Theosophie und deutsche Kultur | 1903

Rudolf Steiner, Luzifer, Oktober 1903, GA 34, S. 533-535.

Hier soll in einem kurzen Auszuge wiedergegeben werden, was Dr. Rudolf Steiner (als Generalsekretär der deutschen Sektion der Theosophischen Gesellschaft) am 3. Juli 1903 in London anläßlich der ersten Versammlung der Föderation europäischer  Sektionen der Theosophischen Gesellschaft ausgeführt hat (vergleiche den vorhergehenden Artikel). Die europäischen Sektionen sind übereingekommen, alljährlich zur gemeinsamen Pflege der theosophischen Bewegung sich zu versammeln.

Bei diesen Gelegenheiten wird ein Zusammenfluß der einzelnen Beiträge stattfinden, welche die verschiedenen Gegenden Europas zu unserer großen internationalen Aufgabe zu leisten vermögen, und die Vertreter der einzelnen Sektionen werden die Anregung der Kongresse in ihr Heimatgebiet mitnehmen, um sie dort weiter wirken zu lassen.

Unsere deutsche Sektion ist noch nicht einmal ein Jahr alt.

Es ist daher naturgemäß, daß sie nur auf geringe Erfolge in der Vergangenheit verweisen kann. Aber man darf sagen, daß wir die besten Hoffnungen für die Zukunft der Theosophie in Deutschland hegen dürfen. Denn das ganze Wesen des deutschen Volksgeistes drängt zur Theosophie. Da, wo die deutsche Geisteskultur ihre schönsten Blüten getrieben hat, da lag überall eine verborgene, aber deshalb nicht weniger wirksame theosophische Gesinnung bei den Trägern dieser Kultur zugrunde. Denn nicht nur ist die tiefe Mystik eines Meisters Eckhart und Tauler, eines Valentin Weigel, Jakob Böhme, Angelus Silesius und der geheimen mystischen Gesellschaften aus dieser Gesinnung und Denkweise erflossen; sondern auch die Weltbetrachtungen unserer neueren deutschen Denker, Fichtes, Schellings, Hegels ruhen auf diesem Grunde.

Und was in diesen hervorragenden Persönlichkeiten zum Ausdruck kam, das hat seine Wurzel in den Tiefen der deutschen Volksseele. Deshalb war auch der größte neuere deutsche Dichter, Goethe, von solcher Gesinnung, von solcher Vorstellungsart durchdrungen. Man kennt Goethe erst vollkommen, wenn man die nicht an der Oberfläche, sondern in den Tiefen seiner Schöpfungen zu entdeckende theosophische Betrachtungsart durchschaut. Diese Seite in Goethes Wirken ist fast ganz unverstanden geblieben. Wird sie einmal verstanden, dann wird das, was Goethe geschaffen hat, ein bedeutsamer Förderer der theosophischen Bewegung in Deutschland werden. Goethes ganze Naturanschauung ruht auf theosophischem Grunde. Vieles von dem, was er, nach seinem eigenen Ausspruche, in seinen Faust »hineingeheimnißt« hat, sind theosophische Wahrheiten. Und außerdem hat er ja noch seine Weltauffassung zusammengefaßt in seinem tiefsymbolischen Märchen von »der grünen Schlange und der schönen Lilie«. Dieses Märchen ist geradezu die »geheime Offenbarung« Goethes. Man muß es lesen, wie man esoterische Schriften liest, man muß seinen Sinn studieren, wie man den Sinn geheimer Darstellungen tief verborgener Wahrheiten studiert. Solange man das nicht getan hat, kennt man den ganzen Goethe nicht. Unter dem Einflusse solchen Studiums wird auch auf manches andere in Goethes Leben und Schaffen ein neues Licht geworfen; und es wird vor allem bewiesen, daß die Deutschen in ihm einen theosophischen Dichter haben. – Und man blicke auf Novalis, dessen »magischer Idealismus« ja auch theosophisch ist; man blicke endlich auf Schelling, der in den vierziger Jahren an der Berliner Universität auftrat mit seinen durch langes, tiefes Forschen gewonnenen Ansichten in den Vorträgen über »Philosophie der Mythologie« und »Philosophie der Offenbarung«. Nur eines fehlt in allen diesen theosophischen Bestrebungen der Deutschen: ein tieferes Verständnis der großen Weltgesetze von Reinkarnation und Karma. Denn wenn auch Jean Paul aus seiner Intuition heraus die Lehre der Wiederverkörperung vertrat, mit den vorhin genannten Strömungen ist sie niemals  organisch verbunden gewesen. Diese umfassenden Wahrheiten wird die theosophische Bewegung der deutschen Kultur einverleiben. Sie wird dadurch den Deutschen ihre großen Persönlichkeiten, ja ihre eigene Volksseele nahebringen; und die Theosophie selbst wird von dieser Seite die schönste Befruchtung erfahren. So wahr es ist, daß das deutsche Leben von der Theosophie viel zu erwarten hat, so wahr ist es auch, daß es selbst ein gutes Scherflein zu der theosophischen Weltbewegung beizubringen hat.