Rudolf Steiner: Über Fichtes »Wissenschaftslehre«.  Fragment eines Manuskriptes

EINLEITUNG

I.

Wenn das Bewußtsein des Menschen erwacht, sieht er sich versetzt in eine Welt, deren Objekte ihm durch die Wahmehmung gegeben werden. Wie und auf welche Weise, wollen wir in einer späteren Untersuchung sehen. Doch der menschliche Geist bleibt beim Gegebensein nicht stehen, er geht weiter und will das Gegebene verstehen und begreifen. Er strebt nach Wissen. Wir haben es hier also mit zweierlei zu tun, mit einem Gegebenen, welches das erste ist; doch damit nicht zufrieden, braucht der Mensch noch ein zweites, das Wissen. Dies ist ein Gesuchtes, ein Erstrebtes. Allein man darf sich nicht denken, daß das Gesuchte etwa irgendwie bekannt sei, denn sonst würde man es eben nicht suchen, sondern es ist ein völlig unbekanntes, ein zu erwerbendes, das man noch niemals besessen hat. Dieses Streben des menschlichen Geistes bezeichnet seinen Charakter. Von der Erreichung dieses Erstrebten hängt die Befriedigung des Menschen ab, die er begehrt. Man möge die Welt- und Kulturgeschichte aufschlagen, auf welcher Seite man wolle, man findet dieses Streben nach einem gewissen Ziele auf jeder Seite. Die Dinge werden wahrgenommen, und man strebt, ihre Natur zu enträtseln, man strebt zu erkennen, »was die Welt im Innersten zusammenhält«. Man sehe einmal zu den alten Indem. Die Welt war ihnen gegeben, allein dabei konnten sie nicht stehen bleiben; sie suchten nach einem andern, nach einem, das ihnen nicht unmittelbar gegeben war, sondern mittelbar durch das Gegebene. Sie kamen auf Brahma und was sich an ihn alles anschließt. Wir sehen also, daß der Charakter des Strebens des menschlichen Geistes darinnen besteht, hinauszugehen über die gegebenen Objekte und ihre Natur zu ergründen.

II.

Das Wissen nun soll wahres Wissen sein, d. h. es soll das Wissen und Erkennen den Charakter der Gültigkeit tragen, oder mit andern Worten: das Wissen soll überzeugen. Es fragt sich nun: Wie kann ein Wissen überzeugen, wie können Erkenntnisse Gültigkeit haben? Über diese Frage wird in den einzelnen Wissenschaften nichts ausgemacht, weil dieselben es mit dem Wissen, insofern es Wissen von Gegenständen ist, zu tun haben, ohne die Grundlagen des Wissens selbst zu untersuchen. Da nun die letzteren keine der einzelnen Wissenschaften mit ihren Mitteln nachzuweisen vermag, so muß es für diese eine eigene Wissenschaft geben, eine Wissenschaft, in welcher von den Gründen der Überzeugung gehandelt wird.

