Theosophischer Kongress in Amsterdam | 1904

Rudolf Steiner, Der theosophische Kongress in Amsterdam

Zeitschrift Luzifer, Juni 1904

Vom 19. bis zum 21. Juni 1904 hielt in Amsterdam die Föderation der europäischen Sektionen der Theosophischen Gesellschaft ihren Kongress ab. Die Mitglieder der holländischen Sektion hatten die Aufgabe, alle Arbeiten zu übernehmen, die am Versammlungsorte zu leisten sind. Und sie haben sich dieser wahrhaft nicht leichten Aufgabe in einer Art unterzogen, die ihnen die volle Anerkennung und den wärmsten Dank der europäischen Sektionen, die diesmal ihre Gäste waren, sichern muss. Sie verstanden es, die dreitägigen Verhandlungen in würdigster und inhaltreichster Weise anzuordnen; und zwischen die eigentlichen   theosophischen Zusammenkünfte künstlerische Darbietungen einzuschieben, welche musikalische und deklamatorische Leistungen brachten. Diese Darbietungen wurden nicht mit fremden Künstlern, sondern von den Mitgliedern der holländischen Sektion selbst veranstaltet. Mit inniger Befriedigung nur kann man an das zurückdenken, was da geboten worden ist. Es hat Zeugnis abgelegt für die unermüdliche Arbeit, für die erfolgreiche Propaganda der großen spirituellen Bewegung in Holland. Diese zählt dort bereits fast achthundert Mitglieder.

