Geisteswissenschaft und soziale Frage | 1905-1906

Rudolf Steiner, Lucifer-Gnosis, Oktober 1905 (Nr. 30), 1906 (Nr. 32), GA 34, S. 191 ff.

Wer gegenwärtig mit offenen Augen die Welt um sich herum betrachtet, der sieht überall das sich mächtig erheben, was man die «soziale Frage» nennt. Diejenigen, welche es mit dem Leben ernst nehmen, müssen in irgendeiner Art sich Gedanken über das machen, was mit dieser Frage zusammenhängt. Und wie selbstverständlich muss es erscheinen, dass eine solche Vorstellungsart, welche zu ihren Aufgaben die höchsten Menschheitsideale gemacht hat, irgendwie ein Verhältnis gewinnen muss zu den sozialen Anforderungen. Eine solche Vorstellungsart will aber die geisteswissenschaftliche für die Gegenwart sein. Deshalb ist es nur natürlich, wenn nach diesem Verhältnis gefragt wird.

Nun kann es zunächst den Eindruck machen, als ob die Geisteswissenschaft nichts Besonderes nach dieser Richtung hin zu sagen hätte. Man wird als ihren hervorstechendsten Charakterzug zunächst die Verinnerlichung des Seelenlebens und die Erweckung des Blickes für eine geistige Welt erkennen. Selbst solche, die sich nur flüchtig mit den Ideen bekannt machen, welche durch geisteswissenschaftlich orientierte Redner und Schriftsteller Verbreitung finden, werden bei unbefangener Betrachtung dieses Streben erkennen können. Schwieriger ist es aber einzusehen, dass dieses Streben gegenwärtig eine praktische Bedeutung habe. Und insbesondere kann nicht leicht dessen Zusammenhang mit der sozialen Frage einleuchtend werden. Was soll, so wird mancher fragen, eine Lehre den sozialen Übelständen helfen, die sich mit «Wiederverkörperung», mit «Karma», mit der «übersinnlichen Welt», mit der «Entstehung des Menschen» und so weiter befasst? Eine solche Gedankenrichtung scheint von aller Wirklichkeit hinweg in ferne Wolkenhöhen zu fliegen, während jetzt doch ein jeder dringend nötig hätte, sein ganzes Denken zusammenzunehmen, um den Aufgaben zu genügen, welche die irdische Wirklichkeit stellt.

Von all den verschiedenen Meinungen, die gegenwärtig in bezug auf die Geisteswissenschaft notwendig hervortreten müssen, seien hier zwei verzeichnet. Die eine besteht darin, dass man sie als den Ausdruck einer zügellosen Phantastik ansieht. Es ist ganz natürlich, dass eine solche Ansicht besteht. Und sie sollte am wenigsten für den geisteswissenschaftlich Strebenden etwas Unbegreifliches haben. Jedes Gespräch in seiner Umgebung, alles, was um ihn herum vorgeht, was den Menschen Lust und Freude macht, alles das kann ihn darüber belehren, dass er zunächst eine für viele geradezu närrische Sprache führt. Zu diesem Verständnis seiner Umgebung muss er dann allerdings die unbedingte Sicherheit hinzubringen, dass er auf dem rechten Wege ist. Sonst könnte er kaum aufrecht stehen, wenn er sich den Widerstreit seiner Vorstellungen mit denen so vieler anderer klar macht, die zu den Unterrichteten und Denkenden gehören. Hat er die rechte Sicherheit, kennt er die Wahrheit und Tragkraft seiner Ansicht, dann sagt er sich: ich weiß ganz gut, dass ich gegenwärtig als Phantast angesehen werden kann, und es ist mir einleuchtend, warum das so ist; aber die Wahrheit muss wirken, auch wenn sie verlacht und verhöhnt wird, und ihre Wirkung hängt nicht ab von den Meinungen, die man über sie hat, sondern von ihrer gediegenen Grundlage.

Die andere Meinung, von welcher die Geisteswissenschaft betroffen wird, ist die, dass ihre Gedanken zwar schön und befriedigend seien, dass sie aber nur für das innere Seelenleben, nicht für den praktischen Lebenskampf einen Wert haben können. Selbst solche, welche zur Stillung ihrer geistigen Bedürfnisse nach der geisteswissenschaftlichen Nahrung verlangen, können nur zu leicht versucht sein, sich zu sagen: ja, aber wie der sozialen Not, dem materiellen Elend beizukommen ist, darüber kann diese Gedankenwelt doch keine Aufklärung geben. – Nun beruht aber gerade diese Meinung auf einem vollständigen Verkennen der wirklichen Tatsachen des Lebens, und vor allen Dingen auf einem Missverständnisse gegenüber den Früchten der geisteswissenschaftlichen Vorstellungsart.

Man fragt nämlich fast ausschließlich: was lehrt die Geisteswissenschaft? Wie kann man beweisen, was sie behauptet? Und man sucht dann die Frucht in dem Gefühl der Befriedigung, die man aus den Lehren schöpfen kann. Das ist natürlich so selbstverständlich wie möglich. Man muss ja zunächst eine Empfindung für die Wahrheit von Behauptungen erhalten, die einem gegenübertreten. Die wahre Frucht der Geisteswissenschaft darf aber darinnen nicht gesucht werden. Diese Frucht zeigt sich nämlich erst dann, wenn der geisteswissenschaftlich Gesinnte an die Aufgaben des praktischen Lebens herantritt. Es kommt darauf an, ob ihm die Geisteswissenschaft etwas hilft, diese Aufgaben einsichtsvoll zu ergreifen und mit Verständnis die Mittel und Wege zur Lösung zu suchen.

Wer im Leben wirken will, muss das Leben erst verstehen. Hier liegt der Kernpunkt der Sache. Solange man dabei stehen bleibt, zu fragen: was lehrt die Geisteswissenschaft, kann man diese Lehren zu «hoch» für das praktische Leben finden. Wenn man aber darauf das Augenmerk richtet, welche Schulung das Denken und Fühlen durch diese Lehren erfährt, dann wird man aufhören, solchen Einwand zu machen. So absonderlich es für die oberflächliche Auffassung erscheinen mag, es ist doch richtig: die scheinbar im Wolkenkuckucksheim schwebenden geisteswissenschaftlichen Gedanken bilden den Blick aus für eine richtige Führung des alltäglichen Lebens. Und die Geisteswissenschaft schärft gerade dadurch das Verständnis für die sozialen Forderungen, dass sie den Geist erst in die lichten Höhen des Übersinnlichen führt. So widerspruchsvoll das erscheint, so wahr ist es.

Es soll einmal an einem Beispiele gezeigt werden, was damit gemeint ist. Ein ungemein interessantes Buch ist in der letzten Zeit erschienen: «Als Arbeiter in Amerika» (Berlin K. Siegismund). Es hat zum Verfasser den Regierungsrat Kolb, der es unternommen hat, monatelang als gewöhnlicher Arbeiter in Amerika zuzubringen. Dadurch hat er sich ein Urteil über Menschen und Leben angeeignet, wie es ihm offenbar ebensowenig der Bildungsweg hätte geben können, durch den er Regierungsrat geworden ist, noch auch die Erfahrungen, welche er auf diesem Posten und auf all den Stellen hat sammeln können, die man einnimmt, bevor man Regierungsrat wird. Er war somit jahrelang an einer verhältnismäßig verantwortungsvollen Stelle, und erst, als er aus dieser herausgetreten ist und – kurze Zeit – in fernem Lande gelebt hat, lernt er das Leben so kennen, dass er in seinem Buche den folgenden beherzigenswerten Satz schreibt: «Wie oft hatte ich früher, wenn ich einen gesunden Mann betteln sah, mit moralischer Entrüstung gefragt: Warum arbeitet der Lump nicht? Jetzt wusste ich’s. In der Theorie sieht sich’s eben anders an, als in der Praxis, und selbst mit den unerfreulichsten Kategorien der Nationalökonomie hantiert sich’s am Studiertisch ganz erträglich.»

