkte der philosophischen Ethik; nur trennte ich für mich diesen Punkt – das selbstlose Hingeben der Menschenseele an den geschichtlichen Werdeprozess der Menschheit als ethisches Motiv – von dem mir haltlos scheinenden Pessimismus Hartmanns.

Es konnte mich selbstverständlich nicht der naive Glaube befallen, den Schöpfer der »Philosophie des Unbewussten« in grundlegenden Anschauungen zu meinen Gesichtspunkten zu bekehren. Aber Eduard von Hartmann war stets geneigt, in wirklich liebevoller Art auf Anschauungen einzugehen, die den seinigen entgegengesetzt waren; und sein Eingehen führte zu denjenigen fruchtbaren Auseinandersetzungen, die auf dem Gebiete des Weltanschauungsstrebens wünschenswert sind. Außerdem lag mir auch schon damals nichts ferner, als die Schätzung des Wertes einer Persönlichkeit davon abhängig zu machen, inwieweit ich Gegner oder Bekenner von deren Ideen sein konnte. Die Schätzung, die ich Eduard von Hartmann entgegenbrachte, hatte zur Folge, dass ich ihn 1891 bat, die Widmung meiner kleinen Schrift: »Wahrheit und Wissenschaft. Vorspiel einer Philosophie der Freiheit« anzunehmen. Er erklärte sich dazu bereit. Und so konnte ich denn auf die zweite Seite dieser Schrift in voller Aufrichtigkeit die Worte drucken lassen: »Dr. Eduard von Hartmann in warmer Verehrung zugeeignet von dem Verfasser.« Dies geschah, trotzdem Eduard von Hartmann den Inhalt der Schrift vom Gesichtspunkte seiner Weltanschauung restlos ablehnen musste.

Mit meinen Erwartungen bezüglich einer Auseinandersetzung über die »Philosophie der Freiheit« hatte ich mich nicht getäuscht. Denn Eduard von Hartmann beehrte mich wenige Wochen nach der Überreichung des Buches nicht nur mit einem freundlichen Schreiben, sondern er sandte mir auch das ihm übergebene Exemplar des Buches mit seinen zum Teile sehr ins einzelne gehenden Bemerkungen und Einwendungen, die er fast Seite für Seite in das Buch eingetragen hatte. Am Schlusse hatte er den Gesamteindruck in zusammenfassenden Sätzen verzeichnet. Er hatte sein Urteil so scharf gestaltet, dass mir in seinen Worten das Schicksal vor die Seele treten konnte, das meine Weltanschauung innerhalb des zeitgenössischen Denkens finden musste. Indem ich in einer Besprechung dieses Urteils die vorliegenden Ausführungen werde ausklingen lassen, wird es mir möglich sein, zu zeigen, wie ich vom Anfang meiner schriftstellerischen Laufbahn an die erkenntnistheoretische Grundlegung für dasjenige erstrebte, was ich später in einer Reihe von Schriften als »Geisteswissenschaft« oder Anthroposophie darzustellen versuchte und an dessen Ausbau ich bis heute arbeite.

In den achtziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts, in denen meine schriftstellerische Betätigung begann, sah man sich einer Weltanschauungsströmung gegenübergestellt, die im Grunde jeden Zugang des menschlichen Erkennens zu einer Welt der wahrhaftigen Wirklichkeit verbaut hatte. Mir schien vor allem andern nötig, in Weltanschauungsfragen nach einer wissenschaftlich gesicherten erkenntnistheoretischen Grundlage zu streben.

Welchen Meinungen man damals auf diesem Gebiete begegnete, könnte aus einer Unzahl damaliger Schriften gekennzeichnet werden. Es soll hier diejenige des Dichters und Philosophen Robert Hamerling angeführt werden. Dies wieder aus dem Grunde, weil ich mich in den erkenntnistheoretischen Grundfragen in vollstem Gegensatze zu dieser von mir hoch verehrten und geschätzten Persönlichkeit befand.

Robert Hamerling schrieb damals seine bedeutungsvolle »Atomistik des Willens«. Sogleich am Anfange dieses Buches begegnet man dem folgenden Gedanken: »Gewisse Reizungen erzeugen den Geruch in unserm Riechorgan ... Die Rose duftet also nicht, wenn sie niemand riecht. – Gewisse Luftschwingungen erzeugen in unserm Ohr den Klang. Der Klang existiert also nicht ohne ein Ohr. Der Flintenschuss würde also nicht knallen, wenn ihn niemand hörte ... Wer dies festhält, wird begreifen, welch ein naiver Irrtum es ist zu glauben, dass neben der von uns ›Pferd‹ genannten Anschauung oder Vorstellung noch ein anderes, und zwar erst das rechte, wirkliche ›Pferd‹ existiere, von welchem unsere Anschauung eine Art von Abbild ist. Außer mir ist – wiederholt sei es gesagt nur die Summe jener Bedingungen, welche bewirken, dass sich in meinen Sinnen eine Anschauung erzeugt, die ich ›Pferd‹ nenne.«

Hamerling fügt zu diesen Sätzen hinzu: »Leuchtet dir, lieber Leser, das nicht ein und bäumt dein ›Verstand‹ sich vor dieser Tatsache wie ein scheues Pferd, so lies keine Zeile weiter; lass dies und alle anderen Bücher, die von philosophischen und naturwissenschaftlichen Dingen handeln, ungelesen; denn es fehlt dir die hierzu nötige Fähigkeit, eine Tatsache unbefangen aufzufassen und in Gedanken festzuhalten.«