Es soll nun der Verlauf des Kongresses mit einigen Strichen gezeichnet werden. – Den Vorsitz führte Annie Besant. Sie ist vor wenigen Wochen von einem achtzehn Monate dauernden Aufenthalte in Indien wieder nach Europa zurückgekehrt. Schön war es, dass sie die Arbeiten der Versammlung führen konnte. Jeder, der den wahren Sinn der wichtigen spirituellen Bewegung begreift, die in der theosophischen Bewegung verkörpert ist, weiß das. Nach dem Tode von H. P. Blavatsky ging die geistige Führung der Gesellschaft auf Annie Besant über. Dies muss zum guten Karma der Gesellschaft gerechnet werden. In allem, was von dieser Frau ausgeht, lebt die Kraft, von der die Gesellschaft gelenkt sein muss, wenn sie ihre Mission erfüllen soll. Diese Mission besteht ja darin, die gegenwärtige Zivilisation zum spirituellen Leben zu erheben. Diese Zivilisation hat ja Unsägliches geleistet an intellektueller und materieller Kulturarbeit. Sie hat den Gesichtskreis und die äußere Arbeit der Menschheit ungeheuer erweitert und wird ihn noch immer mehr erweitern. Die geistige Vertiefung musste dabei notwendig zurückbleiben. Das neunzehnte Jahrhundert entbehrte der Richtung auf das Geistige, es fehlte ihm das spirituelle Leben, das früheren großen Epochen der Menschheitsentwickelung die Impulse gab. Das war notwendiges Schicksal der Kulturentwickelung. Denn, wenn sich des Menschen Kraft nach einer Seite besonders auslebt, muss sie ihre Tätigkeit nach der anderen etwas entziehen. Gegenwärtig aber ist wieder der Punkt eingetreten, wo spirituelles Leben unserer Kultur zugeführt werden muss, soll sich diese nicht ganz veräußerlichen, und die Menschheit nicht den Zusammenhang mit den Erlebnissen des Geistes verlieren. Diese Mission der Theosophischen Gesellschaft drückt sich nun ganz und gar aus in allem, was Annie Besant tut und spricht. Die höchste Aufgabe unserer Zeit ist der innerste Impuls ihrer eigenen Seele. Wissen und Wollen, Erkenntnis und Ideal unserer Zeit vereinigt sich in Annie Besant, um befruchtet durch ihr eigenes, hochentwickeltes spirituelles Leben als Kraft von ihr auszugehen und sich als solche ihren Mitmenschen mitzuteilen. Wo sie spricht, wird der Geist der Zuhörer zu den Höhen göttlicher Erkenntnis erhoben und deren Herz erfüllt von Begeisterung für die geistigen Strömungen der Menschheit. Und so war es, als sie ihre herrliche Eröffnungsrede auf dem Amsterdamer Kongresse hielt. Die Zeichen stellte sie hin, unter denen die Arbeit der Gesellschaft sich vollziehen muss. Die Frage nach dem »Warum« und »Wozu« der Versammlung wurde von ihr in großen Zügen beantwortet. Als einen Teil der großen geistigen Bewegung, welche heute die ganze Welt ergreift, bezeichnete sie die theosophische Bewegung. Die Spiritualisierung der ganzen Zivilisation muss erreicht werden. Ein Blick auf diese Zivilisation lehrt das. Im Materiellen lebt sich diese Zivilisation aus. In einer Wissenschaft, die das Materielle zu begreifen sucht, in einer Industrie und Technik, welche dem äußeren Leben dient, in einem Verkehr, welcher die materiellen Interessen der ganzen Erde immer mehr zu gemeinsamen macht. Aber all dem fehlt das Spirituelle. Unser Wissen ist ein Verstandeswissen, unsere kommerzielle Blüte fördert das äußere Wohlergehen. Aber diese Wissenschaft einerseits und der materielle Wohlstand andererseits sind nur eine äußere Form der Kultur, nicht deren inneres Leben. Zu allem, was wir erobert haben, muss das Herz, das Leben hinzukommen. Wir müssen wieder in unseren Willen das göttliche Ideal aufnehmen; dann wird alles Äußere nicht mehr Selbstzweck, sondern nur das äußere Kleid, nur die Form der Zivilisation sein. Der Geist muss den Körper unserer Kultur erfüllen, wenn diese bestehen soll. Und um diesen Körper mit dem Geiste zu erfüllen, ist die theosophische Bewegung ins Leben gerufen worden. Sie geht aus von den ältesten Gedanken der Menschheit, von jener Weisheit, welche in Urzeiten unser Geschlecht heraufgehoben haben auf die jetzige Stufe seines Bewusstseins, und welche immer wirksam waren bei allen großen Fortschritten. Diese Gedanken, diese Weisheit sind ihrem Wesen nach so alt wie die Menschheit. Nur ihre Formen müssen sich ändern nach den verschiedenen Bedürfnissen der verschiedenen Zeiten.

Nicht einer äußeren zufälligen Entwickelung schreibt die Theosophie den Ursprung der Weisheit zu. Sie leitet sie vielmehr ab von der Brüderschaft der großen Führer der Menschheit. Es sind das die Wesen, welche den hohen Grad von Vollkommenheit schon in der Vergangenheit erreicht haben, welchem der Durchschnittsmensch in der Zukunft zustrebt. Solche vorgeschrittene Brüder des Menschengeschlechts verwenden ihren Grad von Vollkommenheit, um dem übrigen Geschlecht zum Fortschritte zu helfen. Ihre Arbeit geschieht im Verborgenen. Sie muss im Verborgenen geschehen, denn sie hegt zu hoch, um von der großen Masse verstanden zu werden. Sie sind die Lenker der göttlichen Ideale. Von Zeit zu Zeit schicken sie ihre Sendboten in die Welt, um dieser die großen Kulturimpulse zu geben. Solchen Impulsen verdanken die großen Weltreligionen ihren Ursprung; es verdanken ihnen alle Kulturerrungenschaften ihre Grundlagen.