Nun soll hier nicht das geringste Missverständnis hervorgerufen werden. Die vollkommenste Anerkennung muss dem Manne entgegengebracht werden, der es sich abgewonnen hat, aus behaglicher Lebenslage herauszutreten, und in einer Brauerei und Fahrradfabrik schwer zu arbeiten. Die Hochschätzung dieser Tat soll vorerst möglichst stark betont werden, damit nicht der Glaube erweckt werde, es solle der Mann abfälliger Kritik unterworfen werden. – Aber für jeden, der sehen will, ist unbedingt klar, dass alle Schulung, alle Wissenschaft, die der Mann durchgemacht hat, ihm kein Urteil über das Leben gegeben haben. Man versuche es sich doch klar zu machen, was damit zugestanden ist: Man kann alles lernen, was einen gegenwärtig befähigt, verhältnismäßig leitende Stellen einzunehmen: und man kann dabei dem Leben, auf das man wirken soll, ganz ferne stehen. –

Ist das nicht so, als wenn man in irgendeiner Schule für den Brückenbau ausgebildet würde, und dann, wenn man vor die Aufgabe tritt, eine Brücke zu bauen, man nichts davon verstehe? Doch nein: es ist nicht ganz so. Wer sich für den Brückenbau schlecht vorbereitet, dem wird sein Mangel bald klar werden, wenn er an die Praxis herantritt. Er wird sich als Pfuscher erweisen und überall zurückgewiesen werden. Wer sich aber für das Wirken im sozialen Leben schlecht vorbereitet, dessen Mängel können sich nicht so schnell erweisen. Schlecht gebaute Brücken stürzen ein; und dem Befangensten ist dann klar, dass der Brückenbauer ein Pfuscher war. Was aber im sozialen Wirken verpfuscht wird, das zeigt sich nur darinnen, dass die Mitmenschen darunter leiden. Und für den Zusammenhang dieses Leidens mit dem Pfuschertum hat man nicht so leicht ein Auge wie für das Verhältnis zwischen Brückeneinsturz und unfähigem Baumeister. –

«Ja, aber», wird man sagen, «was hat denn das alles mit der Geisteswissenschaft zu tun? Glaubt der geisteswissenschaftlich Gesinnte etwa gar, dass seine Lehren dem Regierungsrat Kolb ein besseres Verständnis des Lebens beigebracht hätten? Was hätte es ihm genützt, wenn er etwas von «Wiederverkörperung», «Karma» und allen «übersinnlichen Welten» gewusst hätte? Niemand wird doch behaupten wollen, dass die Ideen über planetarische Systeme und höhere Welten den genannten Regierungsrat hätten davor bewahren können, eines Tages sich gestehen zu müssen,  «dass es sich mit den unerfreulichsten Kategorien der Nationalökonomie am Studiertische ganz gut hantiere.» Der geisteswissenschaftlich Gesinnte kann nun wirklich – wie Lessing in einem bestimmten Falle – antworten: «Ich bin dieser ‹Niemand›, ich behaupte es geradezu.» Nur muss man das nicht so verstehen, als ob jemand mit der Lehre von der «Wiederverkörperung», oder dem Wissen vom «Karma» sich sozial richtig betätigen könne. Das wäre natürlich naiv. Die Sache geht selbstverständlich nicht so, dass man diejenigen, welche zu Regierungsräten bestimmt sind, statt sie zu Schmoller, Wagner oder Brentano auf die Universität zu schicken, auf die «Geheimlehre» der Blavatsky verweist. –

Worauf es ankommt, ist aber dieses: wird eine nationalökonomische Theorie, welche von einem geisteswissenschaftlich Gesinnten herrührt, eine solche sein, mit der sich am Studiertische gut hantieren lässt, die aber dem wirklichen Leben gegenüber versagt? Und das eben wird sie nicht sein. Wann hält eine Theorie dem Leben gegenüber nicht stand? Wenn sie durch ein Denken hervorgebracht ist, das nicht für das Leben geschult ist. Nun sind aber die Lehren der Geisteswissenschaft ebenso die wirklichen Gesetze des Lebens, wie die Lehren der Elektrizität diejenigen einer Fabrik für elektrische Apparate sind. Wer eine solche Fabrik einrichten will, muss zuerst wahre Elektrizitätslehre sich aneignen. Und wer im Leben wirken will, der muss die Gesetze des Lebens kennenlernen. So fern aber scheinbar die Lehren der Geisteswissenschaft dem Leben stehen, so nahe sind sie ihm in Wahrheit. Dem oberflächlichen Blick erscheinen sie weltfremd; dem wahren Verständnis erschließen sie das Leben. Man zieht sich nicht aus bloßer Neugierde zurück in «geisteswissenschaftliche Zirkel», um da allerlei «interessante» Aufschlüsse über jenseitige Welten zu erhalten, sondern man trainiert da sein Denken, Fühlen und Wollen an den «ewigen Gesetzen des Daseins», um herauszutreten in das Leben, und mit hellem, klarem Blick dieses Leben zu verstehen. Die geisteswissenschaftlichen Lehren sind ein Umweg zu einem lebensvollen Denken, Urteilen und Empfinden. –

Die geisteswissenschaftliche Bewegung wird erst in ihrem rechten Geleise sein, wenn man das voll einsehen wird. Rechtes Handeln entspringt aus rechtem Denken; und unrechtes Handeln entspringt aus verkehrtem Denken oder aus der Gedankenlosigkeit. Wer überhaupt daran glauben will, dass auf sozialem Gebiete etwas Gutes gewirkt werden kann, der muss zugeben, dass es von den menschlichen Fähigkeiten abhängt, solches Gute zu wirken. Durch die Ideen der Geisteswissenschaft hindurch sich arbeiten, bedeutet Steigerung der Fähigkeiten zu sozialem Wirken. Es handelt sich in dieser Beziehung nicht allein darum, welche Gedanken man durch die Geisteswissenschaft aufnimmt, sondern darum, was man aus seinem Denken durch sie macht.

Gewiss muss zugegeben werden, dass innerhalb der Kreise selbst, die sich der Geisteswissenschaft widmen, noch nicht allzu viel von einer Arbeit gerade in dieser Hinsicht zu merken ist. Und ebensowenig kann geleugnet werden, dass gerade deshalb die der Geisteswissenschaft Fernstehenden noch allen Grund haben, die obigen Behauptungen zu bezweifeln. Aber es darf auch nicht außer acht gelassen werden, dass die geisteswissenschaftliche Bewegung in gegenwärtiger Auffassung erst im Anfange ihrer Wirksamkeit steht. Ihr weiterer Fortschritt wird darinnen bestehen, dass sie sich einführt in alle praktischen Gebiete des Lebens. Dann wird sich beispielsweise für die «soziale Frage» zeigen, dass an Stelle von Theorien, «mit denen sich am Studiertische ganz gut hantieren» lässt, solche treten werden, welche die Einsicht befähigen, unbefangen das Leben zu beurteilen, und dem Willen die Richtung zu solchem Handeln geben, dass Heil und Segen für die Mitmenschen entspringt. Gar mancher wird sagen, gerade am Falle Kolb zeige es sich, dass der Hinweis auf die Geisteswissenschaft überflüssig sei. Es wäre nur notwendig, dass die Leute, die sich für irgendeinen Beruf vorbereiten, ihre Theorien nicht bloß in der Studierstube lernten, sondern dass sie mit dem Leben zusammengebracht würden, dass sie neben der theoretischen auch eine praktische Anleitung erhielten. Denn sobald Kolb sich das Leben ansah, genügte doch auch das, was er gelernt hatte, um zu einer anderen Meinung zu kommen, als er früher hatte. –

Nein, es genügt nicht, weil der Mangel tiefer liegt. Wenn einer sieht, dass er mit einer mangelhaften Vorbildung nur Brücken bauen kann, die einstürzen, so hat er sich damit noch lange nicht die Fähigkeit erworben, solche zu bauen, die nicht einstürzen. Er muss sich zu letzterem erst eine wirklich fruchtbare Vorbildung aneignen. Sicherlich braucht man nichts weiter, als sich die sozialen Verhältnisse nur anzusehen, auch wenn man eine noch so unzulängliche Theorie hat über die Grundgesetze des Lebens, und man wird nicht mehr jedem gegenüber, der nicht arbeitet, sagen: «warum arbeitet der Lump nicht?». Man kann dann aus den Verhältnissen heraus verstehen, warum ein solcher nicht arbeitet. Aber hat man damit schon gelernt, wie die Verhältnisse zum Gedeihen der Menschen zu gestalten sind? Zweifellos haben alle die gutwilligen Menschen, welche ihre Pläne aufgetischt haben über Verbesserung des Menschenloses, nicht geurteilt wie der Regierungsrat Kolb vor seiner Amerikafahrt. Sie waren alle doch wohl auch vor solcher Expedition der Überzeugung, dass nicht jeder, dem es schlecht geht, abzufertigen sei mit der Phrase «warum arbeitet der Lump nicht?». Sind deshalb alle ihre sozialen Reformvorschläge fruchtbar? Nein, das können sie schon deshalb nicht sein, weil sie so vielfach einander widersprechen. Und man wird deshalb ein Recht haben, zu sagen, dass wohl auch des Regierungsrates Kolb positive Reformpläne nach seiner Bekehrung nicht sonderlich viel Wirkung haben können.

Das eben ist der Irrtum unserer Zeit in dieser Beziehung, dass sich ein jeder für befähigt hält, das Leben zu verstehen, auch wenn er sich nichts mit den Grundgesetzen des Lebens zu schaffen gemacht hat, wenn er sein Denken nicht erst geschult hat, um die wahren Kräfte des Lebens zu sehen. Und Geisteswissenschaft ist Schulung für eine gesunde Beurteilung des Lebens, weil sie dem Leben auf den Grund geht. Es hilft gar nichts, zu sehen, dass die Verhältnisse den Menschen in ungünstige Lebenslagen bringen, in denen er verkommt: man muss die Kräfte kennen lernen, durch welche günstige Verhältnisse geschaffen werden. Und das können unsere nationalökonomisch Gebildeten aus einem ähnlichen Grunde nicht, aus dem keiner rechnen kann, der nichts vom Einmaleins weiß. Stellet einen solchen vor noch so viele Zahlenreihen hin: das Anschauen wird ihm nichts nützen. Stellt den, dessen Denken nichts versteht von den Grundkräften des sozialen Lebens, vor die Wirklichkeit: er mag noch so eindringlich beschreiben, was er sieht; wie sich die sozialen Kräfte verschlingen zum Wohl oder zum Unheil der Menschen, darüber kann er doch nichts ausmachen.