Die Gedanken, die Hamerling ausspricht, gehörten so zu den Denkgewohnheiten der Erkenntnistheoretiker in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts, dass von ihnen schon 1879 Gustav Theodor Fechner in seinem Buche »Die Tagesansicht gegenüber der Nachtansicht« schrieb: »Sind es doch die Gedanken der ganzen denkenden Welt um mich. Wie sehr und um was sie zanken mag, dann reichen sich Philosophen und Physiker, Materialisten und Idealisten, Darwinianer und Antidarwinianer, Orthodoxe und Rationalisten die Hände. Es ist nicht ein Baustein, sondern ein Grundstein der heutigen Weltansicht. ... Was wir der Welt um uns abzusehen, abzuhören meinen, es ist alles nur unser innerer Schein, eine Illusion, die man sich loben kann, wie ich's noch jüngst gelesen; bleibt aber eine Illusion. Licht und Ton in der äußern, von mechanischen Gesetzen und Kräften beherrschten, zum Bewusstsein noch nicht durchgedrungenen Welt über die organischen Geschöpfe hinaus sind nur blinde, stumme Wellenzüge, die von mehr oder weniger erschütterten materiellen Punkten aus den Äther und die Luft durchkreuzen, und erst, wenn sie an den Eiweißknäuel unseres Gehirns, ja wohl gar erst, wenn sie an einen bestimmten Punkt desselben antreffen, sich durch den spiritistischen Zauber dieses Medium in leuchtende, tönende Schwingungen umsetzen. Über Grund, Wesen, nähere Bestimmungen dieses Zaubers streitet man; über die Tatsache ist man einig; und von allen Denk- und Erkenntnistheorien, in denen die Philosophie sich eben jetzt erschöpfen und leeren will, als wollte sie noch eine Philosophie gebären, führt keine zu einem Zweifel an der Richtigkeit dieser Tatsache, es sei denn, um den Zweifel für unlösbar zu erklären oder die Welt in Stäubchen zu zertrümmern, die nur sich selber, aber nicht die Welt erleuchten.«

Wer sein Denken solchen Betrachtungen ferne gehalten hat, dem können sie als wertloses Vorstellungsgespinst erscheinen. In den Einzelwissenschaften und in der mehr dem unmittelbaren Leben zugewandten Betätigung tauchen sie nicht in einer Art auf, dass man mit ihnen rechnen müsste. Wer aber in Weltanschauungsfragen mitsprechen will, der muss sich mit ihnen auseinandersetzen. Man findet im zweiten Bande meines Buches »Die Rätsel der Philosophie« – in dem Abschnitte: »Die Welt als Illusion« – eine ausführliche Darstellung der wesentlichsten Formen, in denen sich diese Betrachtungen in der neuesten Zeit auslebten.

Fruchtlos wäre es vor dreißig Jahren gewesen, sich mit einer Weltanschauung in die Gedankenrichtung der Zeit hineinzustellen, ohne Stellung zu diesen Betrachtungen zu nehmen. Denn auf ihrem Boden wurden die Urteile darüber erzeugt, ob eine Weltanschauung einen berechtigten Ausgangspunkt habe oder nicht. Gideon Spicker, von dem es ein anregendes Werk über »Lessings Weltanschauung« gibt, der dann die beiden bedeutungsvolle Bändchen »Vom Kloster ins akademische Lehramt« und »Am Wendepunkt der christlichen Weltperiode« veröffentlicht hat, schrieb mir zwar 1886, nach dem Erscheinen meiner »Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung«, es wäre nötig, dass man endlich aufhöre, fortwährend über die Frage nachzusinnen, wie und innerhalb welcher Grenzen der Mensch erkennen könne. Man solle lieber darangehen, einmal wirklich etwas zu erkennen. Allein die Beobachtung der Zeitverhältnisse auf diesem Gebiet ließ es aussichtslos erscheinen, mit einer Weltanschauung aufzutreten, die nicht ihre sichere erkenntnistheoretische Grundlegung voranschickt.

Die verschiedensten Gestaltungen des Schopenhauerschen Satzes: die Welt ist meine Vorstellung, boten sich damals in allen möglichen Abänderungen dar. Volkelt, der feinsinnige Zergliederer Kants, der umsichtige Verfasser des erkenntnistheoretischen Buches: »Erfahrung und Denken«, schrieb in der damaligen Zeit: »Der erste Fundamentalsatz, den sich der Philosoph zum deutlichen Bewusstsein zu bringen hat, besteht in der Erkenntnis, dass unser Wissen sich zunächst auf nichts weiter als auf unsere Vorstellungen erstreckt. Unsere Vorstellungen sind das Einzige, das wir unmittelbar erfahren, unmittelbar erleben; und eben weil wir sie unmittelbar erfahren, deshalb vermag uns auch der radikalste Zweifel das Wissen von denselben nicht zu entreißen. Dagegen ist das Wissen, das über unser Vorstellen – ich nehme diesen Ausdruck hier überall im weitesten Sinne, so dass alles psychische Geschehen darunter fällt – hinausgeht, vor dem Zweifel nicht geschützt. Daher muss zu Beginn des Philosophierens alles über die Vorstellungen hinausgehende Wissen ausdrücklich als bezweifelbar hingestellt werden.«

Solche Behauptungen waren für philosophisch Denkende im letzten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts zu selbstverständlichen Wahrheiten geworden; sie sind es für viele noch heute, die gehört werden, wenn darüber geurteilt werden soll, ob eine Weltanschauung auf einem berechtigten Boden steht oder nicht.

In die Vorstellungsart, die zu solchen Behauptungen führt, muss man sich einleben, wenn man in unserer Zeit in Weltanschauungsfragen mitreden will. Mir schien ein solches Einleben zu zeigen, dass die Grundfragen über den Erkenntnisvorgang ganz anders gestellt werden müssen, als dies von vielen Erkenntnistheoretikern geschieht, wenn nicht der Gedankengang, der in solchen Fragen eingeschlagen wird, dazu führen soll, dass man am Ende vor einer Selbstauflösung dieses Gedankenganges steht. Klarheit auf diesem Gebiete zu suchen, Klarheit über Wert und Geltungsberechtigung der in Betracht kommenden Ideen, war die Aufgabe, die ich durch die Forschungen zu lösen suchte, deren Darstellung man in meinem Schriftchen »Wahrheit und Wissenschaft« und in meinem Buche »Philosophie der Freiheit« findet. »Wahrheit und Wissenschaft« war als eine »Verständigung des philosophierenden Bewusstseins mit sich selbst« gedacht. Diesen Titel trägt die Schrift auch in dem Druck als Doktordissertation, in dem deren wesentlicher Inhalt schon enthalten ist.

