Plato und Schröer | 1924

GA 238, ZEHNTER VORTRAG

Dornach, 23. September 1924

Aus den Betrachtungen am letzten Sonntag werden Sie jedenfalls dieses gesehen haben, daß der Mensch, wie er körperlich und durch die Erziehung in der Gegenwart gestaltet ist, nicht leicht hereinbringt in die gegenwärtige Inkarnation, selbst wenn sie so merkwürdig liegt wie diejenige, von der ich am letzten Sonntag gesprochen habe, das, was an spirituellem Inhalte aus früheren Inkarnationen hereinwill. Denn wir leben nun einmal in dem Zeitalter der Bewußtseinsseelen-Entwickelung, jener Seelenentwickelung, welche ganz besonders ausbildet den Intellekt, der ja heute das ganze Leben beherrscht, wenn man auch oftmals nach dem Gefühle und Gemüte schreit; diejenige Seelenfähigkeit, die sich am meisten emanzipieren kann von dem elementarisch Menschlichen, von dem, was der Mensch als sein tieferes seelisches Wesen in sich trägt.

Das Bewußtsein von dieser Emanzipation des Intellektuellen kommt ja dann durch, wenn gesprochen wird von dem kalten Verstande, in dem die Menschen ihren Egoismus äußern, in dem die Menschen ihre Anteilnahmslosigkeit, ihre Mitleidlosigkeit mit der anderen Menschheit, selbst oftmals mit Nahestehenden äußern. Mit dem kalten Verstande bezeichnet man das Verfolgen all derjenigen Wege, die nicht auf die Ideale der Seele gehen, sondern die darauf hinauslaufen, nach Nützlichkeitsgründen sich die Lebenswege vorzuzeichnen und so weiter.

In diesen Dingen drückt sich eine Empfindung dafür aus, wie das Verständige, das Intellektualistische, das Rationalistische sich vom Menschlichen im Menschen drinnen emanzipiert. Und wer ganz durchschaut, in welch hohem Grade die heutigen Seelen intellektualisiert sind, der begreift dann auch in jedem einzelnen Falle, wie Karma gerade in jetzige Seelen dasjenige hineintragen muß, was auch an hoher Spiritualität in abgelaufenen Zeitaltern von diesen Seelen durchgemacht worden ist.

Denn bedenken Sie nur das Folgende. Nehmen wir jetzt ganz im allgemeinen – ein spezielles Beispiel habe ich Ihnen das letzte Mal gezeigt –, aber nehmen Sie jetzt ganz im allgemeinen eine Seele, welche in den Jahrhunderten vor dem Mysterium von Golgatha oder in den Jahrhunderten nach dem Mysterium von Golgatha so gelebt hat, daß ihr die geistige Welt eine Selbstverständlichkeit war, daß sie nach ihren eigenen Erfahrungen von der geistigen Welt reden konnte wie von einer Welt, die ebenso vorhanden ist wie die farbige, die warme oder kalte Welt der Sinne.

Das alles liegt in der Seele drinnen. Das alles steht zwischen dem Tod und einer neuen Geburt oder in wiederholten solchen Zeiträumen im Verhältnis mit den geistigen Welten der höheren Hierarchien. Mannigfaltiges ist in dieser Seele ausgearbeitet worden.

Aber nun soll ja gerade wiederum durch andere karmische Zusammenhänge, sagen wir, eine solche Seele in einem Leib sich inkarnieren, der ganz auf Intellektualismus hin gestimmt ist, der also aus der Zivilisation der Gegenwart nur allein die gangbaren Begriffe, die sich ja eigentlich nur auf Äußerliches beziehen, aufnimmt. Es ist dann nur das eine möglich, daß für diese Inkarnation dasjenige in das Unterbewußtsein sich zurückzieht, was da an Spiritualität herüberkommt, und daß eine solche Persönlichkeit in dem Intellekt, den sie entwickelt, vielleicht einen gewissen Idealismus zeigt, ein Hinneigen zu allerlei schönen, guten, wahren Idealen, aber doch nicht dazu kommt, die Dinge, die in der Seele liegen, aus dem Unterbewußten in das gewöhnliche Bewußtsein heraufzuheben. Solche Seelen gibt es viele heute. Und für denjenigen, der in der richtigen Weise mit einem auf das Spirituelle geschulten Auge die Welt anzuschauen vermag, für den widerspricht heute so manches Antlitz dem, was bei den betreffenden Menschen zutage tritt. Das Antlitz sagt: Da ist auf dem Grunde der Seele viel Spiritualität. Sobald der Mensch aber spricht, redet er gar nicht von Spiritualität. Daher hat es in keiner Zeit eigentlich das in einem so hohen Grade gegeben, daß die Gesichter demjenigen widersprochen haben, was der Mensch ausspricht, als eben in der heutigen Zeit.