In unserer Zeit ist eine Lebensauffassung notwendig, welche zu den wahren Quellen des Lebens hinführt. Und eine solche Lebensauffassung kann die Geisteswissenschaft sein. Wenn alle diejenigen, welche sich eine Meinung bilden wollen über das, was «sozial nottut», zuerst durch die Lebenslehre der Geisteswissenschaft gehen wollten, dann kämen wir weiter. –

Der Einwand, dass diejenigen, die sich der Geisteswissenschaft widmen, heute bloß «reden» und nicht «handeln», kann ebensowenig gelten, wie derjenige, dass sich ja auch die geisteswissenschaftlichen Meinungen noch nicht erprobt haben, sich also vielleicht ebenso als graue Theorie entpuppen könnten, wie die Nationalökonomie des Herrn Kolb. Der erste Einwand bedeutet aus dem Grunde nichts, weil man «handeln» selbstverständlich so lange nicht kann, als einem die Wege zum Handeln versperrt sind. Lasset einen Seelenkenner noch so gut wissen, was ein Vater tun müsse in der Erziehung seiner Kinder; er kann nicht «handeln», wenn ihn der Vater nicht zum Erzieher bestellt. In dieser Beziehung muss in Geduld gewartet werden, bis das «Reden» der geisteswissenschaftlich Arbeitenden denen, welche die Macht zum «Handeln» haben, die Einsicht gebracht hat. Und das wird geschehen.

Der andere Einwand ist nicht minder belanglos. Und er kann überhaupt nur von solchen erhoben werden, die unbekannt sind mit dem Grundwesen der geisteswissenschaftlichen Wahrheiten. Wer sie kennt, der weiß, dass sie gar nicht so zustande kommen, wie etwas, das man «ausprobiert». Die Gesetze des Menschenheiles sind nämlich ebenso sicher in die Urgrundlage der Menschenseele gelegt, wie das Einmaleins da hineingelegt ist. Man muss nur tief genug hinuntersteigen in diese Urgrundlage der menschlichen Seele. Gewiss, man kann anschaulich machen, was so eingezeichnet ist in die Seele, wie man anschaulich machen kann, dass zweimal zwei vier ist, wenn man vier Bohnen in zwei Gruppen nebeneinander legt. Aber wer wollte behaupten, dass sich die Wahrheit «Zweimal zwei ist vier» erst an den Bohnen «erproben» muss.

Es verhält sich nämlich durchaus so: wer die geisteswissenschaftliche Wahrheit bezweifelt, der hat sie noch nicht erkannt, wie nur ein solcher bezweifeln könnte, dass «zweimal zwei vier ist», der es noch nicht erkannt hat. So sehr sich auch beides unterscheidet, weil das letztere so einfach, das erstere so kompliziert ist: die Ähnlichkeit in anderer Beziehung ist doch vorhanden. –

Allerdings kann das nicht eingesehen werden, solange man nicht in die Geisteswissenschaft selbst eindringt. Deshalb kann auch für den Nichtkenner der Geisteswissenschaft kein «Beweis» für diese Tatsache erbracht werden. Man kann nur sagen: lernet die Geisteswissenschaft erst kennen, und ihr werdet auch über all das klar sein.

Der wichtige Beruf der Geisteswissenschaft in unserer Zeit wird sich zeigen, wenn sie ein Sauerteig in allem Leben geworden sein wird. Solange dieser Weg ins Leben noch nicht im vollen Sinne des Wortes betreten werden kann, sind die geisteswissenschaftlich Gesinnten erst im Anfang ihres Wirkens. Und solange werden sie wohl auch den Vorwurf hören müssen, dass ihre Lehren lebensfeindlich seien. Ja, sie sind, wie die Eisenbahn feindlich war einem Leben, das nur die Postkutsche als das «Lebenswahre» anzusehen vermochte. Sie sind so feindlich, wie die Zukunft feindlich der Vergangenheit ist.

Im folgenden soll auf einiges Besondere in dem Verhältnis von «Geisteswissenschaft und soziale Frage» eingegangen werden. –

Zwei Ansichten stehen einander gegenüber in bezug auf die «soziale Frage». Die eine sieht die Ursachen des Guten und Schlimmen im sozialen Leben mehr in den Menschen, die andere hauptsächlich in den Verhältnissen, innerhalb welcher die Menschen leben.

Die Vertreter der ersteren Meinung werden dadurch den Fortschritt fördern wollen, dass sie die geistige und physische Tüchtigkeit der Menschen und ihr moralisches Fühlen zu heben trachten; diejenigen, welche zur zweiten Anschauung neigen, werden dagegen vor allem darauf bedacht sein, die Lebenslage zu heben, denn sie sagen sich, wenn die Menschen auskömmlich leben können, dann wird ihre Tüchtigkeit und ihr sittliches Empfinden von selbst auf einen höheren Stand sich bringen. Man kann wohl kaum leugnen, dass die zweite Ansicht heute stetig an Boden gewinnt. In vielen Kreisen gilt es als der Ausdruck eines ganz rückständigen Denkens, wenn man die erstere Anschauung noch besonders betont. Es wird da gesagt: wer vom frühen Morgen bis zum späten Abend mit der bittersten Not zu kämpfen hat, der kann zu einer Entwickelung seiner geistigen und moralischen Kräfte nicht kommen. Gebet einem solchen erst Brot, bevor ihr ihm von geistigen Angelegenheiten redet.

Insbesondere einem solchen Streben wie dem geisteswissenschaftlichen gegenüber spitzt sich die letztere Behauptung leicht zu einem Vorwurfe zu. Und es sind nicht die Schlechtesten in unserer Zeit, welche dergleichen Vorwürfe erheben. Solche sagen wohl: «Der waschechte Theosoph steigt sehr ungern von den devachanischen und kamischen Ebenen auf diese Erde herab. Man kaut lieber zehn Sanskritworte, ehe man sich darüber unterrichtet, was die Grundrente ist.» So ist zu lesen in einem vor kurzem erschienenen interessanten Buche «Die kulturelle Lage Europas beim Wiedererwachen des modernen Okkultismus» von G. L. Dankmar (Leipzig, Oswald Mutze, 1905).

Naheliegend ist es, den Vorwurf in der folgenden Form zu erheben. Man weist darauf hin, dass in unserer Zeit oftmals Familien von acht Köpfen in einer einzigen Stube zusammengepfercht sind, dass solchen Luft und Licht selbst fehlen, dass sie ihre Kinder zur Schule in einem Zustande schicken müssen, so dass Schwäche und Hunger sie zusammenbrechen lassen. Dann sagt man: müssen diejenigen, welche auf den Massenfortschritt bedacht sind, nicht vor allem ihr ganzes Streben darauf verwenden, in solchen Verhältnissen Abhilfe zu schaffen? Statt ihr Denken auf die Lehren der höheren Geisteswelten sollten sie es auf die Frage lenken: wie sind die sozialen Notstände zu heben? «Steige die Theosophie aus ihrer eisigen Einsamkeit hinab unter Menschen, unter das Volk; stelle sie im Ernste und in Wahrheit die ethische Forderung der allgemeinen Brüderlichkeit an die Spitze ihres Programms, und handle sie, unbekümmert um alle Konsequenzen, danach; mache sie das Wort Christi von der Nächstenliebe zur socialen Tat und sie wird köstlich unverlierbares Menschheitseigentum werden und bleiben.» So heißt es in obengenanntem Buche weiter.