Ich glaubte zur Zeit, als ich diese Schriften verfasste, und glaube noch heute, man habe den Grundfehler vieler Erkenntnistheorien darin zu suchen, dass der Erkenntnisvorgang schon an seiner Wurzel ganz falsch angeschaut wird. Man denkt zunächst an den Gegensatz: Mensch und Welt. Man stellt sich vor, die Welt wirke auf den Menschen. Dieser bekommt von ihr Eindrücke. Aus diesen Eindrücken gestaltet sich das Weltbild, in dem er vorstellend lebt. Von diesem Gedanken aus ist dann ein fast selbstverständlicher Ideengang zu der Meinung: also ist alles, was innerhalb des menschlichen Bewusstseins auftritt, nur Bewusstseinserzeugnis. Jegliches Ding oder Wesen einer Außenwelt liegt jenseits des Bewusstseins; denn erst, wenn das unbekannt, unbewusst bleibende der Außenwelt vom Bewusstsein aufgenommen ist, wird es menschliches Weltbild. Wie die Dinge oder Wesen außerhalb des Bewusstseins sind, ist eine das menschliche Erkenntnisvermögen übersteigende Frage. Diese Vorstellungsart erscheint in verschiedenen Philosophien eingeschnürt in wahre Knäuel von Begriffen, die oft in einer so un-ursprünglichen, von ihrer Quelle weit abstehenden Form gedacht werden, dass mancher, der sich in sie eingewöhnt hat, gar nicht anders kann, als jeden für einen Dilettanten zu halten, der diese Begriffe auf ihre einfache Form zurückführen möchte.

Es ist nicht in Abrede zu stellen, dass der geschilderte Gedankengang von einem gewissen Gesichtspunkte aus so festgefügt erscheint, dass ein Einwand fast zur Unmöglichkeit wird, und dass Hamerling mit einigem Recht sagen konnte, wer diese Anschauung nicht gelten lässt, dem fehle die Fähigkeit, eine Tatsache unbefangen aufzufassen und in Gedanken festzuhalten.

Mir kam es nicht auf eine Widerlegung oder Kritik im gewöhnlichen Sinne gegenüber dieser Vorstellungsart an. Ich stellte nicht die Frage: inwieferne ist dieser Gedankengang unrichtig? Sondern ich versuchte, die andere erschöpfend zu beantworten: inwieferne ist er richtig? Und mir ergab sich, dass die Erkenntnistheoretiker in den Fehler verfallen waren, die Beantwortung nicht zu Ende zu führen. Sie waren auf halbem Wege stehengeblieben. Ein Weiterschreiten führt gerade von ihrem Ausgangspunkt aus zu anderen Ergebnissen, als die von ihnen geltend gemachten sind.

Wer einen Sinn für gewisse feinere Gesetze der menschlichen Logik und Psychologie hat, der weiß, dass man den Wahrheitswert eines Gedankens sehr oft dadurch verkennt, dass man sich von vorschnell in der Seele aufsteigenden widerlegenden Vorstellungen gefangen nehmen lässt. Auf diese Art entstehen für eine unbefangene Betrachtungsart verhängnisvolle Fallen, die verhindern können, zu rechten Erkenntniszielen zu gelangen. Das Sich-Einleben in einen Gedankengang, das Mitgehen auf seinen Wegen ist dagegen in vielen Fällen ein besseres Verhalten. Verliert man dabei die Einsicht in die Tragweite und den Geltungsbereich der einzelnen Gedankenverrichtungen nicht aus dem Bewusstsein, lässt man sich nicht überwältigen von dem Streben nach Einseitigkeit, das so viele Gedankenrichtungen in sich bergen: so kann auch das einseitig und unvollkommen Gedachte in das Gebiet der Wahrheit führen.

Von solchen Voraussetzungen ausgehend, versuchte ich zu erkenntnistheoretischen Ergebnissen zu kommen. Das Gefundene scheint mir auch heute noch völlig gesichert. So wie der Mensch in die Welt hineingestellt ist, muss er sich gestehen, dass sein Weltbild ihm so gegeben ist, wie es die Wesenheit seiner Organisation verlangt. In diesem Grundgedanken kann man sich einig wissen mit Kantianern, Neukantianern, Physiologen und deren Gefolge. Man kann mit ihnen bekennen: was dem menschlichen Bewusstsein erscheint, tritt so auf, wie es die Bedingungen des wahrnehmenden Menschen erfordern. Bleibt man nun an dieser Vorstellung haften und führt man sie einseitig gedanklich weiter, ohne im Fortschreiten sich mit der Wirklichkeit des Menschenwesens zu verbinden, dann versperrt man sich den Zugang zu einem wahrhaftigen Erfassen der Erkenntnisfähigkeit.

Dieses versuchte ich in meinen beiden genannten Schriften ausführlich darzulegen. An die erste Gestalt, in welcher dem Menschen sein Weltbild gegeben ist, kann sich im Menschen-Innern ein Geistesvorgang anschließen, der dieses Weltbild insoferne verwandelt, als er ihm seinen subjektiven Charakter benimmt und das Erkennen in das Objektive untertauchen lässt. Man kann nun allerdings der Meinung sein, dieser Vorgang sei nur eine Fortsetzung, eine Art gedanklicher oder methodischer Überarbeitung des gegebenen Weltbildes. Ist man dieser Ansicht, dann wird man in allem, was innerhalb des Bewusstseins auftreten kann, nichts anderes zu sehen vermögen als eine Art Bewusstseinswirkung der jenseits des Erkennens bleibenden wahren Wirklichkeit. Ich bemühte mich nun, zu zeigen, dass das Erkennen in seinem weiteren Fortschreiten die Gestalt überwindet, welche dem Weltbild bei seinem ersten Auftreten durch die menschliche Organisation gegeben ist.