Wer verstehen will, daß Kraft und Energie und Ausdauer und heilige Begeisterung notwendig sind, um das, was nun schon einmal für das heutige Zeitalter gehört: Intellektualismus, umzuwandeln in Spiritualität, so daß die Gedanken, die Ideen sich erheben in die geistige Welt und man mit Ideen ebenso zum Geiste hinauf den Weg finden kann wie hinunter zu der Natur, wer das verstehen will, der muß eben sich klar sein darüber, daß zunächst der Intellektualismus die denkbar stärksten Hemmnisse bietet für das Sichoffenbaren eines in der Seele befindlichen Spirituellen. Und nur dann, wenn man gewissermaßen aufmerksam darauf ist, wird man als Anthroposoph den innerlichen Enthusiasmus finden, die Ideen der Anthroposophie aufzunehmen, die ja nun schon einmal mit dem Intellektualismus des Zeitalters rechnen müssen, die sozusagen das Kleid des zeitgenössischen Intellektualismus annehmen müssen. Aber ein solcher Mensch wird auch durchdrungen werden können davon, daß er mit den ja nicht auf die äußere Sinnenwelt bezüglichen Ideen der Anthroposophie ausersehen ist dazu, dasjenige zu erfassen, worauf sich diese Ideen beziehen: das Geistige. Es bleibt das Sichversenken in die Ideen der Anthroposophie dennoch dasjenige, was den heutigen Menschen, wenn er nur will, am sichersten hinaufleiten kann in die Spiritualität.

Das, was ich jetzt als letzten Satz ausgesprochen habe, meine lieben Freunde, das kann man eigentlich erst aussprechen vielleicht seit zwei bis drei Jahrzehnten. Vorher war das noch nicht möglich. Denn vorher, trotzdem schon Ende der siebziger Jahre die Michael-Herrschaft begonnen hat, vorher war es doch so, daß die Ideen, welche die Zeit jemandem entgegentrug, selbst bei den Idealisten, so stark nur auf die Sinneswelt gerichtet waren, daß ein Erheben vom Intellektualismus zur Spiritualität in den siebziger, achtziger, neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts nur in Ausnahmefällen eben möglich war.

Was diese Tatsache bewirkte, möchte ich Ihnen heute an einem Beispiel zeigen. Ich möchte Ihnen zeigen, daß es in diesem Zeitalter, in das die Anthroposophie als die Anschauung vom Spirituellen hineingestellt werden muß aus den Gründen, die ich ja gerade in diesem Vortragszyklus für Mitglieder entwickelt habe, außerordentlich stark so ist, daß jenes Spirituelle, das von früher herauf in die Seelen kommt, zurückgestaut ist und zurückgestaut werden muß. Ja, am Ende des vorigen Jahrhunderts mußte es sich, ohne sich überhaupt in irgendeiner Weise offenbaren zu können, zurückziehen vor dem Intellektualismus.

Verstehen Sie recht, was ich meine. Nehmen wir an, irgendeine Persönlichkeit lebte in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts und hätte in sich gehabt eine starke Spiritualität aus früheren Inkarnationen: Sie lebt sich herein in die gegenwärtige Bildung, die damals gegenwärtige Bildung; die ist intellektualistisch, durch und durch intellektualistisch. Nun ist aber in der Persönlichkeit, die ich meine, die Nachwirkung der Spiritualität noch so stark, daß diese heraus will, richtig heraus will. Aber der Intellektualismus verträgt das nicht. Die Persönlichkeit wird intellektualistisch erzogen, die Persönlichkeit erlebt im gesellschaftlichen Umgange, in den sie hineinkommt, im Beruf, überall Intellektualismus; dahinein in diesen Intellektualismus kann das nicht, was sie in der Seele trägt. Es würde das eine Persönlichkeit sein, von der man sagen kann: Die wäre eigentlich zur Anthroposophie wie berufen. – Aber sie kann nicht Anthroposoph werden, weil gerade das, wenn es in den Intellekt schon hätte hinein können aus der Spiritualität der früheren Inkarnation, Anthroposophie geworden wäre. Es kann nicht Anthroposophie werden, bleibt zurück, bekommt gewissermaßen einen Schock vor dem Intellektualismus. Was kann die Persönlichkeit anderes tun, als höchstens den Intellektualismus überall als etwas behandeln, an das sie nicht heranwill, damit das, was in ihrer Seele ist, herauskommen kann in irgendeiner Inkarnation. Es wird dann natürlich nicht vollkommen herauskommen, weil es dem Zeitalter nicht entspricht. Es wird vielleicht sogar wie ein Stammeln sein; aber man wird der Persönlichkeit ansehen, daß sie überall davor zurückzuckt, gar zu weit zu gehen, von dem Intellektualismus des Zeitalters berührt zu werden.