Wir können eine solche Lehre als Wissenschaft vom Wissen selbst oder als Wissenschaftslehre bezeichnen. Es fragt sich vorerst, ob denn eine solche Wissenschaft Bedürfnis sei. Daß sie dieses ist, geht aus verschiedenen Tatsachen hervor. Einmal schon daraus, daß man, seitdem man angefangen hat zu denken, dies Bedürfnis verspürte. Das Bedürfnis aller Zeiten wäre wohl geeignet, allein die Notwendigkeit klar zu machen, daß erstlich ein solches Bedürfnis nicht erheuchelt oder erkünstelt sei, und dann aber auch, daß es einer Befriedigung bedarf. Eine zweite Tatsache ist wohl die, daß es ja schon Leute gegeben bat, die an der Möglichkeit jedes Wissens gezweifelt haben. Man muß sich nun vorerst klar werden, ob eine Wissenschaftslehre möglich sei, ob dem obigen Bedürfnisse abzuhelfen sei. Diese Möglichkeit ist aber ein notwendiges Postulat der menschlichen Vernunft. Wenn man nämlich die Möglichkeit einer Wissenschaftslehre leugnet, so kann man nichts anderes tun, als sich völlig auf den oben angedeuteten Standpunkt der Skeptiker stellen. Es muß eben etwas gewiß sein, weil etwas gegeben ist, und es handelt sich nur [darum] auszumachen, was denn eigentlich gewiß ist. Denn man nehme das Gegenteil an und sage: es ist nichts gewiß; so muß der Satz, wenn er allgemein gelten soll, vermöge seiner Natur auf sich selbst anwendbar sein, d. b. er ist selbst nicht gewiß. Er hebt also sich selbst auf, das aber nur insoferne, als er selbst gültig ist, er ist also ein vollkommener Widerspruch, und es ist mit ihm nichts anzufangen. Wir müssen also ebenso die Möglichkeit wie die Notwendigkeit einer Wissenschaftslehre als ein Postulat der Vernunft zugestehen. Damit ist die Aufgabe des Wissens überhaupt und zugleich die Aufgabe der Wissenschaftslehre festgestellt.

III.

Die Erkenntnisse haben das Eigentümliche an sich, daß sie erst entstehen müssen, daß sie sich entwickeln. Daraus gehen verschiedene Schwierigkeiten hervor, namentlich, wenn wir berücksichtigen, daß die Erkenntnisse verschiedener Menschen zu verschiedenen Zeiten verschieden sind, wenn wir ferner berücksichtigen, daß die Weltgeschichte uns zu verschiedenen Zeitaltern ganz verschiedene Ansichten der Menschen an die Hand gibt, welche zur Zeit ihres Auftretens doch immer den Anspruch der Gültigkeit erheben. Was sollen wir nun tun: unsere jetzigen Anschauungen als die allein richtigen anschauen und alle früheren als Irrtümer? Oder soll man an der Gültigkeit unserer Anschauungen überhaupt verzweifeln? Beides anzunehmen wäre unmöglich, das eine, wie das andere kann die Probe vor der Vernunft nie und nimmermehr bestehen. Das letztere hat ja oben schon seine Erledigung gefunden, das erstere läßt die Frage übrig: Ja, wenn alle früheren Anschauungen falsch waren, warum sollten gerade die unsrigen die richtigen sein? Es scheint kein anderer Ausweg zu sein, als anzunehmen, alle diese Anschauungen seien gültig. Dann hat man aber zugleich zugegeben: alles ist richtig, es gibt keinen Irrtum. Nun, das Bedenkliche dieser Annahme springt auffällig in die Augen. Es bleibt nur noch eine Hypothese übrig, welche sich so formulieren läßt, es haben alle diese Anschauungen etwas Wahres und Gültiges, d. i. die Wahrheit ist einer Modifikation fähig. Dieses ist bis jetzt nur als eine Hypothese hingestellt, und es wird aus derselben gar nichts gefolgert.

IV.

Weder die Anschauungen des einzelnen Menschen, noch jene ganzer Kreise stehen, wenn sie nacheinander auftreten, außer Zusammenhang: sie entwickeln sich eben eine aus der anderen und sich [sind] durch einander bedingt. Man kann dieses immer und überall beobachten. Die einzelnen Anschauungsweisen bilden eben Stufen, deren jede folgende aus der vorhergehenden herauswächst. Diese nahe Verwandtschaft der Anschauungen läßt uns nun wohl vorläufig ahnen, daß sie doch alle etwas mit einander gemein haben könnten, welches eben nur im Laufe der Zeiten modifiziert wird. Es könnte also wohl sein, daß der Kern unwandelbar sei, daß derselbe aber nur verschiedene Gestalten annehme, welche bedingt sind durch den engeren oder weiteren Gesichtskreis jedes einzeln(en) oder ganzer Völker, so daß, was sich verändert, zwar gültig sei für einen früheren Gesichtskreis, doch nicht mehr für einen späteren. In der Tat zeigt die Erfahrung, daß unsere Annahme eine durchaus erlaubte sei. Dies ist die eine Seite der Verwandtschaft der Anschauungen verschiedener Zeiten, Menschen und ganzer Völker. Wir gehen zur Darlegung einer zweiten.