Allerdings muss das Erkennen, um ein Bewusstsein von dieser Tatsache zu haben, zu einer Betätigung gelangen, die ich diejenige im reinen Denken genannt habe. Diese Betätigung wird von vielen Erkenntnistheoretikern von vornherein bestritten. Man könnte aber, Hamerlings Worte verwandelnd, sagen: wer die Anschauung nicht gelten lässt, dass im inneren Denk-Erleben eine Betätigung möglich ist, welche sich nur in inneren lebendigen Denkvorgängen selbst bewegt und welche die Vorstellungen der Sinneswelt nicht mehr als Abbilder, sondern nur als veranschaulichende Bilder verwendet, dem fehlt die Fähigkeit, eine Tatsache unbefangen aufzufassen und in Gedanken festzuhalten.

Meine erkenntnistheoretische Forschung führte zu dem Ergebnis, dass der Mensch durch seine Organisation sich zunächst aus der wahren Wirklichkeit eine unvollständige gewissermaßen herausschneidet, und dass er im weiteren Fortgang seines Erkennens, in der Erhebung zum reinen Denken, sich in diese wahre Wirklichkeit wieder hineinstellt. Meine genannten Bücher wollen zeigen, dass das menschliche Erkennen unbegriffen bleibt, wenn man es wie ein dem objektiven Weltprozess gleichgültiges Abbild ansehen möchte und sich dann doch gestehen muss, dass es ein solches nicht sein kann. Das Erkennen zeigte sich mir als ein im Wesen des Menschen begründeter Entwicklungsvorgang, der dieses Wesen von einer Stufe zur andern führt. Der Mensch erlebt in seinem erkennenden Verkehr mit der Außenwelt sein eigenes Wesen zunächst unvollständig, indem er sich durch seine Organisation ein unvollständiges Bild der Wirklichkeit vor die Wahrnehmung stellt. Er verwandelt im weiteren inneren Erfahren die erste Gestalt seines Weltbildes, das ein unvollendetes Abbild der Außenwelt ist, so, dass er mit seinem inneren Erleben in der wahren Wirklichkeit steht.

In dieser Art angesehen erscheint der Erkenntnisvorgang schon an seiner Wurzel anders als bei vielen Erkenntnistheoretikern. Ein Vergleich kann das hier in Betracht kommende verdeutlichen. Er ist selbstverständlich mit all der Einschränkung gemeint, die für alle Vergleiche gilt. Man kann die substantielle Natur der Getreidepflanze untersuchen mit Bezug darauf, inwiefern sich Getreide durch die in ihm enthaltenen Stoffe zum menschlichen Nahrungsmittel eignet. Diese Untersuchung kann sehr wissenschaftlich getrieben werden. Und doch kann man von einem gewissen Gesichtspunkte aus sagen: eine solche Untersuchung besagt nichts für das Wesen der Pflanze, insoferne sich dieses in den Vorgängen auslebt, die zum Wachsen, Blühen und Fruchttragen führen. Das innere Wesen der Pflanze offenbart sich aber in diesen Vorgängen. Und was die Pflanze als menschliches Nahrungsmittel wird, ist in gewissem Sinne eine aus dem Pflanzenwesen herausfallende Nebenwirkung. Der menschliche Erkenntnisvorgang ist seinem Wesen nach ein Glied der menschlichen Entwicklung. Was durch ihn geschieht, hat seine Bedeutung innerhalb dieser Entwicklung. Dass auf einer gewissen Stufe dieser Entwicklung in der Gedanken- und Ideenbetätigung auch ein Abbild der Außenwelt zutage tritt, ist dem Erkenntnisvorgang in einem ähnlichen Sinne nicht ureigentümlich, wie das Eintreten des Getreides in die menschliche Ernährung. Glaubt man die Hauptfrage der Erkenntnistheorie so stellen zu müssen, dass man nur darauf sieht: inwieferne ist das Erkennen Abbild einer Außenwelt, so verschiebt man die Betrachtung ebenso, wie man die botanische Hauptfrage verschöbe, wenn man das Wesen der Pflanze durch die Nahrungsmittelchemie suchen wollte.

In dem Schlussabschnitt des zweiten Bandes meiner »Rätsel der Philosophie« findet man einen »skizzenhaft dargestellten Ausblick auf eine Anthroposophie« (geschrieben 1914). In diesem versuche ich zu zeigen, dass ein völlig organisches Fortschreiten gedacht werden muss von den erkenntnistheoretischen Grundanschauungen meiner Schrift »Wahrheit und Wissenschaft« und meiner »Philosophie der Freiheit« zu dem Inhalte der »Geisteswissenschaft« oder »Anthroposophie«, wie ich sie weiter ausgebaut habe.

Wer diese meine früheren Schriften aber unbefangen liest, wird bemerken können, dass die in ihnen entwickelten Ergebnisse durch rein philosophische Forschung gewonnen sind, und dass deshalb die Zustimmung zu dem in ihnen geltend Gemachten nicht abhängig ist von der Stellung, die jemand zu der von mir vertretenen »Geisteswissenschaft« einnimmt. Ich habe mich bewusst in jenen Büchern der Denkmittel und der Methodik allein bedient, die man gewöhnt ist, in philosophischen Arbeiten zu finden. So scheint mir, dass die von mir »Geisteswissenschaft« genannte Forschungsart zwar eine gesicherte philosophische Grundlegung in meinen erkenntnistheoretischen Darstellungen hat, dass aber das philosophische Urteil über diese Grundlegung von dem geisteswissenschaftlichen Überbau ganz unabhängig gehalten werden kann. Für mich liegt aber ein eindeutiger Weg von meiner Erkenntnistheorie zur »Geisteswissenschaft«. Wer unbefangen zu durchschauen vermag, welches die Forschungsart ist, die den Ausführungen meiner späteren Bücher oder den kurzen Darstellungen des ersten und vierten Buches dieser Zeitschrift zugrunde liegt, dem werden die möglichen erkenntnistheoretischen Schwierigkeiten durch meine früheren Schriften aus dem Wege geräumt.