Dafür möchte ich Ihnen eben ein Beispiel anführen. Ich möchte zunächst erinnern an eine hier auch oftmals und immer wieder für die verschiedensten Dinge genannte Persönlichkeit des Altertums, Plato. Plato, der Philosoph des fünften und vierten vorchristlichen Jahrhunderts, lebt eigentlich wie eine Seele, die vieles von dem vorausnimmt, was dann in Jahrhunderten die Menschheit sinnt. Und ich habe ja, als ich auf die großen geistigen Inhalte der Schule von Chartres hinwies, darauf hingewiesen, daß platonischer Geist seit langer Zeit in der Entwicklung des Christentums lebte und daß er in einer gewissen Weise gerade in diesen großen Lehrern der Schule von Chartres seine Ausgestaltung gefunden hat, so wie er eben damals hat ausgestaltet werden können.

Man muß sich nur klar sein darüber: Platos Geist ist zunächst der Ideenwelt zugewendet. Allein man darf sich nicht vorstellen, meine lieben Freunde, daß Idee bei Plato dasselbe abstrakte Ungetüm ist, was für uns heute Ideen sind, wenn wir dem gewöhnlichen Bewußtsein huldigen. Für Plato war die Idee fast etwas von dem, was die persischen Götter Amschaspands waren, die dem Ahura Mazdao als wirkende Genien zur Seite standen; wirkende Genien, die in imaginativer Anschauung nur erreichbar waren, das waren für Plato eigentlich die Ideen: wesenhaft. Nur schilderte er sie schon nicht mehr mit der Lebendigkeit, mit der man in früheren Zeiten solche Dinge geschildert hat. Er schildert sie wie Schatten, könnte man sagen, von Wesenheiten. Und dadurch entstehen ja dann die abstrakten Gedanken, daß die Ideen immer schattenhafter und schattenhafter von den Menschen genommen werden. Aber Plato, indem er weiterlebt, vertieft sich doch in einer Weise, so daß man sagen möchte, in seine Ideenwelt ergießt sich fast die ganze Weisheit der damaligen Zeit. Man braucht bloß seine späteren Dialoge zu nehmen und man wird Astrologisch-Astronomisches, man wird Kosmologisches, wunderbar Psychologisches, Völkerhistorisches bei Plato finden, alles in einer Art von Spiritualität, welche das Spirituelle eben bis zur Idee, ich möchte sagen, verfeinert, verschattenhaftet.

Aber es lebt alles in Plato. Und es lebt vor allen Dingen in Plato die Anschauung: Die Ideen sind die Gründe von alledem, was in der Sinneswelt vorhanden ist. Überall, wo wir hinblicken in der Sinneswelt, was wir auch schauen, es ist der äußere Ausdruck, die äußere Offenbarung von Ideen. –

Dabei tritt in Platos Weltanschauung ein anderes Element noch herein, das ja auch der Welt bekanntgeworden ist in einem Schlagworte, das viel mißverstanden und auch viel mißbraucht worden ist: in dem Schlagworte der platonischen Liebe. Die durchgeistigte Liebe, die möglichst viel von dem abgelegt hat, was der Liebe oftmals noch beigemischt ist von Egoismus, diese durchgeistigte Hingabe an Welt, Leben, Mensch, Gott, Idee, das ist ja etwas, was die platonische Lebensauffassung durchaus durchzieht. Und das ist dasjenige, was in gewissen Zeitaltern zurücktritt, was aber dann immer wiederum aufleuchtet. Denn der Platonismus wird immer wieder aufgenommen, bildet da und dort wiederum dasjenige, an dem sich die Menschen hinaufranken, bildete eben auch den Einschlag für das, was gelehrt worden ist in der Schule von Chartres.