Ein solcher Impuls ist in die Welt gesandt worden in der letzten Zeit und hat zur Begründung der Theosophischen Gesellschaft durch H. P. Blavatsky und H.S. Olcott geführt. Sie will der Menschheit wieder zum Bewusstsein bringen, dass größer als der Ausdruck der Gedanke, größer als die äußere Form der Geist ist. Sie will zeigen, dass der Wissenschaft nicht bloß die Erkenntnis der sinnlichen, sondern auch diejenige der übersinnlichen Welten wieder erobert werden muss, dass das Herz sich nicht allein an die materiellen Güter hängen, sondern dass es sich dem göttlichen Ideale öffnen soll. Über allem Gewinn, den der einzelne aus unseren gegenwärtigen Kulturmitteln ziehen kann, steht der allgemeine geistige Aufschwung der ganzen Menschheit. Alles, was die Menschheit an Wohlstand erstrebt, soll sie nur deshalb erstreben, um dem Geiste auf dieser Erde eine Wohnung zu bauen. Und diese Wohnung ist nur eine würdige, wenn sie von der Schönheit durchleuchtet wird. Schönheit ist aber nur möglich, wenn sie von dem Geiste ausströmt. Unsere materielle Kultur kann keine wahre Kunst haben, wenn sie nicht wieder einen wahren Glauben erobert. Aus der Kunst des Mittelalters leuchtet uns der Glaube der mittelalterlichen Menschheit entgegen. Seine Maler ließen sich begeistern von dem religiösen Empfinden, das in ihrem Herzen lebte. Der Inhalt des Glaubens verlieh den Linien und Farben der Künstler Sinn und Bedeutung. Einen neuen Gedankengehalt, angemessen dem Vorstellungsvermögen der gegenwärtigen Menschheit, will die Theosophie zur Geltung bringen. Und der neue Gedankengehalt wird der Schöpfer einer neuen Kunst sein. Das ist eine Aufgabe unserer Zeit. Alle edleren Geister fühlen das. Das Streben dahin ist überall bemerkbar. Die Theosophische Gesellschaft will Führer, Vortrab in dieser Bewegung sein. Sie will einzelne Männer und Frauen begeistern für dies Ziel, das gegenwärtig so deutlich empfunden wird.

Und damit vereinigt sie das Streben nach Toleranz, nach allgemeiner Menschenliebe. Diese waren immer die Kräfte, aus denen die großen Fortschritte der Menschheit hervorgegangen sind. Was einzelne Kulturbewegungen anstreben, das will die theosophische Strömung zu einer großen Einheit bilden. Sie will die Engherzigkeit, die Unduldsamkeit überwinden. Denn nur im vereinten Streben kann die Menschheit heute erreichen, was ihr Ziel ist. Die Theosophische Gesellschaft besteht nicht zum egoistischen Streben ihrer Mitglieder. Es ist ein Irrtum, wenn man sich ihr anschließt zum Zwecke der eigenen Förderung. Sie will für die Menschheit da sein, sie will in deren Dienst arbeiten. Man soll Mitglied der Gesellschaft werden nur, um ein Kanal zu sein, durch den ein Wissen strömt, das den Menschheitsfortschritt fördert. Die Gesellschaft wächst nicht, wenn sich ihre Mitgliederzahl täglich vermehrt, sondern wenn in diesen Mitgliedern mit jedem Tage das Vertrauen, die Einsicht in ihre erhabene Aufgabe zunimmt. Die Rechtfertigung der Gesellschaft liegt in der Änderung, die in der menschlichen Denkweise sich in den letzten dreißig Jahren vollzogen hat. Nicht mehr sieht man heute mit Hohn auf diejenigen, welche ihren Blick nicht mehr bloß auf die materielle Seite der Kultur lenken. Das Herz beginnt sich zu erweitern, und man hat wieder etwas übrig für diejenigen, die dem Geiste zustreben. Unser Materialismus wurde so mächtig, weil unsere Devotion so gering geworden war. Der Mensch aber, der nicht anbetend zu den geistigen Höhen aufzusehen vermag, verschließt sich. Die Devotion aber öffnet Herz und Sinn. Wir erheben uns zu dem, was wir in hingebender Liebe und Hochschätzung ansehen. Der Ruf nach solcher Vertiefung ist an die ergangen, die sich in der Theosophischen Gesellschaft vereinigt haben; sie sollen gute Steuerleute sein für den Weg, welcher der gegenwärtigen Zivilisation vorgezeichnet ist.