Wenn ich in meinen geisteswissenschaftlichen Schriften diejenigen Erkenntnisvorgänge darstelle, welche durch geistige Erfahrung und Beobachtung in ebensolcher Art zu Vorstellungen führen über die geistige Welt wie die Sinne und der an sie gebundene Verstand über die sinnenfällige Welt und das in ihr verlaufende Menschenleben, so durfte dieses nach meiner Auffassung nur dann als wissenschaftlich berechtigt hingestellt werden, wenn der Beweis vorlag, dass der Vorgang des reinen Denkens selbst schon sich als die erste Stufe derjenigen Vorgänge erweist, durch welche übersinnliche Erkenntnisse erlangt werden.

Diesen Beweis glaube ich in meinen früheren Schriften erbracht zu haben.

Ich habe in der verschiedensten Art zu begründen versucht, dass der Mensch, indem er im reinen Denkvorgang lebt, nicht bloß eine subjektive, von den Weltvorgängen abgewandte und für diese gleichgültige Verrichtung vollbringt, sondern dass das reine Denken ein über das subjektiv menschliche Tun hinausführendes Geschehen ist, in dem das Wesen der objektiven Welt lebt. Es lebt so darin, dass der Mensch im wahren Erkennen mit dem objektiven Weltwesen zusammenwächst.

Wer die Darstellungen meiner früheren Schriften, auch die einführende Auseinandersetzung, die ich in den achtziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts zu Goethes naturwissenschaftlichen Schriften in Kürschners deutscher Nationalliteratur geschrieben habe, in unbefangene Erwägung ziehen will, der wird das Gewicht des Satzes fühlen können, den ich 1897 in meinem Buche »Goethes Weltanschauung« niedergeschrieben habe. »Wer von der Kälte der Ideenwelt spricht, der kann Ideen nur denken, nicht erleben. Wer das wahrhafte Leben in der Ideenwelt lebt, der fühlt in sich das Wesen der Welt in einer Wärme wirken, die mit nichts zu vergleichen ist.«

In meinem vor kurzem erschienenen Buch »Vom Menschenrätsel« habe ich das »schauende Bewusstsein« beschrieben – in Anlehnung an die Goethesche Idee von der »anschauenden Urteilskraft«. Ich verstehe darunter die Fähigkeit des Menschen, sich eine geistige Welt zur unmittelbaren Anschauung und Beobachtung zu bringen. Meine früheren Schriften behandeln das reine Denken so, dass ersichtlich ist, ich zähle dieses durchaus zu den Verrichtungen des »schauenden Bewusstseins«. Ich sehe in diesem reinen Denken die erste, noch schattenhafte Offenbarung der geistigen Erkenntnisstufen.

Man kann aus meinen späteren Schriften überall ersehen, dass ich als höhere geistige Erkenntniskräfte nur diejenigen anzusehen vermag, die der Mensch in einer ebensolchen Art entwickelt wie das reine Denken. Ich lehne für den Bereich der geistigen Erkenntniskräfte jede menschliche Verrichtung ab, die unter das reine Denken herunterführt, und erkenne nur eine solche an, die über dieses reine Denken hinausgeleitet. Ein vermeintliches Erkennen, das nicht in dem reinen Denken eine Art Vorbild anerkennt und das sich nicht im Gebiete derselben Besonnenheit und inneren Klarheit bewegt wie das ideenscharfe Denken, kann nicht in eine wirkliche geistige Welt führen. Durch diese meine Stellung zu den geistigen Erkenntniskräften des Menschen, welche für jedes Erkennen die Gesetzmäßigkeit des reinen Denkens zur Voraussetzung hat, kam ich gegenüber derjenigen Vorstellungsart, die man da und dort Mystik nennt, in eine besondere Lage.

Gibt man von der »Mystik« die Definition, sie sei ein Erkennen, durch das der Mensch sein eigenes Wesen mit dem Weltwesen verbunden erlebt, so muss ich diese Definition für diejenige Anschauung in Anspruch nehmen, die ich von dem wahren Erkennen habe.

Ich muss sagen: »echte Mystik« kann nur erreicht werden, wenn diejenigen erkenntnistheoretischen Grundlagen anerkannt werden, die ich glaube, erarbeitet zu haben. Blicke ich dagegen auf dasjenige, was oft als Mystik bezeichnet wird und was gerade die Besonnenheit und Klarheit vermeidet, die dem Denkvorgang eignen, dann sehe ich mich genötigt, eine solche Mystik so zu kennzeichnen, wie ich es in meinem Buche »Goethes Weltanschauung« getan habe: »Die Mystik geht darauf aus, in der menschlichen Seele den Urgrund der Dinge, die Gottheit zu finden. Der Mystiker ist geradeso wie Goethe davon überzeugt, dass ihm in inneren Erlebnissen das Wesen der Welt offenbar werde. Nur gilt die Versenkung in die Ideenwelt nicht als das innere Erlebnis, auf das es ankommt. Über die klaren Ideen der Vernunft hat er ungefähr dieselbe Ansicht wie Kant. Sie stehen für ihn außerhalb des schaffenden Ganzen der Natur und gehören nur dem menschlichen Verstande an. Der Mystiker sucht deshalb zu den höchsten Erkenntnissen durch Erweckung besonderer Kräfte zu gelangen. Er sucht durch Entwickelung ungewöhnlicher Zustande, zum Beispiel durch Ekstase, zu einem Schauen höherer Art zu gelangen . .. In eine Welt unklarer Empfindungen und Gefühle versenkt sich der Mystiker; in die klare Ideenwelt versenkt sich Goethe. Die Mystiker verachten die Klarheit der Ideen. Sie halten diese Klarheit für oberflächlich. Sie ahnen nicht, was Menschen empfinden, welche die Gabe haben, sich in die belebte Welt der Ideen zu vertiefen. Es friert den Mystiker, wenn er sich der Ideenwelt hingibt.«