Nun, man hat oftmals schon in Plato eine Art Vorläufer des Christentums gesehen. Allein zu meinen, daß Plato ein Vorläufer des Christentums gewesen sei, das heißt das Christentum mißverstehen. Denn das Christentum ist nicht eine Lehre, sondern das Christentum ist eine Lebensströmung, welche an das Mysterium von Golgatha anknüpft, und vom wirklichen Christentum kann man erst seit dem Mysterium von Golgatha sprechen. Man kann aber davon sprechen, daß es Christen gegeben hat in dem Sinne, daß sie vor dem Mysterium von Golgatha jene Gestalt, die dann innerhalb des Erdenlebens der Menschheit als Christus erkannt wurde, als Sonnenwesenheit verehrt haben, dieselbe Wesenheit im Sonnenwesen gesehen haben. Wenn man in diesem Sinne von Vorläufern des Christentums sprechen will, muß man aber von vielen Mysterienschülern als solchen Vorläufern sprechen; dann kann man auch von Plato als einem Vorläufer des Christentums sprechen. Aber man muß natürlich die Sache nur richtig verstehen.

Nun habe ich ja schon vor einiger Zeit hier davon gesprochen, daß, als Plato noch lebte, nicht gerade in Platos Philosophenschule, aber unter Platos Einfluß – ich habe es sogar schon vor Jahrzehnten erwähnt –, herangewachsen ist ein Künstler, nicht aus platonischer Philosophie, aber aus platonischem Geiste heraus, der dann, nachdem er durch andere Inkarnationen gegangen ist, als Goethe wiedergeboren worden ist, und der karmisch dasjenige, was aus den früheren Inkarnationen, namentlich aber aus der Plato-Strömung kam, in der Jupiter-Region umgewandelt hat, so daß es diejenige Art von Weisheit werden konnte, die eben bei Goethe alles durchdringt. Wir können also schon hinblicken auf ein edles Verhältnis Platos gerade zu diesem – nicht Plato-Zögling, aber Plato-Folger; denn er ist nicht Philosoph, wie gesagt, sondern Künstler im griechischen Zeitalter. Aber Platos Auge fiel noch auf ihn, nahm auf das ungeheuer Vielversprechende dieses Jünglings, der hier gemeint ist.

Nun, Plato hatte es eigentlich schwer, hindurchzutragen durch die folgenden Zeiten, durch die übersinnliche Welt dasjenige, was er in seiner Plato-Inkarnation in seiner Seele trug. Er hatte es sehr schwer. Denn obzwar der Platonismus da und dort aufleuchtete: wenn Plato heruntersah auf dasjenige, was sich unten als Platonismus entwickelte, so bedeutete das für ihn vielfach eine furchtbare Störung seines übersinnlichen Seelen- und Geisteslebens.

Nicht als ob man dasjenige, was als Platonismus fortlebte, deshalb verurteilen oder abkritisieren wollte. Selbstverständlich, die Seele des Plato lebte Stück für Stück immer mehr und mehr dasjenige in die folgenden Zeitalter hinüber, was eben in ihr lag. Aber gerade Plato, der ja noch verbunden war mit allen Mysterien des Altertums, von dem ich sagen konnte, daß seine Ideenlehre ja eine Art persischen Einschlags hatte, gerade Plato hatte es schwer, als er die Zeit absolviert hatte – es war bei ihm sogar eine ziemlich lange Zeit –, um zu einer neuen Inkarnation zu kommen, er hatte es eigentlich schwer, in die christliche Kultur einzutreten, in die er doch eintreten mußte. Und so kann man sagen: Trotzdem man in dem Sinne, wie ich es eben ausgesprochen habe, Plato dennoch als einen Vorläufer des Christentums bezeichnen kann, lag die ganze Seelen-Orientierung Platos so, daß es ihm außerordentlich schwer wurde, als er reif war zum Wiederheruntersteigen auf die Erde, eine Organisation, einen Leib zu finden, um in ihn das Frühere so hineinzutragen, daß es mit christlicher Schattierung, mit christlicher Nuancierung jetzt erschien. Und außerdem war Plato durch und durch Grieche mit all dem orientalischen Einschlag, den die Griechen hatten und den die Römer gar nicht hatten. Plato war in gewissem Sinne eine Seele, welche hinauftrug bis in das höhere poetische Reich die Philosophie, und künstlerisch sind die philosophischen Dialoge Platos. Überall ist Seele und überall drinnen eben die in wahrem Sinne zu verstehende platonische Liebe, die auch den orientalischen Ursprung durchaus verrät.