Die einzelnen Sektionen waren durch ihre Generalsekretäre vertreten, die englische durch Bertram Keightley, die holländische durch W.B. Fricke, die französische durch Dr. Th. Pascal, die deutsche durch Dr. Rudolf Steiner. Leider konnte der Generalsekretär der italienischen Sektion, Decio Calvari, nicht anwesend sein. – Die Geschäfte des Kongresses führte Johan van Manen, der auch in der Sitzung am 19. Juni 1904 Vormittag seinen Bericht gab. Auf seine Tätigkeit muss besonders hingewiesen werden. Eine unermessliche Arbeitslast war ihm aufgebürdet während der Vorbereitungen zur Versammlung sowohl, wie während dieser selbst. Man konnte die Opferwilligkeit, Umsicht und Energie dieses Mitgliedes der Theosophischen Gesellschaft nur bewundern.

Am 19. Juni abends wurde ein öffentlicher Vortrag veranstaltet. Annie Besant sprach über »die neue Psychologie«. In großen Zügen legte sie den Umschwung dar, der sich in den letzten vierzig Jahren in den herrschenden Anschauungen über das Wesen des Geistes vollzogen hat. Vor vierzig Jahren konnte sich der Materialismus in Männern wie Büchner und Vogt zu der Behauptung versteigen, das Gehirn sondere Gedanken ab wie die Leber Galle. Seit dieser Zeit ist man von dem Glauben abgekommen, dass man das Wesen des Geistes durch das Studium des Gehirnmechanismus erkennen könne. Man weiß heute, dass ein solcher Vorgang dem gleichen würde, wenn man durch das Studium der Hämmer und Tasten eines Klaviers in die Geheimnisse einer Mozartschen oder Beethovenschen Tonschöpfung eindringen wollte. Man hat die Erscheinungen des Traumlebens studiert, hat sich vertieft in diejenigen Bewusstseinserscheinungen, die in abnormen Zuständen des physischen Körpers auftreten. Dadurch hat sich die Überzeugung ergeben, dass das Geistige eine selbständige Wesenheit im Menschen ist, und dass die Art, wie dieses sich im gewöhnlichen Zustande betätigt, nur eine seiner Formen ist. Nur diese Form, die Äußerungsart ist bedingt durch die physische Einrichtung der menschlichen Sinne und des menschlichen Gehirnes. Es muss dem Wesen des Geistes zukommen, sich durch andere Instrumente in anderer Weise zu betätigen. Die experimentierende Wissenschaft hat so die Grundwahrheit aller tieferen religiösen Weltauffassungen bestätigt, dass der Geist im menschlichen Tagesbewußtsein nur eine seiner Offenbarungen hat. Sie hat gezeigt, dass durch gewisse Vorgänge (im Trance usw.) im Menschen Bewusstseinsformen auftreten, in denen er ein ganz anderer als in seinem sogenannten Normalbewusstsein ist. Damit ist es auch wissenschaftlich gerechtfertigt, wenn die Wahrheit nicht einzig durch die Bewusstseinsform gesucht wird, die uns im Alltag zukommt, sondern wenn wir uns zu höheren Bewusstseinsformen erheben, um die höheren Welten kennenzulernen.