Diese so von mir zu kennzeichnende Mystik muss ich weit aus dem Gebiete herausstellen, in dem ich die Erkenntniskräfte suche, welche die geistige Welt erschließen. Diese Mystik treibt das menschliche Seelenleben in einen Bereich, in dem es in größere Abhängigkeit gerät von der menschlichen Organisation, als es im gewöhnlichen sinnlichen Wahrnehmen und in der Verstandestätigkeit ist. Die wahrhaftigen geistigen Erkenntnisfähigkeiten aber führen das Seelenleben in ein Gebiet, in dem ihr größere Unabhängigkeit von der Organisation eignet als im sinnlichen Wahrnehmen und Vorstellen, und das mit dem reinen Denken bereits in der einfachsten Form betreten ist. Mit dem träumerischen, halbbewussten Seelenleben der falschen Mystik hat die Erkenntnistätigkeit, durch die ich die »Geisteswissenschaft« errichtet denke, nichts gemein. Leider verwechseln die Gegner und auch diejenigen, welche Anhänger dieser Geisteswissenschaft sein wollen, diese nur allzuoft mit der falschen Mystik, obwohl diese Verwechslung diejenige einer Sache mit ihrem Gegenteile ist. Wer nicht an Worten klebt und aus Worten willkürliche Entstellungen drechselt, der wird in meinen Schriften überall ersehen, wo ich auf das relativ Berechtigte der Definition der Mystik abziele, und wo ich die Verworrenheiten falscher Mystik ablehne.

Wird der Erkenntnisvorgang als Entwickelungserlebnis des Menschenwesens erkannt, dann kann man nicht mehr die Möglichkeit zugeben, durch Begriffe und Ideen von den Wahrnehmungen der Sinne auf eine jenseits aller Bewusstheit liegende Wirklichkeit durch bloße logische Schlussfolgerung oder Aufstellung von Hypothesen hinzuweisen. Von einer über die Sinneswahrnehmungen hinaus liegenden Welt kann dann nur in dem Sinne gesprochen werden, dass eine solche Welt dem »schauenden Bewusstsein« sich so offenbart wie die sinnenfällige Welt der Sinneswahrnehmung. Indem ich diese Anschauung zu der meinigen machen musste, stand ich in einem vollkommenen Gegensatz zu denjenigen Philosophien, die ein Erleben der über die Sinneswelt hinaus liegenden Wirklichkeitsgebiete ablehnen und höchstens zugeben wollen, dass eine logische Notwendigkeit vorliege, hypothetisch eine der bewussten weltfremde Wirklichkeit anzunehmen.

Eine besonders charakteristische Stellung nimmt innerhalb dieser Philosophien Eduard von Hartmanns »transzendentaler Realismus« ein. Von seinem Gesichtspunkt aus erscheint das gegebene Weltbild des Menschen, einschließlich aller im Denken erringbaren Erlebnisse als Ergebnis der subjektiven menschlichen Organisation. Doch betont Eduard von Hartmann die aus der Natur dieses Weltbildes selbst folgende Notwendigkeit, hypothetisch von dem Subjektiven, Bewussten auf eine objektive Wirklichkeit zu schließen, die aber entschieden im Felde des Unbewussten verbleibend gedacht werden muss. Diese Art, zu einer Metaphysik zu gelangen, versuche ich in meiner »Philosophie der Freiheit« als eine irrtümliche zu kennzeichnen. Ich strebte nach einem einheitlichen Weltbilde und schrieb die scheinbare dualistische Gestaltung desselben dem Umstände zu, dass der Mensch im bloßen Sinneswahrnehmen eine unvollkommene Form dieses Bildes aus dessen ganzem Wesen herausgliedert, um die Unvollkommenheit im weiteren Fortschritt des Erkennens wieder zu überwinden. Eduard von Hartmann behauptet einen erkenntnistheoretischen Dualismus, der für das menschliche Bewusstsein nicht zu überwinden ist, und der alle Ideen über die Weltwesenheit zu solchen macht, die im Sinne des Dualismus gedacht sind.

Für meinen Gesichtspunkt ist das Metaphysische dasjenige, das nicht seiner Artung nach unbewusst ist, sondern von dem Träger des Bewusstseins nur so lange nicht geschaut wird, als nicht die Erkenntniskräfte bloßgelegt sind, welche das über die Sinneswahrnehmung hinaus Liegende ebenso Erlebnis werden lassen, wie es die physische Wirklichkeit für die Sinne ist. Es sollte kaum nötig sein, ausdrücklich zu betonen, dass derjenige, welcher in dieser Art von dem Übersinnlichen spricht, nicht behaupten will, es offenbaren sich mit der Betätigung des »schauenden Bewusstseins« dem Menschen mit einem Schlage alle Geheimnisse der geistigen Welt. Es wird nur die Erkenntnis über die Sinneswelt hinaus erweitert in einen Bereich hinein, der für diese Sinneswelt und für das menschliche Leben in dieser Welt erklärende Untergründe darbietet. Das Wesentliche ist, dass man in die Daseinsform des Geistigen eintritt, auch wenn man der Überzeugung sein muss, dass der zunächst zu erkennende Teil der geistigen Welt nur ein kleines Gebiet in ihrem weiten Umkreis ist. Auch sollte nicht verkannt werden, dass die Erforschung der Einzelheiten der Geisteswelt eine wahrhaftig nicht geringere Sorgfalt und wissenschaftliche Gewissenhaftigkeit erfordert als diejenige der physischen Welt.