Diejenigen, welche einen solchen Einwand gegen die Geisteswissenschaft erheben, meinen es gut. Ja, es soll ihnen sogar zugestanden werden, dass sie gegenüber vielen recht haben, die sich mit den geisteswissenschaftlichen Lehren beschäftigen. Zweifellos sind unter den letzteren solche, die nur für ihre eigenen geistigen Bedürfnisse sorgen wollen, die nur etwas wissen wollen über das «höhere Leben», über das Schicksal der Seele nach dem Tode usw. –

Und man hat gewiss auch nicht unrecht, wenn man sagt, in der gegenwärtigen Zeit erscheint es nötiger, in gemeinnützigem Wirken, in den Tugenden der Nächstenliebe und Menschenwohlfahrt sich zu entfalten, als in weltfremder Einsamkeit irgendwelche in der Seele schlummernden höheren Fähigkeiten zu pflegen. Die letzteres vor allem wollen, könnten als Menschen von einer verfeinerten Selbstsucht gelten, denen das eigene Seelenwohl über den allgemeinen menschlichen Tugenden steht. –

Nicht minder kann man hören, wie darauf hingewiesen wird, dass für ein geistiges Streben, wie es das geisteswissenschaftliche ist, doch nur Menschen Interesse haben können, denen es «gut geht», und welche daher ihre «müßige Zeit» solchen Dingen widmen können. Wer aber vom Morgen bis zum Abend für elenden Lohn seine Hände rühren muss, den soll man nicht abspeisen wollen mit Redensarten von allgemeiner Menscheneinheit, von «höherem Leben» und ähnlichen Dingen. Gewiss ist, dass in der angedeuteten Richtung auch von geisteswissenschaftlich Strebenden mancherlei gesündigt wird. Aber nicht minder richtig ist, dass gut verstandenes geisteswissenschaftliches Leben den Menschen auch als Einzelnen zu den Tugenden der opferwilligen Arbeit und des gemeinnützigen Wirkens führen muss. Jedenfalls wird die Geisteswissenschaft niemand hindern können, ein ebenso guter Mensch zu sein wie andere es sind, die nichts von Geisteswissenschaft wissen oder wissen wollen. –

Aber das alles berührt ja in bezug auf die «soziale Frage» gar nicht die Hauptsache. Um zu dieser Hauptsache vorzudringen, ist eben durchaus mehr notwendig, als die Gegner des geisteswissenschaftlichen Strebens zugeben wollen. Ohne weiteres soll diesen Gegnern ja zugestanden werden, dass mit den Mitteln, welche von mancher Seite zur Verbesserung der sozialen Menschenlage vorgeschlagen werden, viel zu erreichen ist. Die eine Partei will das, die andere jenes. Mancherlei von solchen Parteiforderungen erweist sich dem klar Denkenden bald als Hirngespinst; manches aber enthält gewiss auch den allerbesten Kern.

Owen, der 1771 bis 1858 lebte, gewiss einer der edelsten Sozialreformatoren, hat immer wieder und wieder betont, dass der Mensch durch die Umgebung bestimmt werde, in welcher er aufwächst, dass des Menschen Charakter nicht durch ihn selbst gebildet werde, sondern durch die Lebensverhältnisse, in denen er gedeiht. Durchaus soll nicht das blendend Richtige bestritten werden, das solche Sätze haben. Und noch weniger sollen sie mit geringschätzigem Achselzucken behandelt werden, obgleich sie mehr oder weniger selbstverständlich sind. Vielmehr soll ohne weiteres zugestanden werden, dass vieles besser werden kann, wenn man im öffentlichen Leben sich nach solchen Erkenntnissen richtet. Deshalb wird aber auch die Geisteswissenschaft niemand hindern, sich an denjenigen Werken des Menschenfortschrittes zu beteiligen, die im Sinne solcher Erkenntnisse ein besseres Los der gedrückten und notleidenden Menschheitsklassen herbeiführen wollen.

Nur muss die Geisteswissenschaft tiefer gehen. Ein durchgreifender Fortschritt kann nämlich durch alle solche Mittel nimmermehr bewirkt werden. Wer das nicht zugibt, der hat sich niemals klar gemacht, woher die Lebensverhältnisse kommen, innerhalb welcher die Menschen sich befinden. So weit nämlich des Menschen Leben von diesen Verhältnissen abhängig ist, sind diese selbst von Menschen bewirkt. Oder wer hat denn die Einrichtungen getroffen, durch die der eine arm, der andere reich ist? Doch andere Menschen. Das ändert doch wahrlich nichts an dieser Sachlage, dass diese «anderen Menschen» zumeist von denen gelebt haben, die unter den Verhältnissen gedeihen oder nicht gedeihen. Die Leiden, die dem Menschen die Natur selbst auferlegt, kommen für die soziale Lage doch nur mittelbar in Betracht. Diese Leiden müssen eben durch das menschliche Handeln gelindert, oder ganz beseitigt werden. Geschieht das nicht, was in dieser Richtung notwendig ist, so fehlt es also doch nur an den menschlichen Einrichtungen. –

Ein gründliches Erkennen der Dinge lehrt, dass alle Übel, von denen mit Recht als von sozialen gesprochen werden kann, auch von den menschlichen Taten herrühren. Gewiss ist in dieser Beziehung nicht der einzelne Mensch, sicher aber die ganze Menschheit der «Schmied des eigenen Glückes».

So gewiss aber dieses ist, so wahr ist auch, dass in größerem Umfange kein beträchtlicher Teil der Menschheit, keine Kaste oder Klasse das Leid eines anderen Teiles in böswilliger Absicht bewirkt. Alles, was in dieser Richtung behauptet wird, beruht auf bloßem Mangel an Einsicht. Trotzdem auch dies eigentlich eine selbstverständliche Wahrheit ist, muss sie doch ausgesprochen werden. Denn wenn auch solche Dinge mit dem Verstande leicht durchschaut werden, so verhält man sich doch im praktischen Leben nicht in ihrem Sinne. Jedem Ausbeuter seiner Mitmenschen wäre natürlich das liebste, wenn die Opfer seiner Ausbeutung nicht zu leiden hätten. Man käme weit, wenn man das nicht bloß selbstverständlich fände, sondern auch seine Empfindungen und Gefühle darnach einrichtete.

Ja, aber was soll man mit solchen Behauptungen anfangen? So wird zweifellos mancher «sozial Denkende» einwenden. Soll etwa gar der Ausgebeutete dem Ausbeuter mit wohlwollenden Gefühlen gegenüberstehen? Ist es nicht zu begreiflich, wenn der erstere den letzteren hasst und aus dem Hasse heraus zu seiner Parteistellung geführt wird? Es wäre doch wahrlich ein schlechtes Rezept – so wird man weiter einwenden –, wenn der Bedrückte dem Bedrücker gegenüber an die Menschenliebe gemahnt würde, etwa im Sinne des Satzes vom großen Buddha: «Hass wird nicht durch Hass, sondern allein durch Liebe überwunden.»

Dennoch führt die Erkenntnis, die an diesen Punkt anknüpft, allein in der gegenwärtigen Zeit zu einem wirklichen «sozialen Denken». Und hier ist es eben, wo geisteswissenschaftliche Gesinnung einsetzt. Diese kann nämlich nicht an der Oberfläche des Verständnisses haften, sondern muss in die Tiefe dringen. Deshalb kann sie nicht dabei stehen bleiben, zu zeigen, dass durch diese oder jene Verhältnisse Elend geschaffen wird, sondern sie muss zu der allein fruchtbaren Erkenntnis vordringen, wodurch diese Verhältnisse geschaffen worden sind und noch fortwährend geschaffen werden. Und gegenüber diesen tieferen Fragen erweisen sich die meisten sozialen Theorien eben nur als «graue Theorien», wenn nicht gar als bloße Redensarten.

Solange man mit seinem Denken an der Oberfläche bleibt, solange schreibt man den Verhältnissen, überhaupt dem Äußerlichen eine ganz falsche Macht zu. Diese Verhältnisse sind nämlich nur der Ausdruck eines inneren Lebens. Und so wie nur derjenige den menschlichen Körper versteht, der weiß, dass dieser der Ausdruck der Seele ist, so kann auch nur derjenige die äußeren Einrichtungen im Leben richtig beurteilen, der sich klar macht, dass diese nichts anderes sind als das Geschöpf der Menschenseelen, die ihre Empfindungen, Gesinnungen und Gedanken darin verkörpern. Die Verhältnisse, in denen man lebt, sind von den Mitmenschen geschaffen; und man wird niemals selbst bessere schaffen, wenn man nicht von anderen Gedanken, Gesinnungen und Empfindungen ausgeht, als jene Schöpfer hatten.

Man betrachte solche Dinge im einzelnen. Äußerlich wird leicht derjenige als Bedrücker erscheinen, der einen prunkvollen Haushalt führen, in der Eisenbahn die erste Klasse benützen kann usw. Und als der Bedrückte wird erscheinen, wer einen schlechten Rock tragen und vierter Klasse fahren muss. Man braucht aber kein mitleidloses Individuum, auch kein Reaktionär oder dergleichen zu sein, um mit klarem Denken doch das folgende zu verstehen. Niemand wird dadurch bedrückt und ausgebeutet, dass ich diesen oder jenen Rock trage, sondern allein dadurch, dass ich den Arbeiter, der für mich den Rock anfertigt, zu wenig entlohne. Der arme Arbeiter, der sich seinen schlechten Rock für weniges Geld erwirbt, ist nun gegenüber seinem Mitmenschen in dieser Beziehung in genau der gleichen Lage wie der Reiche, der sich den besseren Rock machen lässt.

Ob ich arm bin oder reich: ich beute aus, wenn ich Dinge erwerbe, die nicht genügend bezahlt werden. Eigentlich dürfte heute keiner irgendeinen andern einen Bedrücker nennen, denn er sehe sich nur einmal selbst an. Tut er das letztere genau, so wird er in sich bald auch den «Bedrücker» entdecken. Wird denn die Arbeit, die du an den Wohlhabenden liefern musst, nur an diesen zu dem schlechten Lohn geliefert? Nein, derjenige, der neben dir sitzt, und mit dir über Bedrückung klagt, verschafft sich deiner Hände Arbeit zu genau den gleichen Bedingungen wie der Wohlhabende, gegen den ihr euch beide wendet. Man denke das einmal durch, und man wird andere Anhaltpunkte zu «sozialem Denken» finden, als die gebräuchlichen sind.