Die übrigen Arbeiten des Kongresses wurden in der Form erledigt, dass nach sachlichen Gesichtspunkten Departements gebildet wurden, in denen entsprechende Vorträge gehalten wurden. Es zeigte sich dabei, wie die Theosophie ihre Arbeit bereits über alle Zweige des modernen Geisteslebens, und auch über die sozialen Ideale ausgedehnt hat. Die Theosophen suchen eben in allen Zweigen der Kultur die Tauglichkeit ihrer Ziele zur Geltung zu bringen, und sie suchen andererseits überall die Quellen, um ihre Gedanken und Ideale den Bestrebungen der Gegenwart einzugliedern. Die einzelnen Departements waren die folgenden: 1. Wissenschaft; 2. Vergleichende Religion; 3. Philologie; 4. Menschenverbrüderung; 5. Okkultismus; 6. Philosophie; 7. Theosophische Arbeitsmethode; 8. Kunst,

In der Wissenschaftlichen Abteilung wurde zuerst eine Arbeit Dr. Pascals über das »Wesen des Bewusstseins« vorgelesen. Der Verfasser hat in feinsinniger Art die theosophischen Grundgedanken mit dem modernen Vorstellen zu durchdringen verstanden. Es schloss sich daran eine Anregung Ludwig Deinhards (München). Er wies auf die experimentell festgestellten verschiedenen Bewusstseinszustände (multiplex personality) hin, erläuterte sie lichtvoll, und forderte diejenigen, welche höhere Bewusstseinszustände in sich entwickelt haben, auf, auch ihre Erfahrungen in den Dienst der theosophischen Grundanschauungen (Reinkarnation und Karma) zu stellen. Darauf folgte eine anregende Auseinandersetzung über die »Entwickelung einer zweiten Persönlichkeit« durch Alfred R. Orage (Leeds). Die beiden Ausführungen schlössen sich schön an das im Vortrage über »die neue Psychologie« durch Annie Besant Vorgebrachte. Aus den Verhandlungen dieser Abteilung kann nur noch angeführt werden, dass Emilio Scalfaro (Bologna), Arturio Reghini (Italien) und Mrs. Sarah Corbett (Manchester) Abhandlungen lieferten über wichtige Fragen des Raumes, der Materie und anderes. Die reiche Fülle des Dargebotenen kann in einem kurzen Referate um so weniger erschöpft werden, als Vorträge gleichzeitig in verschiedenen Sälen stattfanden und es dem einzelnen nur möglich war, einen Teil anzuhören. Es werden ja auch die Arbeiten in einem ausführlichen Kongressbericht (Jahrbuch des Kongresses) veröffentlicht und dadurch jedem zugänglich werden. Nur über einiges soll deshalb hier noch berichtet werden. In der Abteilung über, vergleichende Religion lag vor: »Die Religion der Zukunft – ein Ausblick des Vaishnavismus« von Purnendu Narayana Sinha (Indien).

In der Abteilung für »Menschenverbrüderung« lag eine Abhandlung über das Gemeinschaftsleben bei sogenannten Urvölkern vor von Mme Emma Weise (Paris). Arbeiten in dieser Art sind für den Theosophen aus dem Grunde wichtig, weil sie in Zustände zurückweisen, in denen das Prinzip der Verbrüderung als ein seelisches Naturgesetz in Menschenstämmen wirkte. Der Fortschritt musste notwendig zur Absonderung, zum Egoismus führen. Damit ist aber nur eine Durchgangsepoche gegeben. Die Absonderung muss durch selbstlose Hingabe, durch ethische Verbrüderung wieder, auf höherer Stufe, das erbringen, was einmal auf niedrigerer dem Menschen angeboren war. Mit dem sozialen Zusammenleben der Menschen beschäftigten sich die Ausführungen von D.A. Courmes (Paris) und S. Edgar Aldermann (Sacramento, Cal).