V.

Eine Anschauung ist eine solche nur insoferne, als sie einer Person zukommt, d.h. insoferne sie von derselben gebildet wird. Person ist nun etwas ganz bestimmtes, was kein anderes sein kann und deren Bestimmtheit eben darinnen besteht, daß sie auf eine gewisse Weise ihre Anschauungen bildet. Sie kann sie nicht heute so, morgen so, nicht bei dieser Gruppe von Wahrnehmungen so, bei jener so bilden, sondern sie muß sie in einer ihr eigentümlichen Weise bilden, und dadurch bekommen sie einen ganz bestimmten Charakter, sie sind eben Anschauungen der Person und deren Bildungsgesetzen unterworfen. Was sie durch diese Gesetze werden, das sind sie als Anschauungen, und etwas anderes können sie nicht sein. Diese Bildungsgesetze drücken ihnen also den Stempel auf, sie machen sie erst zu dem, was sie sind, und insoferne sind und müssen sie auch verwandt sein. Sie sind verwandt, weil sie auf demselben Wege entstanden sind. Diesen Weg, auf dem alle Anschauungen entstanden sind und noch entstehen, zu erforschen ist nun das Geschäft der Wissenschaftslehre. Es ist also von vornherein klar, daß die Wissenschaftslehre ihren Ausgang von der Person zu nehmen haben wird. Doch wir wollen die Sache noch von einer anderen Seite beleuchten, um uns über die Quelle der Wissenschaftslehre Aufschluß zu verschaffen.

VI.

Erfahrung kann die Quelle nicht sein. Denn man kann durch Erfahrung doch nicht bestimmen, welche Überzeugungskraft für uns die Erfahrung hat. Es reichen überhaupt alle Mittel, welche die einzelnen Wissenschaften anwenden, nicht hin, um in der Wissenschaftslehre das geringste auszumachen. In ihr soll ja erst die Gültigkeit der einzelnen Wissenschaften nachgewiesen werden, und man darf doch nicht dasjenige, was man bezweifelt, zum Behufe des Herauskommens aus dem Zweifel verwenden. Die Wissenschaftslehre muß somit eine wesentlich andere Quelle als alle anderen Wissenschaften haben. Wollen wir dieser Quelle auf die Spur kommen, so müssen wir uns fragen, was denn zum Zustandekommen einer Erkenntnis eigentlich gehört.

Dazu gehört 1.offenbar ein zu erkennender Gegenstand; davon können wir aber, wie wir schon gesehen haben, nicht ausgehen. 2. der Akt des Erkennens selbst. Da es sich aber darum handelt eben zu untersuchen, welches die Grundlagen der Gültigkeit von Wahrheiten sind, so können wir vom Akt der Erkenntnis nicht ausgehen und es bleibt uns daher nur noch: Der Erkennende. In diesem müssen wir die Grundlagen der Erkenntnisse, insoferne sie als gewiß angesehen werden sollen, suchen. Die Quelle der Gewißheit und somit auch der Wissenschaftslehre ist die erkennende Person. Mit diesen Worten ist der Standpunkt, der hier eingenommen wird, gekennzeichnet. Nicht positive Wahrheiten in dem Sinne, wie es die einzelnen Wissenschaften machen, abzuhandeln, betrachten wir als unsere Aufgabe, sondern zu zeigen, wie solche Wahrheiten möglich sind, wie sie entstehen können und welche Bedeutung ihnen zukommt.