Man wird vor allem durch ein in dieser Richtung gehendes Nachdenken darüber klar werden, dass man die Begriffe «Reich» und «Ausbeuter» vollkommen trennen muss. Ob man heute reich oder arm ist, das hängt von der persönlichen Tüchtigkeit oder von derjenigen seiner Vorfahren ab, oder von ganz anderen Dingen. Dass man Ausbeuter der Arbeitskraft anderer ist, das aber hat gar nichts mit diesen Dingen zu tun. Wenigstens nicht unmittelbar. Aber mit anderem hat es sehr viel zu tun.

Nämlich damit, dass unsere Einrichtungen oder die uns umgebenden Verhältnisse auf den persönlichen Eigennutz aufgebaut sind. Man muss darüber ganz klar denken, sonst wird man zu der verkehrtesten Auffassung dessen kommen, was gesagt wird. Wenn ich heute einen Rock erwerbe, so erscheint es, nach den bestehenden Verhältnissen, ganz natürlich, dass ich ihn so billig wie nur möglich erwerbe. Das heißt: ich habe dabei nur mich im Auge. Damit ist aber der Gesichtspunkt angedeutet, welcher unser ganzes Leben beherrscht.

Nun wird man leicht mit einem Einwande zur Stelle sein können. Man kann sagen: bestreben sich denn nicht eben die sozial denkenden Parteien und Persönlichkeiten, diesem Übel abzuhelfen? Bemüht man sich nicht, die «Arbeit» zu schützen? Fordern nicht die arbeitenden Klassen und ihre Vertreter Lohnverbesserungen und Arbeitszeiteinschränkungen? Schon oben ist gesagt worden, dass von dem Standpunkte der Gegenwart auch nicht das geringste gegen solche Forderungen und Maßnahmen eingewendet werden soll. Natürlich soll damit auch nicht irgendeiner der bestehenden Parteiforderungen das Wort geredet werden. Im einzelnen kommt von dem Gesichtspunkte aus, um den es sich hier handelt, keine Parteinahme, weder «für» noch «gegen» in Betracht. Solches liegt zunächst ganz außerhalb der geisteswissenschaftlichen Betrachtungsweise.

Man mag noch so viele Verbesserungen zum Schutze irgendeiner Arbeitsklasse einführen, und damit gewiss viel zur Hebung der Lebenslage dieser oder jener Menschengruppe beitragen:

Das Wesen der Ausbeutung wird dadurch nicht gemildert. Denn dieses hängt davon ab, dass ein Mensch unter dem Gesichtspunkt des Eigennutzes sich die Arbeitsprodukte des anderen erwirbt.

Ob ich viel oder wenig habe: bediene ich mich dessen, was ich habe zur Befriedigung meines Eigennutzes, so muss dadurch der andere ausgebeutet werden. Selbst wenn ich bei Aufrechterhaltung dieses Gesichtspunktes seine Arbeit schütze, so ist damit nur scheinbar etwas getan. Bezahle ich die Arbeit des anderen teurer, so muss er dafür auch die meine teurer bezahlen, wenn nicht durch die Besserstellung des einen die Schlechterstellung des anderen bewirkt werden soll.

Ein anderes Beispiel soll zur Erläuterung hier angeführt werden. Wenn ich eine Fabrik kaufe, um durch dieselbe möglichst viel für mich zu erwerben, so werde ich sehen, die Arbeitskräfte so billig wie nur möglich zu erhalten usw. Alles, was geschieht, wird unter dem Gesichtspunkt des persönlichen Eigennutzes stehen. – Kaufe ich dagegen die Fabrik mit dem Gesichtspunkte, zweihundert Menschen möglichst gut zu versorgen, so werden alle meine Maßnahmen eine andere Färbung annehmen. –

Praktisch wird sich heute gewiss der zweite Fall von dem ersten nicht gerade viel unterscheiden können. Das hängt aber lediglich daran, dass der einzelne Selbstlose nicht allzu viel vermag innerhalb einer Gemeinschaft, die im übrigen auf den Eigennutz aufgebaut ist. Ganz anders aber würde sich die Sache stellen, wenn die uneigennützige Arbeit eine allgemeine wäre.

Ein «praktisch» Denkender wird natürlich meinen, dass durch die bloße «gute Gesinnung» sich doch niemand die Möglichkeit verschaffen könne, seinen Arbeitern zu besseren Lohnverhältnissen zu verhelfen. Denn man steigere doch durch Wohlwollen nicht das Erträgnis für seine Waren, und ohne das könne man auch für den Arbeiter keine besseren Bedingungen schaffen. –

Und gerade darauf kommt es an, einzusehen, dass dieser Einwand ein vollkommener Irrtum ist. Alle Interessen und damit alle Lebensverhältnisse ändern sich, wenn man bei der Erwerbung einer Sache nicht mehr sich, sondern die anderen im Auge hat. Auf was muss jemand sehen, der nur seinem Eigenwohle dienen kann? Doch darauf, dass er möglichst viel erwerbe. Wie die anderen arbeiten müssen, um seine Bedürfnisse zu befriedigen, darauf kann er keine Rücksicht nehmen. Er muss also dadurch seine Kräfte im Kampfe ums Dasein entfalten. Begründe ich eine Unternehmung, die mir möglichst viel einbringen soll, so frage ich nicht, auf welche Art die Arbeitskräfte in Bewegung gesetzt werden, die für mich arbeiten. Komme ich aber gar nicht in Frage, sondern nur der Gesichtspunkt: wie dient meine Arbeit den anderen? so ändert sich alles. Nichts nötigt mich dann, irgend etwas zu unternehmen, was einem anderen abträglich sein kann. Ich stelle dann meine Kräfte nicht in meinen Dienst, sondern in den der anderen. Und das hat eine ganz andere Entfaltung der Kräfte und Fähigkeiten der Menschen zur Folge. Wie das die Lebensverhältnisse praktisch ändert, davon im Schluss des Aufsatzes. –

Robert Owen darf in einem gewissen Sinne als ein Genie der praktischen sozialen Wirksamkeit bezeichnet werden. Zwei Eigenschaften waren bei ihm vorhanden, welche diese Bezeichnung wohl rechtfertigen mögen: ein umsichtiger Blick für sozialnützliche Einrichtungen und eine edle Menschenliebe. Man braucht nur zu betrachten, was er durch diese beiden Fähigkeiten zustande gebracht hat, um deren ganze Bedeutung richtig zu würdigen. Er schuf in New Lanark mustervolle industrielle Einrichtungen, und beschäftigte die Arbeiter dabei in einer Weise, dass sie nicht nur ein menschenwürdiges Dasein in materieller Beziehung hatten, sondern dass sie auch innerhalb moralisch befriedigender Verhältnisse lebten. Die Personen, welche da zusammengebracht wurden, waren zum Teil herabgekommen, dem Trunk ergeben. Er stellte bessere Elemente zwischen solche ein, die durch ihr Beispiel auf die andern wirkten. Und so wurden die denkbar günstigsten Ergebnisse zustande gebracht. Was Owen da gelang, macht es unmöglich, ihn mit anderen mehr oder weniger phantastischen «Weltverbesserern» – sogenannten Utopisten – auf eine Stufe zu stellen. Er hielt sich eben im Rahmen praktisch ausführbarer Einrichtungen, von denen auch jeder aller Träumerei abgeneigte Mensch voraussetzen kann, dass sie zunächst auf einem gewissen beschränkten Gebiete das menschliche Elend aus der Welt schaffen würden. Auch ist es nicht unpraktisch gedacht, wenn man den Glauben hegt, dass solch ein kleines Gebiet als Muster wirken und von ihm allmählich eine gesunde Entwickelung des Menschenloses in sozialer Richtung angeregt werden könnte.

Owen selbst dachte wohl so. Deshalb wagte er sich auf der betretenen Bahn noch einen weiteren Schritt vorwärts. Im Jahre 1824 ging er daran, im Gebiete Indiana in Nordamerika eine Art kleinen Musterstaates zu schaffen. Er erwarb ein Landgebiet, auf dem er eine auf Freiheit und Gleichheit gebaute menschliche Gemeinschaft begründen wollte. Alle Einrichtungen wurden so getroffen, dass Ausbeutung und Knechtung Unmöglichkeit waren. Wer an eine solche Aufgabe herantritt, muss die schönsten sozialen Tugenden mitbringen: die Sehnsucht, seine Mitmenschen glücklich zu machen, und den Glauben an die Güte der Menschennatur. Er muss der Ansicht sein, dass sich ganz von selbst innerhalb dieser Menschennatur die Lust zu arbeiten entwickeln werde, wenn der Segen dieser Arbeit durch entsprechende Einrichtungen gesichert erscheint.