In der Abteilung »Okkultismus« sprach Annie Besant über das »Wesen des Okkultismus«. Sie wies auf den Ausspruch H.P.Blavatskys hin, dass Okkultismus das Studium des universellen Weltengeistes in aller Natur sei. Der Okkultist erkennt, daß allem, was man in der Welt wahrnehmen kann, ein universeller Geist zugrunde liegt; und dass die Welt der Erscheinungen nur die Formen, die Ausdrucksweisen dieses verborgenen (okkulten) Weltengeistes gibt. Diese Überzeugung finden wir in allen großen Weltreligionen ausgesprochen, und die Okkultisten finden die wirklichen Grundlagen der Religionen durch ihre eigene Erfahrung bestätigt. Die Verstandeswissenschaft kann nur die Außenseite der Welt erkennen. Sie spricht von Kräften und Gesetzen. Der Okkultist sieht hinter diese Kräfte und Gesetze. Und er nimmt dann wahr, dass diese nur die äußere Hülle darstellen für lebendige Wesenheiten, so wie des Menschen Körper seine Hülle für Seele und Geist darstellt. Von den niederen Bildnern, die sich hinter den Naturkräften verbergen, bis hinauf zu den erhabenen Weltengeistern, die er als Logoi anspricht, verfolgt der Okkultist, je nach seinem Vermögen, das geistige Reich. Aber damit er diese Welt als eine Wirklichkeit erkennen kann, muss er durch einen sorgfältigen Lehrgang gehen. Er muss zweierlei erreichen. Erstens eine solche Erweiterung seines Bewusstseins, daß dieses höhere Welten umfassen kann so, wie der gewöhnliche bewusste Verstand die physische Welt beherrscht. Zweitens muss er die höheren Sinne entwickeln, welche in diesen Welten wahrnehmen können, wie Augen und Ohren in der physischen Welt wahrnehmen. Das erste Ziel, die Erweiterung des Bewusstseins, hängt davon ab, dass der Mensch seine Gedanken beherrschen lernt. Im gewöhnlichen Leben wird der Mensch von seinen Gedanken beherrscht. Sie kommen und gehen und schleppen das Bewusstsein dahin und dorthin. Der Okkultist muss Herr über den Verlauf seiner Gedanken sein. Er regelt ihren Verlauf. Er hat es in der Hand, welchen Gedanken er Einlass gewähren will, welche er abweisen will. Dieses Ziel kann nur durch die allersorgfältigste Selbsterziehung erreicht werden. Hat man sich auf diese Art vorbereitet, dann kann man daran gehen, die höheren Sinne auszubilden. Solange der Mensch noch unter dem Einfluss seiner Leidenschaften, Begierden und Triebe steht, kann ihm der Besitz höherer Sinne nur schädlich sein. Ein reines, selbstloses Leben ist beim Okkultisten selbstverständlich. Die persönlichen Wünsche, die er von sich aus hegt, gestalten sich zu Formen in den höheren Welten. Von diesen Formen ist der Mensch selbst der Urheber. Beginnt er diese Formen zu sehen, so ist er der Gefahr ausgesetzt, dass er seine eigenen persönlichen Wunsch- und Begierdenschöpfungen für objektive Wirklichkeiten hält. Dem Durchschnittsmenschen sind diese Erzeugnisse seines Wunsch- und Begierdenkörpers verborgen. Sollen sie den entwickelten höheren Sinnen nicht zur Quelle schwerer Irrtümer und Illusionen werden, so müssen sie aus dem Blickfeld weichen. Der Okkultist muss persönlich wunschlos sein. Eine weitere Gefahr besteht darinnen, dass der Mensch die Fragmente höherer Welten, die sich seinen geöffneten Augen bieten, für erschöpfende Wirklichkeiten hält. Alles das muss der Okkultist erkennen lernen.