Plato ist Grieche. Die Zivilisation, innerhalb welcher er sich allein verkörpern kann, als er reif ist zur Verkörperung, als er sozusagen für die übersinnliche Welt alt geworden ist, diese Zivilisation ist römisch und christlich. Ich möchte sagen, wenn ich mich trivial ausdrücken darf: Da muß er nun hinein. Da muß er auch alle Kräfte zusammennehmen, um zurückzudrängen das Widerstrebende. Denn in Platos Wesen liegt Zurückweisung des prosaischnüchtern Römischen, des juristisch Römischen, eigentlich die Zurückweisung von allem Römischen.

Und in Platos Wesen liegt auch eine gewisse Schwierigkeit, das Christentum anzunehmen, weil er ja gerade den Höhepunkt der vorchristlichen Weltanschauung in gewissem Sinne darstellt und es sich auch an Äußerlichkeiten zeigte, daß das eigentliche Plato-Wesen nicht in das Christentum leicht untertauchen konnte. Denn was tauchte dann unter in das Christentum hier in der sinnlichen Welt? Der Neuplatonismus. Der war aber etwas ganz anderes als der wirkliche Platonismus. Zwar bildete sich heraus, nicht wahr, eine Art von platonisierender Gnosis und so weiter, aber eben eine Möglichkeit, das unmittelbare Plato-Wesen ins Christentum herüberzunehmen, bestand nicht. Und so war es auch für Plato schwierig, aus all der Aktivität, die er als Plato-Wesen in sich trug und jetzt in den Ergebnissen wieder hereinbringen mußte, in die Welt irgendwie unterzutauchen. Er mußte die Aktivität zurückstellen.

Und so verkörperte er sich im zehnten Jahrhundert des Mittelalters als die Nonne Hroswitha, jene ja vergessene, aber grandiose Persönlichkeit des zehnten Jahrhunderts, die das Christentum in einem wirklich platonischen Sinne eigentlich aufgenommen hat, die im Grunde genommen ungeheuer viel vom Platonismus in das mitteleuropäische Wesen hineingetragen hat. Sie gehörte dem Kloster Gandersheim im Braunschweigischen an, trug ungeheuer viel hinein in das mitteleuropäische Wesen vom Platonismus. Das konnte im Grunde genommen damals nur eine Frau tun. Würde nicht mit dem Frauenkolorit Platos Wesen erschienen sein, es hätte nicht das Christentum annehmen können in dieser Zeit. Aber auch das Römertum, das ja damals in aller Bildung war, mußte aufgenommen werden, ich möchte sagen, zwangsmäßig aufgenommen werden. So sehen wir denn diese Nonne zu jener merkwürdigen Persönlichkeit sich entwickeln, die lateinische Dramen schreibt in terenzischem Stil, im Stil des römischen Dichters Terenz, die wirklich außerordentlich bedeutend sind.

Ja, sehen Sie, man möchte sagen, es liegt fast furchtbar nahe, Plato zu verkennen, wenn er irgendwie herankommt. Ich habe öfter erwähnt, wie Friedrich Hebbel sich ein Drama notiert hat – es ist der Plan nur als Notiz vorhanden –, worinnen er humoristisch behandeln wollte, wie in einer Gymnasialklasse der wiederverkörperte Plato sitzt. Das ist dichterische Phantasie natürlich, aber Hebbel wollte das darstellen: wie in einer Gymnasialklasse der wiederverkörperte Plato sitzt und die platonischen Dialoge von dem Lehrer, dem Gymnasiallehrer, durchgenommen werden und die schlechtesten Zensuren in bezug auf die Interpretationen der platonischen Dialoge der wiederverkörperte Plato bekommt. Das hat sich Hebbel notiert als Dramenstoff. Er hat es dann nicht ausgearbeitet. Aber es ist sozusagen eine Ahnung, wie leicht überhaupt Plato zu verkennen ist. Er kann leicht verkannt werden. Das ist so ein Zug, möchte ich sagen, der mich besonders interessiert hat in der Verfolgung der Plato-Strömung, weil dieses Verkennen eigentlich außerordentlich instruktiv ist, um die richtigen Wege zu finden für das Weitergehen der platonischen Individualität.

Es ist ja schon höchst interessant, daß sich ein deutscher Philologe gefunden hat, der den wissenschaftlichen Nachweis geführt hat – ich weiß jetzt den Namen nicht, irgendein Schmidt oder Müller –, den unumstößlichen Beweis erbracht hat, daß die Nonne Hroswitha kein einziges Drama geschrieben hat, überhaupt nichts von ihr herrührt, sondern daß irgendein Ratgeber des Kaisers Maximilian das alles gefälscht habe – was natürlich ein Unsinn ist. Aber an Plato hängt eben die Verkennung.