In Owen war dieser Glaube so stark vorhanden, dass es schon recht schlimme Erfahrungen sein mussten, die ihn in demselben wankend werden ließen.

Und – diese schlimmen Erfahrungen traten wirklich ein. Owen musste nach langen edlen Bemühungen zu dem Bekenntnis kommen, dass «man mit der Verwirklichung solcher Kolonien stets scheitern müsse, wenn man nicht vorher die allgemeine Sitte umgewandelt; und dass es mehr wert wäre, auf die Menschheit auf dem theoretischen Wege einzuwirken, als auf dem der Praxis». –

Zu solcher Meinung ist dieser Sozialreformer durch die Tatsache gedrängt worden, dass sich Arbeitsunlustige genug fanden, welche die Arbeit auf ihre Mitmenschen abladen wollten, wodurch Streit, Kampf und zuletzt der Bankerott der Kolonie folgen mussten.

Owens Erfahrung kann lehrreich sein für alle, die wirklich lernen wollen. Sie kann hinüberleiten von allen künstlich geschaffenen und künstlich ausgedachten Einrichtungen zum Heile der Menschheit zu fruchtbarer, mit der wahren Wirklichkeit rechnenden sozialen Arbeit.

Gründlich geheilt konnte Owen sein durch seine Erfahrung von dem Glauben, dass alles Menschenelend nur bewirkt werde durch die «schlechten Einrichtungen», in denen die Menschen leben, und dass die Güte der Menschennatur schon von selbst zutage treten werde, wenn man diese Einrichtungen verbessert. Er musste sich davon überzeugen, dass gute Einrichtungen überhaupt nur aufrecht zu erhalten sind, wenn die daran beteiligten Menschen ihrer inneren Natur nach dazu geneigt sind, sie zu erhalten, wenn diese mit warmem Anteile an ihnen hängen.

Man könnte nun zunächst daran denken, es sei notwendig, die Menschen, denen man solche Einrichtungen verschaffen will, theoretisch darauf vorzubereiten. Etwa dadurch, dass man ihnen das Richtige und Zweckentsprechende der Maßnahmen klar machte. Es liegt für einen Unbefangenen gar nicht so ferne, aus Owens Bekenntnis so etwas herauszulesen. Und dennoch kann man zu einem wirklich praktischen Ergebnis nur dadurch gelangen, dass man tiefer in die Sache eindringt. Man muss von dem bloßen Glauben an die Güte der Menschennatur, der Owen getäuscht hat, zu wirklicher Menschenkenntnis vorschreiten. –

Alle Klarheit, welche die Menschen jemals darüber sich aneignen könnten, dass irgendwelche Einrichtungen zweckmäßig sind und der Menschheit zum Segen gereichen können – alle solche Klarheit kann auf die Dauer nicht zum gewünschten Ziele führen. Denn durch solch eine klare Einsicht wird der Mensch nicht die inneren Antriebe zur Arbeit gewinnen können, wenn auf der anderen Seite sich bei ihm die im Egoismus begründeten Triebe geltend machen. Dieser Egoismus ist einmal zunächst ein Teil der Menschennatur. Und das führt dazu, dass er sich im Gefühl des Menschen regt, wenn dieser innerhalb der Gesellschaft mit anderen zusammen leben und arbeiten soll. Mit einer gewissen Notwendigkeit führt dies dazu, dass in der Praxis die meisten eine solche gesellschaftliche Einrichtung für die beste halten werden, durch welche der einzelne seine Bedürfnisse am besten befriedigen kann. So bildet sich unter dem Einfluss der egoistischen Gefühle ganz naturgemäß die soziale Frage in der Form heraus: welche gesellschaftlichen Einrichtungen müssen getroffen werden, damit ein jeder für sich das Erträgnis seiner Arbeit haben kann? Und besonders in unserer materialistisch denkenden Zeit rechnen nur wenige mit einer anderen Voraussetzung. Wie oft kann man es wie eine selbstverständliche Wahrheit aussprechen hören, dass eine soziale Ordnung ein Unding sei, welche auf Wohlwollen und Menschenmitgefühl sich aufbauen will. Man rechnet vielmehr damit, dass das Ganze einer menschlichen Gemeinschaft am besten gedeihen könne, wenn der einzelne den «vollen» oder den größtmöglichen Ertrag seiner Arbeit auch einheimsen kann.

Genau das Gegenteil davon lehrt nun der Okkultismus, der auf eine tiefere Erkenntnis des Menschen und der Welt begründet ist.

Er zeigt gerade, dass alles menschliche Elend lediglich eine Folge des Egoismus ist, und dass in einer Menschengemeinschaft ganz notwendig zu irgendeiner Zeit Elend, Armut und Not sich einstellen müssen, wenn diese Gemeinschaft in irgendeiner Art auf dem Egoismus beruht. Um das einzusehen, dazu gehören allerdings tiefere Erkenntnisse, als es diejenigen sind, welche da und dort unter der Flagge der sozialen Wissenschaft segeln. Diese «soziale Wissenschaft» rechnet eben nur mit der Außenseite des Menschenlebens, nicht aber mit den tiefer liegenden Kräften desselben. Ja, es ist sogar sehr schwierig, bei der Mehrzahl der gegenwärtigen Menschen in ihnen auch nur ein Gefühl davon zu erwecken, dass von solchen tiefer liegenden Kräften die Rede sein könne. Sie betrachten denjenigen als einen unpraktischen Phantasten, der ihnen mit solchen Dingen irgendwie kommt. Nun kann aber auch hier gar nicht einmal der Versuch gemacht werden, eine auf tiefer liegende Kräfte gebaute soziale Theorie zu entwickeln. Denn dazu wäre ein ausführliches Werk nötig. Nur eines kann geleistet werden:

auf die wahren Gesetze des menschlichen Zusammenarbeitens kann hingewiesen und gezeigt werden, welche vernünftigen sozialen Erwägungen sich für den Kenner dieser Gesetze ergeben.

Das volle Verständnis der Sache kann nur derjenige gewinnen, welcher sich eine auf den Okkultismus begründete Weltauffassung erwirbt. Und auf die Vermittelung einer solchen Weltauffassung arbeitet ja diese ganze Zeitschrift hin. Man kann sie nicht von einem einzelnen Aufsatz über die «soziale Frage» erwarten. Alles, was dieser sich zur Aufgabe machen kann, ist, vom okkulten Standpunkte aus ein Schlaglicht zu werfen auf diese Frage. Es wird ja immerhin Personen geben, welche das gefühlsmäßig in seiner Richtigkeit erkennen, was in aller Kürze vorgebracht werden soll, und welches unmöglich in aller Ausführlichkeit dargelegt werden kann.

Nun, das soziale Hauptgesetz, welches durch den Okkultismus aufgewiesen wird, ist das folgende:

«Das Heil einer Gesamtheit von zusammenarbeitenden Menschen ist um so größer, je weniger der einzelne die Erträgnisse seiner Leistungen für sich beansprucht, das heißt, je mehr er von diesen Erträgnissen an seine Mitarbeiter abgibt, und je mehr seine eigenen Bedürfnisse nicht aus seinen Leistungen, sondern aus den Leistungen der anderen befriedigt werden.» Alle Einrichtungen innerhalb einer Gesamtheit von Menschen, welche diesem Gesetz widersprechen, müssen bei längerer Dauer irgendwo Elend und Not erzeugen.

Dieses Hauptgesetz gilt für das soziale Leben mit einer solchen Ausschließlichkeit und Notwendigkeit, wie nur irgendein Naturgesetz in bezug auf irgendein gewisses Gebiet von Naturwirkungen gilt.

Man darf aber nicht denken, dass es genüge, wenn man dieses Gesetz als ein allgemeines moralisches gelten lässt oder es etwa in die Gesinnung umsetzen wollte, dass ein jeder im Dienste seiner Mitmenschen arbeite. Nein, in der Wirklichkeit lebt das Gesetz nur so, wie es leben soll, wenn es einer Gesamtheit von Menschen gelingt, solche Einrichtungen zu schaffen, dass niemals jemand die Früchte seiner eigenen Arbeit für sich selber in Anspruch nehmen kann, sondern doch diese möglichst ohne Rest der Gesamtheit zugute kommen. Er selbst muss dafür wiederum durch die Arbeit seiner Mitmenschen erhalten werden.

Worauf es also ankommt, das ist, dass für die Mitmenschen arbeiten und ein gewisses Einkommen erzielen zwei voneinander ganz getrennte Dinge seien.

Diejenigen, welche sich einbilden, «praktische Menschen» zu sein, werden – darüber gibt sich der Okkultist keiner Täuschung hin – über diesen «haarsträubenden Idealismus» nur ein Lächeln haben. Und dennoch ist das obige Gesetz praktischer als nur irgendein anderes, das jemals von «Praktikern» ausgedacht oder in die Wirklichkeit eingeführt worden ist.