Was die Entwicklung der okkulten Fähigkeiten besonders stört, ist die Hast und Eile, mit der manche Schüler vorwärts dringen wollen. Diese stammen aus der persönlichen Ungeduld und Unruhe. Der Okkultist aber muss eine vollständige innere Ruhe und Geduld entwickeln. Er muss warten können, bis der rechte Zeitpunkt der Inspiration gekommen ist. Er muss in Geduld harren, bis ihm gegeben wird, was er sich nicht in Begierde nehmen soll. Er muss alles tun, damit die Stimmen aus der geistigen Welt im rechten Augenblicke zu ihm sprechen können; er darf aber auch nicht den leisesten Glauben haben, dass er diese Stimmen herbeizwingen könne. Wer sich im Stolze erhebt, weil er mehr zu wissen glaubt als andere, der kann nicht Okkultist werden. Deshalb sprechen die Okkultisten von der Häresie des Separatismus. Wenn der Mensch etwas für sich haben will, wenn er nicht alles in Gemeinschaft besitzen will, so ist er für den Okkultismus unreif. Jede Absonderung, alles Streben nach persönlichem Eigennutz, auch wenn dieser auf das höchste Geistige geht, tötet die okkulten Sinne. Die Gefahren des okkulten Pfades sind groß. Geduld und Selbstlosigkeit; Opferwilligkeit und wahre Liebe nur können den Okkultisten machen.

Eine Zuschrift Leadbeaters, welche in dieser Abteilung vorgesehen worden ist, hatte unter anderem interessante Ausführungen über die Astralformen, welche durch die musikalischen Kunstwerke hervorgerufen werden. Man kann eine Sonate Beethovens, ein Klavierstück Mozarts charakterisieren durch die Architektur, die der Hellseher im Astralraum davon wahrnehmen kann.

In der Abteilung »Philosophie« trug Dr. Rudolf Steiner über »Mathematik und Okkultismus« vor. Er ging davon aus, dass Plato von seinen Schülern eine mathematische Vorbildung verlangte, dass die Gnostiker ihre höhere Weisheit als Mathesis bezeichnet und die Pythagoreer in Zahl und Form die Grundlage alles Seins gesehen haben. Er erläuterte, dass sie alle nicht die abstrakte Mathematik im Sinne gehabt haben, sondern dass sie das intuitive Schauen des Okkultisten meinten, der in den höheren Welten die Gesetze mit Hilfe einer spirituellen Empfindung wahrnimmt, die im Geistigen das vorstellt, was die Musik für unsere gewöhnliche Sinnenwelt ist. Wie die Luft durch Schwingungen, welche sich in Zahlen ausdrücken lassen, die musikalischen Empfindungen erregt, so kann der Okkultist, wenn er sich durch die Erkenntnis der Zahlengeheimnisse dazu vorbereitet, in den höheren Welten eine spirituelle Musik wahrnehmen, die sich bei besonders hoher Entwicklung des Menschen bis zur Empfindung der Sphärenmusik steigert. Diese Sphärenmusik ist kein Phantasiegebilde; sie bildet für den Okkultisten wirkliches Erlebnis. Durch die Einverleibung der Mathesis in sein eigenes Wesen, durch die Durchdringung seines Astral- und Mentalkörpers mit dem intimen Sinne, der sich in den Zahlverhältnissen ausspricht, bereitet sich der Mensch vor, verborgene Welterscheinungen auf sich wirken zu lassen.

In den neueren Zeiten hat sich der okkulte Sinn aus den Wissenschaften zurückgezogen. Seit Kopernikus und Galilei ist die Wissenschaft auf die Eroberung der physischen Welt bedacht. Aber es ist im ewigen Plane der Menschheitsentwickelung gelegen, dass auch diese physische Wissenschaft den Zugang zur geistigen Welt finden kann. In dem Zeitalter der physischen Forschung ist die Mathematik bereichert worden durch Newtons und Leibnizens Analyse des Unendlichen, durch die Differential- und Integralrechnung. Wer nun nicht nur abstrakt zu verstehen, sondern innerlich zu erleben sucht, was ein Differential wirklich darstellt, der prägt sich ein sinnlichkeitsfreies Anschauen ein. Denn im Differential wird die sinnliche Raumanschauung selbst im Symbol überwunden, das Erkennen des Menschen kann für Augenblicke rein mental werden. Dem Hellseher offenbart sich das dadurch, dass die Gedankenform des Differentials nach außen offen ist, im Gegensatz zu den Gedankenformen, die der Mensch durch sinnliches Anschauen erhält. Diese sind nach außen geschlossen. So wird durch die Analysis des Unendlichen einer der Wege eröffnet, durch die sich die höheren Sinne des Menschen nach außen öffnen. Dem Okkultisten ist bekannt, was für ein Vorgang mit demjenigen der Chakras (Lotosblumen) sich vollzieht, das zwischen den Augenbrauen sitzt, wenn er den Geist des Differentials in sich entwickelt. Ist nun der Mathematiker ein selbstloser Mensch, so kann er das, was er auf diese Art erringt, auf dem allgemeinen Altare der Menschenverbrüderung niederlegen. Und aus der scheinbar trockensten Wissenschaft kann eine wichtige Quelle für den Okkultismus werden.