Und so sehen wir denn wirklich intensive christlich-platonische Geistessubstantialität, verbunden mit mitteleuropäisch-germanischem Geist, in dieser Individualität der Nonne Hroswitha aus dem zehnten Jahrhundert. Es lebt in dieser Frau sozusagen die ganze Bildung der damaligen Zeit. Es ist eine staunenswerte Frau in Wirklichkeit. Und gerade diese Frau macht nun mit diejenigen übersinnlichen Entwicklungen, von denen ich Ihnen gesprochen habe: den Übergang der Lehrer von Chartres in die geistige Welt, das Herunterkommen derjenigen, die dann Aristoteliker sind, die Michael-Schulung. Aber eben doch in einer ganz merkwürdigen Art macht sie das mit. Man möchte sagen, hier streiten miteinander der männliche Geist Platos und der weibliche Geist der Nonne Hroswitha, die beide ihre Ergebnisse für die geistige Individualität hatten. Wäre die eine Inkarnation unbedeutend gewesen, was ja meistens der Fall ist, so würde ein solches innerliches Streiten dann nicht stattgefunden haben. Aber hier bei dieser Individualität hat dieses innerliche Streiten eigentlich die ganze Zeit über gedauert.

So daß wir sehen, daß die Individualität, als sie wiederum auf die Erde zu kommen reif ist im neunzehnten Jahrhundert, daß diese Individualität sich zu einer solchen ausbildet, wie ich sie hypothetisch schon gerade vorher beschrieben habe: Die ganze Spiritualität Platos wird zurückgehalten, staut sich vor der Intellektualität des neunzehnten Jahrhunderts, will nicht heran. Und damit das leichter wird, sitzt ja die Frauenkapazität der Nonne Hroswitha in derselben Seele. So daß diese Seele in der Weise auftritt, daß ihr alles dasjenige, was sie aus ihrer Fraueninkarnation, aus ihrer bedeutenden, leuchtenden Fraueninkarnation hat, es leicht macht, den Intellektualismus doch da, wo es ihr gefällt, abzustoßen.

Und so entsteht neu in dem neunzehnten Jahrhundert auf Erden diese Individualität, die hineinwächst in  die  Intellektualität des neunzehnten Jahrhunderts, aber diese Intellektualität eigentlich nur immer von außen etwas an sich herankommen läßt, innerlich aber ein gewisses Zurückzucken davor hat; dafür aber in einer nicht intellektualistischen Weise den Platonismus vorschiebt im Bewußtsein und überall, wo sie nur kann, davon redet, daß Ideen in allem leben. Dieses Leben in Ideen wurde dieser Persönlichkeit etwas ganz Selbstverständliches. Aber der Körper war so, daß man immer das Gefühl hatte: Der Kopf kann eigentlich nicht das alles ausprägen, was da an Platonismus herauswill. Auf der anderen Seite konnte diese Persönlichkeit in einer schönen, in einer herrlichen Weise dasjenige aufleben lassen, was sich hinter der platonischen Liebe verbirgt.

Aber noch weiter. In der Jugend hatte diese Persönlichkeit etwas wie Träume davon, daß doch nicht richtig römisch sein dürfe Mitteleuropa, wo sie ja gelebt hat als Nonne Hroswitha, sie stellte sich dieses Mitteleuropa als ein neues Griechenland vor – da schlägt der Platonismus durch – und stellte dasjenige, was als rauhere Gegend Griechenland gegenüberstand, Mazedonien, als den europäischen Osten vor. Merkwürdige Träume waren es, die in dieser Persönlichkeit lebten, denen man eigentlich ansah, daß sie die moderne Welt, in der sie selbst drinnen lebte, vorstellen wollte wie Griechenland und Mazedonien. Immer wieder tauchte gerade in der Jugend dieser Persönlichkeit der Drang auf, die moderne Welt, Europa im Großen, als das vergrößerte Griechenland und Mazedonien vorzustellen. Es ist sehr interessant.

Nun, diese Persönlichkeit, von der ich da spreche, ist Karl Julius Schröer. Und Sie brauchen ja nur mit dem, was ich Ihnen nun zusammengetragen habe, Karl Julius Schröers Schriften durchzugehen: von allem Anfange an redet er eigentlich ganz platonisch. Aber er hütet sich – es war etwas ganz Merkwürdiges –, er hütet sich, ich möchte sagen mit frauenhafter Zimperlichkeit, vor dem Intellektualismus da, wo er ihn nicht brauchen kann.