Wer nämlich das Leben wirklich untersucht, der kann finden, dass eine jede Menschengemeinschaft, die irgendwo existiert, oder die nur jemals existiert hat, zweierlei Einrichtungen hat. Der eine dieser beiden Teile entspricht diesem Gesetze, der andere widerspricht ihm. So muss es nämlich überall kommen, ganz gleichgültig, ob die Menschen wollen oder nicht. Jede Gesamtheit zerfiele nämlich sofort, wenn nicht die Arbeit der einzelnen dem Ganzen zufließen würde. Aber der menschliche Egoismus hat auch von jeher dieses Gesetz durchkreuzt. Er hat für den einzelnen möglichst viel aus seiner Arbeit herauszuschlagen gesucht. Und nur dasjenige, was auf diese Art aus dem Egoismus hervorgegangen ist, hat von jeher Not, Armut und Elend zur Folge gehabt. Das heißt aber doch nichts anderes, als dass immer derjenige Teil der menschlichen Einrichtungen sich als unpraktisch erweisen muss, der von den «Praktikern» auf die Art zustande gebracht wird, dass dabei entweder mit dem eigenen oder dem fremden Egoismus gerechnet wird.

Nun kann es sich aber natürlich nicht bloß darum handeln, dass man ein solches Gesetz einsieht, sondern die wirkliche Praxis beginnt mit der Frage: wie kann man es in die Wirklichkeit umsetzen? Es ist klar, dass dieses Gesetz nichts Geringeres besagt als dieses:

Die Menschenwohlfahrt ist um so größer, je geringer der Egoismus ist.

Man ist also bei der Umsetzung in die Wirklichkeit darauf angewiesen, dass man es mit Menschen zu tun habe, die den Weg aus dem Egoismus herausfinden.

Das ist aber praktisch ganz unmöglich, wenn das Maß von Wohl und Wehe des einzelnen sich nach seiner Arbeit bestimmt. Wer für sich arbeitet, muss allmählich dem Egoismus verfallen. Nur wer ganz für die anderen arbeitet, kann nach und nach ein unegoistischer Arbeiter werden.

Dazu ist aber eine Voraussetzung notwendig. Wenn ein Mensch für einen anderen arbeitet, dann muss er in diesem anderen den Grund zu seiner Arbeit finden; und wenn jemand für die Gesamtheit arbeiten soll, dann muss er den Wert, die Wesenheit und Bedeutung dieser Gesamtheit empfinden und fühlen. Das kann er nur dann, wenn die Gesamtheit noch etwas ganz anderes ist als eine mehr oder weniger unbestimmte Summe von einzelnen Menschen. Sie muss von einem wirkliehen Geiste erfüllt sein, an dem ein jeder Anteil nimmt. Sie muss so sein, dass ein jeder sich sagt: sie ist richtig, und ich will, dass sie so ist.

Die Gesamtheit muss eine geistige Mission haben; und jeder einzelne muss beitragen wollen, dass diese Mission erfüllt werde.

All die unbestimmten, abstrakten Fortschrittsideen, von denen man gewöhnlich redet, können eine solche Mission nicht darstellen. Wenn nur sie herrschen, so wird ein einzelner da, oder eine Gruppe dort arbeiten, ohne dass diese übersehen, wozu sonst ihre Arbeit etwas nütze ist, als dass sie und die Ihrigen, oder etwa noch die Interessen, an denen gerade sie hängen, dabei ihre Rechnung finden. – Bis in den einzelsten herunter muss dieser Geist der Gesamtheit lebendig sein.

Gutes ist von jeher nur dort gediehen, wo in irgendeiner Art ein solches Leben des Gesamtgeistes erfüllt war. Der einzelne Bürger einer griechischen Stadt des Altertums, ja auch derjenige einer freien Stadt im Mittelalter hatte so etwas wie wenigstens ein dunkles Gefühl von einem solchen Gesamtgeist. Es ist kein Einwand dagegen, dass zum Beispiel die entsprechenden Einrichtungen im alten Griechenland nur möglich waren, weil man ein Heer von Sklaven hatte, welche für die «freien Bürger» die Arbeit verrichteten und die dazu nicht von dem Gesamtgeist, sondern durch den Zwang ihrer Herren getrieben worden sind. –

An diesem Beispiele kann man nur das eine lernen, dass das Menschenleben der Entwicklung unterliegt. Gegenwärtig ist die Menschheit eben auf einer Stufe angelangt, wo eine solche Lösung der Gesellschaftsfrage, wie sie im alten Griechenland herrschte, unmöglich ist. Selbst den edelsten Griechen galt die Sklaverei nicht als ein Unrecht, sondern als eine menschliche Notwendigkeit. Deshalb konnte zum Beispiel der große Plato ein Staatsideal aufstellen, in dem der Gesamtgeist dadurch in Erfüllung geht, dass die Mehrzahl der Arbeitsmenschen von den wenigen Einsichtsvollen zur Arbeit gezwungen werde. Die Aufgabe der Gegenwart aber ist, die Menschen in eine solche Lage zu bringen, dass ein jeder aus seinem innersten Antriebe heraus die Arbeit für die Gesamtheit leistet.

Deshalb soll niemand daran denken, eine für alle Zeiten gültige Lösung der sozialen Frage zu suchen, sondern lediglich daran, wie sich sein soziales Denken und Wirken mit Rücksicht auf die unmittelbaren Bedürfnisse der Gegenwart gestalten muss, in welcher er lebt. –

Es kann überhaupt kein einzelner heute irgend etwas theoretisch ausdenken oder in die Wirklichkeit umsetzen, was als solches die soziale Frage lösen könnte. Dazu müsste er die Macht haben, eine Anzahl von Menschen in die von ihm geschaffenen Verhältnisse hineinzuzwingen. Es kann ja gar kein Zweifel darüber bestehen: hätte Owen die Macht oder den Willen gehabt, all die Menschen seiner Kolonie zu der ihnen zukommenden Arbeit zu zwingen, dann hätte die Sache gehen müssen.

Aber um solchen Zwang kann es sich gerade in der Gegenwart nicht handeln.

Es muss die Möglichkeit herbeigeführt werden, dass ein jeder freiwillig tut, wozu er berufen ist nach dem Maß seiner Fähigkeiten und Kräfte. Aber gerade deshalb kann es sich nie und nimmer darum handeln, dass im Sinne des oben angeführten Owenschen Bekenntnisses so auf die Menschen «im theoretischen Sinne» einzuwirken sei, dass ihnen eine bloße Ansicht darüber vermittelt werde, wie sich die ökonomischen Verhältnisse am besten einrichten lassen. Eine nüchterne ökonomische Theorie kann niemals ein Antrieb gegen die egoistischen Mächte sein. Eine Zeitlang vermag eine solche ökonomische Theorie den Massen einen gewissen Schwung zu verleihen, der dem Scheine nach einem Idealismus ähnlich ist. Auf die Dauer aber kann eine solche Theorie niemandem nützen. Wer einer Menschenmasse eine solche Theorie einimpft, ohne ihr etwas anderes wirklich Geistiges zu geben, der versündigt sich an dem wahren Sinn der menschlichen Entwickelung.

Das, was allein helfen kann, ist eine geistige Weltanschauung, welche durch sich selbst, durch das, was sie zu bieten vermag, sich in die Gedanken, in die Gefühle, in den Willen, kurz in die ganze Seele des Menschen einlebt. Der Glaube, den Owen gehabt hat an die Güte der Menschennatur, ist nur teilweise richtig, zum anderen Teile ist er aber eine der ärgsten Illusionen. Er ist insofern richtig, als in jedem Menschen ein «höheres Selbst» schlummert, das erweckt werden kann. Aber es kann aus seinem Schlummer nur erlöst werden durch eine Weltauffassung, welche die oben genannten Eigenschaften hat. Bringt man Menschen in Einrichtungen, wie sie von Owen erdacht waren, dann wird die Gemeinschaft im schönsten Sinne gedeihen. Führt man aber Menschen zusammen, die eine solche Weltauffassung nicht haben, dann wird das Gute der Einrichtungen sich ganz notwendig nach einer kürzeren oder längeren Zeit zum Schlechten verkehren müssen. Bei Menschen ohne eine auf den Geist sich richtende Weltauffassung müssen nämlich notwendig gerade diejenigen Einrichtungen, welche den materiellen Wohlstand befördern, auch eine Steigerung des Egoismus bewirken, und damit nach und nach Not, Elend und Armut erzeugen. –

Es ist eben in des Wortes ureigenster Bedeutung richtig:

nur dem einzelnen kann man helfen, wenn man ihm bloß Brot verschafft; einer Gesamtheit kann man nur dadurch Brot verschaffen, dass man ihr zu einer Weltauffassung verhilft.

Es würde nämlich auch das gar nichts nützen, wenn man von einer Gesamtheit jedem einzelnen Brot verschaffen wollte. Nach einiger Zeit müsste sich dann doch die Sache so gestalten, dass viele wieder kein Brot haben.