Die meisten philosophischen Systeme haben den Fehler an sich, daß sie Wahrheiten abzuleiten unternehmen, ehe sie noch untersuchen, wie Wahrheit selber entsteht, sowie sie es unternehmen festzustellen, was gut oder schön ist, bevor sie die Frage sich aufwerfen, wie ist ein Gutes, ein Schönes notwendig. Die Wissenschaftslehre kümmert sich nicht nach dem Was der Erkenntnisse, sie handelt nur von dem Wie derselben. Alle einzelnen Wissenschaften außer der Wissenschaftslehre haben das Eigentümliche an sich, daß sie nur entstehen können, wenn der Erkennende scheinbar aus sich herausgeht, wenn er gegenüber den Objekten scheinbar verschwindet; für die Wissenschaftslehre dagegen ist charakteristisch, daß der Erkennende nicht aus sich herausgeht. Wir sehen also, daß in der Mannigfaltigkeit der Anschauungen das eigene Ich der erkennenden Persönlichkeit einen ruhigen Pol bildet, von dem wir zunächst auszugehen haben.

I. KAPITEL

VII.

Die Lehre von der Person oder dem »Ich«

Unser Streben muß zunächst dahin gehen, das Wesen dieses Ich zu begreifen. Der Mensch sagt von sich: ich denke, ich begreife, ich schaue an, ich fühle, ich will u.s.f.: er bezieht sich bei alle dem auf einen gewissen Punkt, den er sein »Ich« nennt. Dieses Ich ist immer ein und ebendasselbe, so oft es von sich behauptet: ich denke, ich handle etc. Wir können gar nicht einmal annehmen, daß in dem Ich eine Spaltung eintritt, wenn das Ich ein Ich bleiben soll. Angenommen nämlich, das Ich, welches denkt, sei ein anderes als jenes, welches will, so müssen wir uns die Sache folgenderweise vorstellen. Angenommen das erste Ich, welches denkt, sei A, seine Handlung a, das zweite Ich, welches handelt, sei B, seine Handlung sei b. Soll für A b überhaupt eine Bedeutung haben, so muß es auch für A etwas sein, d.h. es muß eingehen in die Bildungsgesetze von A. z. B. in der Weise α; und soll a etwas B sein, so muß es in dessen Bildungsgesetze eintreten, etwa in der Weise β; wir können nun den ganzen Vorgang durch folgendes Schema versinnlichen.

Wir sehen, daß also für das eine Ich A, welches von B verschieden sein soll, die Handlungen des B nur dann eine Bedeutung haben, wenn es [sie] zu seinen Handlungen werden. Nennen wir das Ich, von dem hier die Rede ist, das reine Ich, so kommen wir zu dem Satze: Das reine Ich ist ein Unicum. Man halte dieses Ich wohl auseinander mit dem empirischen Ich, von dem wir noch werden zu sprechen haben. Was hier gemeint ist, ist die qualitative und numerische Identität des Ich mit sich selbst, abgesehen von allen Zeitverhältnissen, an welche natürlich hier gar nicht zu denken ist. Zweiheit des Ich würde es z. B. sein, wenn ich die Geschichte der alten Welt nach ganz anderen Gesetzen zu meinen Erkenntnissen machen würde, als jene der mittleren und neueren Zeit. Dies kann eben nicht sein, sondern es muß alles auf einen gemeinsamen Punkt, auf ein einheitliches Ich bezogen werden. Das Ich ist in aller Mannigfaltigkeit von Anschauungen, Erkenntnissen u.s.f. jener Brennpunkt, welchen zu ergreifen unmöglich ist, da er immer und immer nach rückwärts entschlüpft, wenn wir ihn ins Auge fassen wollen.

VIII.