Er sagte immer gern, wenn er über Novalis sprach: Ja, Novalis, das ist eben ein Geist, den man nicht begreifen kann mit dem modernen Intellektualismus, welcher ja nichts kennt, als daß zwei mal zwei vier ist.

Und Karl Julius Schröer hat eine Geschichte der deutschen Dichtung im neunzehnten Jahrhundert geschrieben. Schauen Sie sich das an: Überall wo man mit dem Platonismus gefühlsmäßig herankommen kann, ist sie sehr gut; da wo man Intellektualismus braucht, da wird's plötzlich so, daß die Zeilen versiegen. Er ist gar nicht professorenhaft. So schreibt er auch über Sokrates, der bei der neueren Inkarnation äußerlich in der Welt gar nicht berücksichtigt wurde [gemeint ist Tobias Gottfried Schröer, der Vater Karl Julius Schröers], über den die übrigen Literaturgeschichten schweigen, viele Seiten; über diejenigen, die berühmt sind, da schreibt er manchmal ein paar Zeilen. Als diese Literaturgeschichte erschienen ist, oh, da haben alle literarischen Knöpfe die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen! Ein ganz berühmter Knopf war dazumal Emil Kuh. Der sagte: Diese Literaturgeschichte ist überhaupt nicht von einem Kopf geschrieben, sondern bloß aus einem Handgelenk herausgeflossen. – Karl Julius Schröer hat auch eine Faust-Ausgabe gemacht. Ein Grazer Professor, der übrigens sonst ein netter Mann war, hat eine so abscheuliche Rezension darüber geschrieben, daß, ich glaube, zehn Duelle unter den Grazer Studenten pro und kontra Schröer ausgefochten worden sind. Es war schon ein arges Verkennen da. Das ging so weit, daß mir einmal diese geringe Schätzung Schröers eigentümlich in einer Gesellschaft in Weimar entgegentrat, wo Erich Schmidt eine hochangesehene Persönlichkeit war und über alles dominierte, wenn er unter anderen war. Da war die Rede davon, welche Prinzessinnen und Prinzen am Hofe zu Weimar gescheit sind und welche töricht sind. Das wurde da auseinandergesetzt. Und Erich Schmidt sagt: Ja, die Prinzessin Reuß – das war ja eine der Töchter der Großherzogin von Weimar – ist keine kluge Frau, denn sie hält den Schröer für einen großen Mann. Das war sein Grund.

Nun, sehen Sie, verfolgen Sie das alles, bis zu dem wunderschönen Büchelchen «Goethe und die Liebe»: da finden Sie drinnen wirklich, was einer ohne Intellektualismus über die platonische Liebe im unmittelbaren Leben sagen kann. Daß da etwas Außerordentliches in Stil und Haltung gegeben ist in diesem Büchelchen «Goethe und die Liebe», das trat mir einmal so schön entgegen, als ich über dieses Büchelchen mit der Schwester Schröers sprach. Die nannte den Stil «völlig süß vor Reife». Das ist er auch. Es ist ein schöner Ausdruck: völlig süß vor Reife. Es ist alles so – man kann da in diesem Falle nicht sagen konzentriert, sondern alles so vornehm fein ausgestaltet. Vornehmheit überhaupt ist ihm besonders eigen.

Nun aber, diese platonische Spiritualität mit dem Zurückstoßen des Intellektualismus, platonische Spiritualität, die in diesen Körper hineinwill, das machte auch einen ganz besonderen, einen merkwürdigen Eindruck. Man sah Schröer so, daß man ganz deutlich wahrnahm: ganz ist diese Seele nicht in dem Körper drinnen. Und als er dann älter wurde, da konnte man sehen, wie diese Seele, weil sie doch eigentlich nicht recht in den Körper der damaligen Gegenwart hineinwollte, sich Stück für Stück aus diesem Körper zurückzog. Zunächst wurden die Finger geschwollen und dick, dann zog sich das Seelische immer weiter zurück, und Schröer endete ja in Altersschwachsinn.

Nicht die ganze Individualität, aber gerade einige Züge von Schröer sind dann auf meinen Capesius in den Mysterien übergegangen, den Professor Capesius. Man kann schon sagen: Wir haben da ein glänzendes Beispiel für die Tatsache, daß in die Gegenwart herein nur unter gewissen Bedingungen die spirituellen Strömungen des Altertums getragen werden können. Und man möchte schon sagen: In Schröer zeigte sich das Zurückschrecken vor der Intellektualität. Hätte er die Intellektualität erreicht und sie vereinigen können mit der Spiritualität des Plato: Anthroposophie wäre gekommen.