Mir schien bei Ausarbeitung meiner beiden auf Erkenntnistheorie gebauten Schriften die Ablehnung jeglicher bloß erdachter, von nicht geistig erlebbarem Inhalt erfüllten Metaphysik deshalb an Eduard von Hartmanns transzendentalen Realismus anknüpfen zu sollen, weil ich warme Anerkennung hatte für die Art, wie abgesehen von dieser erkenntnistheoretischen Grundansicht dieser Philosoph verstand, den Geist in der Form der Idee in allen Welt- und Lebenserscheinungen aufzuzeigen. Was mich zwang, Hegels Philosophie stets in ihrem vollen Werte anzuerkennen, und doch das eigene Erkennen über sie hinauszuführen, das traf für mich in anderer Beziehung auch für Eduard von Hartmann zu. Bei Hegel sah ich, wie er den Inhalt des Denkens in seiner geistigen Wirklichkeit erfasst hatte, aber ihn doch nur in einer solchen Gestalt zu halten vermochte, dass das Denken nicht zum lebendigen Anfangsglied in einem geistigen Erkenntnis Vorgang werden konnte, der sich die übersinnliche Welt erschließt. Bei Hegel ist die Idee zwar geistige Wirklichkeit; aber als solche doch nur Ausdrucksmittel für die sinnenfällige Welt und das Leben in ihr. Deshalb hat die Hegelsche Philosophie über eine geistige Welt nichts zu sagen; ihr Inhalt ist nur die Natur- und Geschichtswelt.

Meine Lage gegenüber der Hartmannschen Philosophie war die, dass ich seiner idealistischen Beleuchtung der sinnenfälligen Welt und des Menschenlebens in ihr in vielen Dingen zustimmen durfte; dass ich aber in seinen erkenntnistheoretischen Grundansichten nicht nur einen theoretischen Gegensatz zu dem sehen musste, was mir Wahrheit ist, sondern eine Vorstellungsart, die dem menschlichen Denken praktisch die Möglichkeit benimmt, die Erkenntniskräfte des »schauenden Bewusstseins«, die in der Seele bereitliegen, zu entdecken und anzuwenden. Deshalb durfte ich im zweiten Bande meiner Ausführungen über Goethes naturwissenschaftliche Schriften (in Kürschners deutscher Nationalliteratur) 1887 über die idealistische Beleuchtung der Sinnes- und Geschichtswelt durch Eduard von Hartmann aus ehrlichster Überzeugung Sätze schreiben wie diese: »Mit seinem objektiven Idealismus steht Eduard von Hartmann ganz auf dem Boden der Goetheschen Weltanschauung ... Er will zwar kein bloßer Idealist sein. Allein, wo er behufs der Welterklärung etwas Positives braucht, ruft er doch die Idee zu Hilfe ... Mit der Unterscheidung von Bewusstem und Unbewusstem ist aber nicht viel getan ... Man muss aber der Idee in ihrer Objektivität, in ihrer vollen Inhaltlichkeit zu Leibe gehen, man muss nicht nur darauf sehen, dass die Idee unbewusst wirksam ist, sondern was dieses Wirksame ist. Wäre Hartmann dabei stehengeblieben, dass die Idee unbewusst ist, und hätte er aus diesem Unbewussten – also aus einem einseitigen Merkmal der Idee – die Welt erklärt, er hatte zu den vielen Systemen, die die Welt aus irgendeinem abstrakten Formelprinzip ableiten, ein neues einförmiges System geschaffen. Und man kann sein erstes Hauptwerk nicht ganz von dieser Einförmigkeit freisprechen. Aber Eduard von Hartmanns Geist wirkt zu intensiv, zu umfassend und tiefdringend, als dass er nicht erkannt hätte: die Idee darf nicht bloß als Unbewusstes gefasst werden, man muss sich vielmehr eben in das vertiefen, was man als unbewusst anzusprechen hat, muss über diese Eigenschaft hinaus auf dessen konkreten Inhalt gehen und daraus die Welt der Einzelerscheinungen ableiten.«

Da ich in solcher Gesinnung und in einem solchen wissenschaftlichen Gegensatz zu Eduard von Hartmann mich befand, schien mir 1894 sein Gesamturteil über meine »Philosophie der Freiheit« bedeutsam. Bei der Stellung, welche Hartmanns Philosophie in der geistigen Welt einnimmt, kann es wohl nicht anstößig erscheinen, dass ich dieses Urteil, das damals nur für mich bestimmt war, hier mitteile und bespreche. Dies darf um so mehr als berechtigt erscheinen, da man aus dem Vorangehenden die Schätzung erkennt, die ich der Persönlichkeit und philosophischen Bedeutung Hartmanns entgegenbringe.