Die Erkenntnis dieser Grundsätze nimmt allerdings gewissen Leuten, die sich zu Volksbeglückern aufwerfen möchten, manche Illusion. Denn sie macht das Arbeiten am sozialen Wohle zu einer recht schwierigen Sache. Und noch dazu zu einer solchen, in der sich die Erfolge unter gewissen Verhältnissen nur aus ganz kleinen Teilerfolgen zusammensetzen lassen. Das meiste von dem, was heute ganze Parteien als Heilmittel im sozialen Leben ausgeben, verliert seinen Wert, erweist sich als eitel Täuschung und Reden, ohne genügende Kenntnis des Menschenlebens. Kein Parlament, keine Demokratie, keine Massenagitation, nichts von alledem kann für den tiefer Blickenden eine Bedeutung haben, wenn es das oben ausgesprochene Gesetz verletzt. Und alles Derartige kann dann günstig wirken, wenn es sich im Sinne dieses Gesetzes verhält.

Es ist eine schlimme Illusion, zu glauben, dass irgendwelche Abgeordnete eines Volkes in irgendeinem Parlamente etwas beitragen können zum Heile der Menschheit, wenn ihr Wirken nicht im Sinne des sozialen Hauptgesetzes eingerichtet ist.

Wo immer dieses Gesetz in die Erscheinung tritt, wo immer jemand in seinem Sinne wirkt, soweit es ihm möglich ist auf dem Platze, auf den er in der Menschengemeinschaft gestellt ist: da wird Gutes erzielt, und wenn es im einzelnen Falle auch in einem noch so geringen Maße der Fall ist. Und nur aus Einzelwirkungen, welche auf solche Art zustande kommen, setzt sich ein heilsamer sozialer Gesamtfortschritt zusammen. –

Allerdings kommt es auch vor, dass in einzelnen Fällen größere Menschengemeinschaften eine besondere Anlage dazu besitzen, mit ihrer Hilfe in der angedeuteten Richtung einen größeren Erfolg auf einmal zu erzielen. Es gibt auch jetzt schon bestimmte Menschengemeinschaften, in deren Anlagen sich dergleichen vorbereitet. Sie werden es möglich machen, dass mit ihrer Hilfe die Menschheit gleichsam einen Ruck, einen Sprung in sozialer Entwickelung vollbringt. Dem Okkultismus sind solche Menschengemeinschaften bekannt; es kann aber nicht seine Aufgabe sein, über derlei Dinge öffentlich zu sprechen. –

Und es gibt ja auch Mittel, größere Menschenmassen zu einem solchen Sprung, der wohl gar in absehbarer Zeit gemacht werden kann, vorzubereiten. Was aber jeder tun kann, das ist, im Sinne obigen Gesetzes in seinem Bereiche zu wirken. Es gibt keine Stellung eines Menschen in der Welt, innerhalb welcher man das nicht kann: sie möge anscheinend noch so unbedeutend oder noch so einflussreich sein.

Das Wichtigste ist ja allerdings, dass ein jeglicher die Wege sucht zu einer Weltauffassung, die sich auf wahre Erkenntnis des Geistes richtet. Die anthroposophische Geistesrichtung kann sich zu einer solchen Auffassung für alle Menschen herausbilden, wenn sie sich immer mehr in der Art ausgestaltet, wie es ihrem Inhalte und den in ihr vorhandenen Anlagen entspricht. Durch sie kann der Mensch erfahren, dass er nicht zufällig an irgendeinem Orte und zu irgendeiner Zeit geboren ist, sondern dass er durch das geistige Ursachengesetz, das Karma, mit Notwendigkeit an den Ort hingestellt ist, an dem er sich befindet. Er kann einsehen, dass ihn sein wohlbegründetes Schicksal in die Menschengemeinschaft hineingestellt hat, innerhalb welcher er ist. Auch von seinen Fähigkeiten kann er gewahr werden, dass sie ihm nicht durch ein blindes Ohngefähr zugefallen sind, sondern dass sie einen Sinn haben innerhalb des Ursachengesetzes.

Und er kann das alles so einsehen, dass diese Einsicht nicht eine bloße nüchterne Vernunftsache bleibt, sondern dass sie allmählich seine ganze Seele mit innerem Leben erfüllt.

Es wird ihm das Gefühl davon aufgehen, dass er einen höheren Sinn erfüllt, wenn er im Sinne seines Platzes in der Welt und im Sinne seiner Fähigkeiten arbeitet. Kein schattenhafter Idealismus wird aus dieser Einsicht folgen, sondern ein mächtiger Impuls aller seiner Kräfte, und er wird dieses Handeln in solcher Richtung als etwas so Selbstverständliches ansehen, wie in einer anderen Beziehung Essen und Trinken. Und ferner wird er den Sinn erkennen, welcher mit der Menschengemeinschaft verbunden ist, welcher er angehört. Er wird die Verhältnisse begreifen, in denen seine Menschengemeinschaft sich zu anderen stellt; und so werden sich die Einzelgeister dieser Gemeinschaften zusammenfügen zu einem geistig-zielvollen Bilde von der einheitlichen Mission des ganzen Menschengeschlechtes. Und von dem Menschengeschlecht wird seine Erkenntnis hinüberschweifen können zu dem Sinne des ganzen Erdendaseins. Nur wer sich nicht auf die in dieser Richtung angedeutete Weltauffassung einlässt, kann Zweifel daran hegen, dass sie so wirken muss, wie hier angegeben wird.

In heutiger Zeit ist freilich bei den meisten Menschen wenig Neigung vorhanden, sich auf so etwas einzulassen. Aber es kann nicht ausbleiben, dass die richtige geisteswissenschaftliche Vorstellungsart immer weitere Kreise zieht. Und in dem Maße, als sie das tut, werden die Menschen das Richtige treffen, um den sozialen Fortschritt zu bewirken. Man kann nicht aus dem Grunde daran Zweifel hegen, weil angeblich bis jetzt keine Weltanschauung das Glück der Menschheit herbeigeführt hat. Nach den Gesetzen der Menschheitsentwickelung konnte in keinem früheren Zeitpunkte das eintreten, was von jetzt an allmählich möglich wird: eine Weltauffassung mit der Aussicht auf den angedeuteten praktischen Erfolg allen Menschen zu übermitteln.

Die bisherigen Weltauffassungen waren nur einzelnen Gruppen von Menschen zugänglich. Aber was bisher im Menschengeschlecht an Gutem geschehen ist, rührt doch von den Weltauffassungen her. Zu einem allgemeinen Heil kann nur eine solche Weltauffassung führen, die alle Seelen ergreifen und das innere Leben in ihnen entzünden kann. Das aber wird die geisteswissenschaftliche Vorstellungsart überall imstande sein, wo sie ihren Anlagen wirklich entspricht. –

Natürlich darf nicht einfach der Blick auf die Gestalt gerichtet werden, welche diese Vorstellungsart bereits angenommen hat; um das Gesagte als richtig anzuerkennen, ist notwendig, einzusehen, dass sich die Geisteswissenschaft zu ihrer hohen Kulturmission erst hinaufentwickeln muss.

Bis heute kann sie das Antlitz, das sie einstmals zeigen wird, aus mehreren Gründen noch nicht aufweisen. Einer dieser Gründe ist der, dass sie erst irgendwo Fuß fassen muss. Sie muss sich deshalb an eine bestimmte Menschengruppe wenden. Das kann naturgemäß keine andere sein, als diejenige, welche durch die Eigenart ihrer Entwickelung nach einer neuen Lösung der Welträtsel Sehnsucht hat und welche durch die Vorbildung der in ihr vereinigten Personen einer solchen Lösung Verständnis und Anteil entgegenbringen kann.

Selbstverständlich muss die Geisteswissenschaft ihre Verkündigungen vorläufig in eine solche Sprache kleiden, dass diese der gekennzeichneten Menschengruppe angepasst ist. In dem Maße, als sich weiterhin die Bedingungen ergeben, wird die Geisteswissenschaft auch die Ausdrucksformen finden, um noch zu anderen Kreisen zu sprechen. Nur jemand, der durchaus fertige starre Dogmen haben will, kann glauben, dass die gegenwärtige Form der geisteswissenschaftlichen Verkündigung eine bleibende, oder etwa gar die einzig mögliche sei.

Gerade weil es sich der Geisteswissenschaft nicht darum handeln kann, bloß Theorie zu bleiben, oder bloß die Wissbegierde zu befriedigen, muss sie in dieser Art langsam arbeiten. Zu ihren Zielen gehört eben das charakterisierte Praktische des Menschheitsfortschrittes. Sie kann aber diesen Menschheitsfortschritt nur bewirken, wenn sie die wirklichen Bedingungen dazu schafft. Und diese Bedingungen können nicht anders herbeigeführt werden, als wenn Mensch nach Mensch erobert wird. Nur wenn die Menschen wollen, schreitet die Welt vorwärts. Dass sie aber wollen, dazu ist bei jedem die innere Seelenarbeit notwendig. Und diese kann nur Schritt für Schritt geleistet werden. Wäre das nicht der Fall, so würde auch die Theosophie auf sozialem Gebiete Hirngespinste aufführen und keine praktische Arbeit tun. Auf noch weiteres einzelne soll demnächst eingegangen werden.