In derselben Abteilung sprach Gaston Polak (Bruxelles) über Symmetrie und Rhythmus im Menschen. Es war interessant, diese Auseinandersetzungen zu hören über die Art, wie die menschliche Wesenheit sich einfügen lässt in die allgemeinen großen Weltgesetze. Verlesen wurde eine Abhandlung von Bhagavan Das (Benares) über die «Beziehung zwischen Selbst und Nicht-Selbst». Da diese Abhandlung bald in Buchform vorliegen wird, kann hier von einer Inhaltsangabe abgesehen werden, die auch durch die subtile Form der Gedankengänge recht schwierig sein würde.

In der Abteilung über die »Methode des theosophischen Arbeitens« waren die Ausführungen von Mrs. Ivy Hooper (London) von großer Wichtigkeit. Sie betonte, dass das Wesentliche für den Theosophen nicht die dogmatischen Formen seien, in denen der Geist, das spirituelle Leben zum Ausdruck gebracht werden, sondern dieser Geist, dieses Leben selbst. Es ist verdienstlich, dass dies mit solcher Klarheit einmal gesagt worden ist. Wir können ebenso mit christlichen, wie mit orientalischen Symbolen den Geist zum Ausdrucke bringen, wenn wir nur diesen Geist bewahren. Wo die christliche Symbolik besser verstanden wird, mag sich der Theosoph dieser bedienen. Denn man kann ein guter Theosoph sein, ohne von den Dogmen etwas zu wissen, in denen notwendig im Anfange die spirituelle Weisheit gelehrt worden ist. Die Theosophische Gesellschaft soll Trägerin dieser Weisheit sein; aber sie soll die Formen wandeln je nach der Notwendigkeit. Buddhistische Formeln und orientalische Dogmen dürfen nicht mit theosophischer Gesinnung verwechselt werden. Die Theosophie hat keine Dogmatik. Sie will nur spirituelles Leben sein.

Eine Abteilung über »Kunst« hat gezeigt, wie auch in diesem Gebiete die theosophische Weltanschauung lichtbringend wirken kann. Jean Delville (Bruxelles) zum Beispiel entwickelte Geistvolles in seinem Vortrage über die «Mission der Kunst». Ludwig Deinhard (München) legte bei dieser Gelegenheit eine Abhandlung des deutschen Malers Fidus vor, in welcher sich dieser über seine theosophische Auffassung vom Kunstgeheimnisse ausspricht.

Am Dienstagnachmittag schloss mit einer kurzen Ansprache Annie Besants und mit den Ausdrücken des Dankes an unsere holländischen Theosophen von seiten der anwesenden Generalsekretäre der Kongress. Am Abend desselben Tages fand dann noch ein öffentlicher Vortrag Dr. Hallos statt über die menschliche Aura, der durch Lichtbilder erläutert wurde.

Eine Ausstellung von Kunstwerken, die für den Theosophen besonderes Interesse haben, war veranstaltet worden und konnte während der ganzen Dauer des Kongresses besichtigt werden.

Als Ort für den Kongress im nächsten Jahre wurde London bestimmt.

Quelle: GA 34, S. 539-552