So aber sehen wir in seinem Karma, wie sich seine, ich möchte sagen, väterliche Liebe zu dem Folger Goethe – sie ist ja auf die Weise gekommen, wie ich es Ihnen gesagt habe, und Plato hatte dazumal für ihn eine väterliche Liebe –, wie sich diese umgestaltet und wie Schröer ein glühender Goethe-Verehrer wird. Das kommt in dieser Form wiederum herauf. Die Goethe-Verehrung Schröers hatte etwas außerordentlich Persönliches.

Er wollte in seinem Alter eine Goethe-Biographie schreiben. Er erzählte mir davon, bevor ich Ende der achtziger Jahre von Wien wegging. Dann schrieb er mir davon. Er schrieb aber niemals anders von dieser Goethe-Biographie, die er schreiben wollte, als so, daß er sagte: Goethe besucht mich immer in meiner Stube. – Es hatte etwas so Persönliches, was ja in dieser Weise karmisch vorausbestimmt war, wie ich es angedeutet habe.

Die Goethe-Biographie ist ja nicht zustande gekommen, weil Schröer eben dann in Altersschwachsinn verfiel. Aber man kann schon für den ganzen Duktus seiner Schriften eine lichtvolle Interpretation finden, wenn man diese Antezedenzien, die ich eben auseinandergesetzt habe, kennt.

So sehen wir, wie in dem eigentlich ganz vergessenen Schröer der Goetheanismus vor dem Tore des in Spiritualismus verwandelten Intellektualismus stehengeblieben ist. Was konnte man denn eigentlich anderes tun, wenn man, ich möchte sagen, von Schröer angeregt ist, als weiter fortzuführen den Goetheanismus in die Anthroposophie hinein! Es blieb einem ja sozusagen nichts anderes übrig. Und oftmals stand dieses für mich ergreifende Bild vor meinem seelischen Auge, wie Schröer die alte Spiritualität an Goethe heranträgt, darinnen bis zum Intellektualismus vordringen kann, und wie Goethe wieder erfaßt werden muß mit dem ins Spirituelle erhobenen modernen Intellektualismus, um ihn nun eigentlich vollständig zu verstehen. Dieses Bild ist mir selber gar nicht besonders leicht geworden; denn immer mischte sich wiederum – weil das, was Schröer war, nicht unmittelbar aufgenommen werden konnte – in mein Seelenstreben etwas von Opposition gegen Schröer.

Ich habe zum Beispiel, als Schröer in Wien an der Hochschule Übungen gehalten hat im mündlichen Vortrage und in der schriftlichen Darstellung, einmal eine ziemlich verdrehte Mephisto-Interpretation gegeben, bloß um Schröer zu widerlegen, den Lehrer, mit dem ich dazumal noch nicht so intim befreundet war. Und so regte sich schon einige Opposition. Aber, wie gesagt, was konnte man anderes tun, als die Stauung, die da eingetreten war, beheben und den Goetheanismus wirklich in die Anthroposophie hinüberführen!

So sehen Sie, wie nun der Gang der Weltgeschichte in Wirklichkeit verläuft. Er verläuft schon so, daß man sieht: Dasjenige, was man in der Gegenwart hat, das kommt zwar herauf mit Hemmnissen, Hindernissen, aber auf der anderen Seite auch wohl präpariert. Und eigentlich, wenn Sie dieses wunderbare, hymnenartige Darstellen der Frauenwesenheit bei Karl Julius Schröer lesen, wenn Sie seinen schönen Aufsatz, den er als Anhang zu seiner Literaturgeschichte, «Die deutsche Dichtung des neunzehnten Jahrhunderts», geschrieben hat: «Goethe und die Frauen», – wenn Sie dieses alles nehmen, ja, dann werden Sie sich sagen: Darinnen lebt wirklich etwas von Empfindung für Frauenwert und Frauenwesen, das ein Nachklang dessen ist, was die Nonne Hroswitha als ihr eigenes Wesen gelebt hat. Diese zwei vorangehenden Inkarnationen, diese gerade schwingen bei Schröer so wunderbar zusammen, daß einem dann das Abreißen gewiß tragisch ergreifend erscheint. Aber auf der anderen Seite auch stellt sich gerade in Schröer eine geistige Tatsachenwelt in das Ende des 19. Jahrhunderts hinein, die im ungeheuersten Sinne aufklärend wirkt für dasjenige, was die Frage beantworten kann: Wie bringen wir Spiritualität in das Leben der Gegenwart herein?

Das ist dasjenige, wodurch ich diesen Zyklus von Vorträgen abrunden wollte.