Das hier gemeinte Ich ist wesentlich verschieden von dem empirischen oder psychologischen Ich. Dieses letztere setzt das erstere bereits voraus. Das psychologische Ich entsteht dadurch, daß ich alle meine Vorstellungen auf einen gemeinsamen Mittelpunkt beziehe, in dem sie sich durchkreuzen, und dieses Bezogensein der Vorstellungen auf einen gemeinsamen Mittelpunkt ist das psychologische Ich. Allein dem Bezogensein geht das Beziehen, der Tat das Tätigsein vorher und kann ohne dieses nicht stattfinden. Dieses psychologische Ich ist daher nicht mehr das ursprüngliche reine, sondern ein durch Reflexion entstandenes Ich, entstanden durch die Tätigkeit des reinen Ich. Das reine Ich ist weder, noch ist es irgend etwas im strengsten Sinne des Wortes. Sein ganzes ergreifbares Wesen ist gegeben durch sein Tätigsein, wir können nicht wissen, was es ist, sondern nur, was es tut. Wenn Fichte meinte, das reine Wesen des Ich sei das Setzen seiner selbst, so ist dieses sehr willkürlich gesagt, denn das Ich setzt nicht nur sich selbst, sondern es setzt auch noch anderes, wie Fichte selbst zugestehen müßte. In allen Fällen ist es aber immer tätig, sein ganzes Wesen besteht also in seiner Tätigkeit, was zum Ausdrucke gebracht werden kann indem Satze: Das Ich ist tätig. Alles, was nicht tätig wäre wie das Ich, wäre kein Ich. Daß man vom Ich nicht mehr erkennen kann als dieses, geht aus folgendem hervor. Was wir oben andeuteten, können wir hier deutlich aussprechen. Wenn das Ich erkennen will, so muß es ein Objekt in seine Tätigkeit des Erkennens aufnehmen; im obigen wird nun gefordert, daß es sich selbst als dieses Objekt aufnehme. Damit es sich erkennen kann, muß es nun eine Stufe höhersteigen, um aber sich zu erkennen, müßte es um eine Stufe herabsteigen, was offenbar unmöglich ist. Nicht[s] ist aber geeigneter, der für die ganze Sache wichtigsten Sache auf den Grund zu kommen, als gerade die obige Bemerkung. Es geht nämlich daraus mit vollständiger Klarheit hervor, daß das Ich nichts anderes ist, als zu was es sich selber macht. Da wir gesehen haben, daß das Ich nichts ist, was erfahren oder erkannt werden könnte, so kann es nur dasjenige sein, zu dem es sich selber macht. Ohne daß es sich zu etwas macht, ist das Ich gar nichts, es ist so gut wie nicht vorhanden. Es ist ein Fehler mancher philosophischer Systeme, daß sie dieses Wesen des Ich nicht gehörig klargelegt haben. Daß sie vielmehr das Ich als irgendetwas anderes hingestellt haben, denn als Ich, daß sie ferner annehmen, daß Ich sei noch etwas anderes, als zu was es sich selber macht; mag nun dieses andere sein, was es will, nur ist es kein Ich. Soll das Ich ein wollendes sein, so muß es sich zu einem wollenden machen und so mit aller seiner Tätigkeit. Sein »Was« ist sein eigenes Produkt. Man könnte bildlich sagen, das Ich gibt sich selbst sein Gepräge. Fichte kam dem Gesagten sehr nahe, allein er meinte, ein ganz bestimmtes Was, ein bestimmtes »Wesen« des Ich angeben zu können und zu müssen, was weder notwendig noch möglich ist, sondern man kann, wie es hier geschieht, auf dieses Was ganz verzichten, nur das muß man feststellen, daß ein solches Was des Ich durch das Ich selbst hervorgebracht werden muß.

Um Fichtes Gedankengang anzugeben kann man folgende bildliche Darstellung wählen.

Es sei A das Ich, dieses ist tätig und setzt sich selbst = A. Dies ist das Was, und die Handlung ist versinnlicht durch A = A; es sollte das Wesen des A eben im Setzen von A bestehen. Unseren Gedankengang kann man folgendermaßen bildlich darstellen.

Das Ich sei dargestellt durch A, es ist tätig in den Weisen α β γ und bekommt dadurch immer einen ganz bestimmten Charakter a, b, c ...; was den Gesamtcharakter A gibt. Wir behaupten nun: soll A, sowie auch a, b, c usw. wirklich für das Ich eine Bedeutung haben, so muß sich das Ich selbst zu a, b, c resp. A machen, ganz unentschieden, was a, b, c ... A sei.

IX.