Ich hatte damals in diesem Urteile schon im Keime alle die Schwierigkeiten vor dem geistigen Auge, denen meine Weltanschauung innerhalb des zeitgenössischen Denkens begegnen musste. Alle Verwechslungen mit andern Vorstellungsarten, die ich selber ablehne und mit deren unabsichtlicher-und jetzt auch absichtlicher Bekämpfung man auch mein Streben zu treffen meint: sie alle waren im Grunde mit Hartmanns Urteil vorweg genommen. Aber ich hatte eben das Urteil einer von mir geschätzten Persönlichkeit vor Augen, deren wissenschaftlichen Ernst ich anerkennen konnte, trotzdem sie meine Vorstellungsart ablehnte. Eduard von Hartmann schrieb: »In diesem Buche ist weder Humes in sich absoluter Phänomenalismus mit dem auf Gott gestützten Phänomenalismus Berkeleys versöhnt, noch überhaupt dieser immanente oder subjektive Phänomenalismus mit dem transzendentalen Panlogismus Hegels, noch auch der Hegelsche Panlogismus mit dem Goetheschen Individualismus. Zwischen je zweien dieser Bestandteile gähnt eine unüberbrückbare Kluft. Vor allem aber ist übersehen, dass der Phänomenalismus mit unausweichlicher Konsequenz zum Solipsismus, absoluten Illusionismus und Agnostizismus führt, und nichts getan, um diesem Rutsch in den Abgrund der Unphilosophie vorzubeugen, weil die Gefahr gar nicht erkannt ist.« –

Was ist nun in meiner »Philosophie der Freiheit« in bezug auf dasjenige angestrebt, das Eduard von Hartmann mit diesem Urteil zu treffen vermeint? Der absolute Phänomenalismus, wie er in Humes Philosophie sich auslebte, erscheint überwunden durch den Versuch einer solchen Kennzeichnung des Denkens, dass durch dieses dem sinnenfälligen Weltbilde sein phänomenaler Charakter benommen und es zur Erscheinung einer objektiven Welt gemacht wird; Berkeleys subjektiver Phänomenalismus verliert vor dieser Auffassung seine Berechtigung, indem gezeigt wird, dass im Denken der Mensch mit der objektiven Welt zusammenwächst und daher die Behauptung allen Sinn verliert, die Weltphänomene seien außerhalb des Wahrgenommenwerdens nicht vorhanden; Hegels Panlogismus gegenüber wird im Denken das Anfangsglied für rein geistige Erkenntnisfähigkeiten des Menschen gesehen, nicht ein letztes Glied des gewöhnlichen Bewusstseins, das den sinnenfälligen Weltinhalt nur in schattenhaften Ideen begrifflich abbildet; Goethes Individualismus wird dadurch auszubauen versucht, dass gezeigt wird, wie das Begreifen der menschlichen Freiheit nur einer Weltanschauung möglich ist, die sich auf die erkenntnistheoretischen Grundlagen der »Philosophie der Freiheit« stützt.

Nur wenn die objektive Wesenheit der Gedankenwelt erkannt wird und dadurch die seelische Verbindung des Menschen mit ethischen Motiven als übersubjektives Erlebnis zur Anschauung kommt, kann das Wesen der Freiheit erfasst werden. In dieser Erfassung versuchte ich denn auch die Darstellung meines Buches gipfeln zu lassen. Der Vorwurf des Solipsismus ist meiner Weltauffassung gegenüber deshalb unbegründet, weil diese dem Denken seine Stellung im objektiven Weltengange zuweist, also ganz unmittelbar auf dasjenige Erkenntnismittel hindeutet, das den Fall in den Solipsismus unmöglich macht. Auf die Erwähnung der Gefahr des absoluten Illusionismus und Agnostizismus kann meiner »Philosophie der Freiheit« gegenüber nur derjenige verfallen, der das lebendige Denken, das ich kennzeichne, in seinem Wirklichkeitswert verkennt, und dem es deshalb unbewusst geschieht, dass er seine Anschauung vom Denken mir unterschiebt. Sieht man in dem Denken nur, was Eduard von Hartmann darin sieht, so ergibt sich in der Tat bei Ablehnung des transzendentalen Realismus der Illusionismus und Agnostizismus, während meine Anschauung vom Denken gerade dazu führt, durch dessen Kraft und Geltungsbereich allen Illusionismus und Agnostizismus unmöglich zu machen. Und am Schlüsse seines Urteiles ahnt Eduard von Hartmann, dass meine erkenntnistheoretische Grundanschauung aus dem Begrifflichen als bloßem Abbild der sinnenfälligen und geschichtlichen Welt hinausführt. Für ihn hört an diesem Punkte alle Philosophie und alles mögliche Weltanschauungsstreben auf; für mich beginnt da der Eintritt der menschlichen Erkenntniskräfte in die Welt der Geisteswissenschaft. Er nennt das den »Rutsch in den Abgrund der Unphilosophie«; was ich so kennzeichnen muss, wie ich es in meinem Buche »Vom Menschenrätsel« getan habe, als den Aufstieg vom gewöhnlichen zum »schauenden« Bewusstsein.

Dass sich meine Auseinandersetzungen mit der Weltanschauung Friedrich Nietzsches und Haeckels, wie man sie in meinen Schriften aus den neunziger Jahren findet, in geradem Fortgang auf dem Wege befinden, der von meiner »Philosophie der Freiheit« zu der von mir vertretenen »Geisteswissenschaft« oder »Anthroposophie« führt, werde ich später einmal zur Darstellung bringen. Wessen Sinn nach Worten geht und danach, mit Worten ein System des Widerspruchs - vielleicht ein recht gehässiges System - zu konstruieren, der wird in dem Aufbau einer Weltanschauung recht leicht nach Widersprüchen angeln können, wenn diese Weltanschauung selbst nicht auf Worte und Wort Definitionen formelhaft sich stützt, sondern aus dem vollen Leben mit all seinen Widersprüchen schöpfen möchte. Ein solcher Widerspruchangler könnte ja der Welt selbst ihre Widersprüche vorhalten. An einer entsprechenden Einschätzung dessen, was er Widersprüche nennt, hindert allerdings manchen Gegner meiner Weltanschauung seine nur zu deutlich ersichtliche Unbekanntschaft mit der Entwickelung der philosophischen Wissenschaft. Mir können Angriffe auf meine Weltanschauung auch von zweifelhafter Seite nicht unbegreiflich erscheinen, da ich vor langer Zeit das besprochene Urteil von ernster und von mir hochgeschätzter Seite vor mir hatte und mich damit all den Schwierigkeiten gegenübergestellt sah, die diese Weltanschauung in vielen Kreisen finden muss.