Es kann hier sehr leicht eine Verwechslung stattfinden, wenn man das philosophische Nachdenken nicht streng vom gemeinen unterscheidet. Der Philosoph sucht nur dessen sich bewußt zu werden, was sowohl er, wie der Nicht-Philosoph tut, sowie ja auch der Naturforscher nur das erklären will, was er und auch der Nicht-Naturforscher wahrnehmen. Nicht etwas anderes tut der Philosoph als der Nicht-Philosoph, sondern er hat nur Bewußtsein von dem, was beide tun, während dies der letztere nicht hat. Aber es ist doch ein ganz wesentlicher Unterschied zwischen dem Naturforscher und dem Philosophen. Während nämlich der erstere sich seiner Gegenstände nur unmittelbar bemächtigen kann, nämlich, wie uns später vollständig klar werden wird, durch Aufnahme derselben in seine Tätigkeit, ist der Philosoph in der Lage, das zu behaupten, was er selber auch tut, und da seine Erkenntnisse nichts anderes sind als gemachte, d.i. vom Ich gemachte, sein Ich zugleich dasjenige ist, welches dieselben macht und nun sich nur bewußt wird, daß es dieselben macht, so kann er behaupten, daß das, was er sagt, so sein müsse, weil er derjenige ist, der es so macht, während der Naturforscher doch nur sagen kann, das, was er behauptet, erscheint ihm so, ist so in seine Tätigkeit aufgenommen. Daher kommt es, daß der Philosoph kritisch und dogmatisch zugleich sein kann. Man hat unter einem kritischen Verfahren dasjenige zu verstehen, welches bestimmt, wie etwas zu erkennen möglich ist. Unter einem dogmatischen Verfahren dasjenige, welches selbst Behauptungen aufstellt. Sowie wir das begriffen haben, erscheint uns Wissenschaftslehre als Kritizismus sofort als eine Unmöglichkeit. Denn um zu sagen, wie Erkenntnisse möglich seien, muß man selbst dogmatische Behauptungen aufstellen. Nun dürfen diese aber jener Untersuchung nicht vorangehen, doch ist sie aber ohne dieselben unmöglich. Wie die dogmatische Philosophie daran scheitert, daß man etwas behauptet, was man nicht behaupten darf, weil es vielleicht ganz unmöglich ist, dergleichen Sachen zu behaupten, scheitert kritische Philosophie daran, daß sie selbst dogmatisch sein muß. Eine reine kritische Philosophie ist daher eben so unmöglich, wie eine reine dogmatische.

X.

Wenn also Philosophie weder kritisch noch dogmatisch sein kann, so ist nur noch einiges möglich, wenn man nämlich nicht in den schon oben als völlig widersinnig nachgewiesenen Skeptizismus verfallen will: eine Philosophie, die kritisch und dogmatisch zugleich ist, und so ist es mit der Wissenschaftslehre wirklich; wir wollen untersuchen, wie dies sein kann. Indem die Wissenschaftslehre behauptet, das Ich ist nichts anderes als zu was es sich selber macht, ist sie dogmatisch, d.i. eigentlich das Ich ist dogmatisch; indem sie behauptet, daß es eben nur das ist und nichts anderes sein kann, als das, wozu es sich selber macht, ist sie kritisch. Sie ist, indem sie sich eines Prinzipes bemächtigt, welches sich selbst zu dem macht, was es sein kann, kritisch und dogmatisch zugleich, sie ist der einzige Mittelweg, der möglich ist. Die wahre Philosophie ist somit die Wissenschaftslehre, d. i. die kritisch dogmatische Philosophie.

II. KAPITEL

XI.

Die Lehre vom »Nicht-Ich«

Wir sahen bis nun, daß wir alles, was wir als zum Ich gehörig ansehen wollen, als dessen Tätigkeit zu bezeichnen haben. Aber die Tätigkeit als solche ist ganz leer und inhaltslos, sie muß erst ein bestimmtes Etwas in sich aufnehmen. Der reine Charakter des Ich wäre der der Tätigkeit, allein dieser tritt nur in einzelnen Tätigkeiten zu Tage. Allerdings wäre ein Tun, das nichts täte, »reiner Akt«, »bloßes Vermögen«, »tote Kraft«, ein Tun außer dem Tun, tatenlose Tat; keineswegs trifft dieser Tadel auch das in den empirischen Tätigkeiten erscheinende, vom Ich ausgehende Tätigsein. Sowie aber die Tätigkeit des Ich zu Tage tritt, scheint alsogleich ein fremdes Element, ein Element, welches dem Ich vollständig fremd und entgegengesetzt ist, in dasselbe einzutreten. Es fragt sich nun: wie kann ein solches fremdes Element in das Ich eintreten? Es erscheint dies völlig unbegreiflich und unseren obigen Erörterungen ganz entgegengesetzt. Denn tritt etwas fremdes ein, so ist das Ich nicht mehr durch sich selbst, was es ist, sondern durch ein anderes. Wir wollen uns dieses Verhältnis einmal beim Vorstellen im engeren Sinne klar machen. Zu jedem Vorstellen gehört ein Doppeltes, ein erkennendes Subjekt und ein zu erkennendes Objekt. Das erste ist das tätige, das zweite das leidende. Indem das eine vorstellt, wird das andere vorgestellt. Daß ein Objekt vorgestellt wird, ist Sache des Subjektes, daß ein Objekt vorgestellt wird, ist Sache des Objektes. Bin ich der Vorstellende und stelle ich eine Rose vor, so ist die Vorstellung der Rose mein Erzeugnis, die Vorstellung der Rose dagegen das Erzeugnis der Rose.

Wir wollen noch ein anderes Beispiel wählen. Indem ich sage: ich fühle, bin ich tätig, aber ich muß etwas bestimmtes fühlen, ich muß ein Objekt meines Gefühles haben. Dieses Objekt kann mir niemals durch das bloße »Ich« gegeben sein. Es entsteht hier überall wieder die Frage: wie kann etwas ganz fremdartiges in die Tätigkeit des Ich eintreten.

Hier kann nur das Ich selbst entscheiden, wie abzuhelfen ist, und da ist es denn alsogleich klar, daß es unmöglich ist, daß ohne Zutun des Ich ein fremdes Element in dasselbe eintrete. Es muß also durch das Ich eintreten, es muß umgewandelt werden von dem Ich zu seinem eigensten Wesen, damit das Ich bleiben könne, zu was es sich selbst macht. Dies geschieht in dem Bestimmen. In der Bestimmung sind nun diese zwei einander ganz entgegengesetzten Elemente vereinigt. Hier muß nun genau unterschieden werden: 1. Die Handlung des Bestimmens, 2. Die bestimmenden Glieder. Der bestimmenden Glieder sind jedesmal zwei: ein »Ich« und ein »Nicht-Ich«. Das, welches tätig ist, ist immer das Ich. Wir müssen hier vor allem zweierlei unterscheiden. Dies wird wohl am besten durch ein Schema deutlich gemacht.

Nehmen wir an, das Bestimmende sei das Ich, als tätiges bestimmendes. Das aufgenommene fremde Objekt sei A; das A ist also ein Nicht-Ich, es ist entstanden durch Bestimmung und zwar durch Bestimmung seitens des Ich, insoferne es durch die Tätigkeit desselben, und zwar in seiner ganzen Ausdehnung A entstanden, d.i. bestimmt ist, durch Bestimmung seitens eines anderen als das Ich und abgesehen vom Ich, insoferne es durch die Tätigkeit des Ich gerade A geworden ist. Wir wollen, um Worte zu haben, die erste Art der Bestimmung die tätige, die zweite die leidende nennen. In der Tat sind beide Arten der Bestimmung wesentlich von einander verschieden und dürfen nicht miteinander verwechselt werden. Es wurde oben von einem andern gesprochen, durch welches das Ich selbst bestimmen (kann), und das bedarf noch einer Erörterung [...].