Esoterik und sogenannte Moderne

von Lorenzo Ravagli

Die Unfähigkeit, den Akt der Konstitution des Esoterischen zu verstehen, ist kein persönliches Defizit Helmut Zanders, sondern eine Folge der neueren Geschichte des Abendlandes, die das Heilige profaniert und aus dem sozialen Leben vollständig verdrängt hat. Zander ist aber angesichts seines katholischen Bildungshintergundes und seiner derzeitigen Tätigkeit an der katholischen Universität Fribourg nichtsdestoweniger eine tragische Figur, die stellvertretend für das gegenwärtige wissenschaftliche Durchschnittsbewusstsein gegenüber Steiner die Unfähigkeit ausagiert, die konkrete Realität des Geistes begrifflich zu erfassen.

Noch in der Zeit der Religionskriege erhob das Arkanum, das Heilige, den Anspruch, die Gesellschaft zu durchdringen. Der Geist der Kritik hatte die Einheit des Sakralen zerstört, und im Protestantismus dem Anspruch der Kirche auf Universalität das Recht auf die subjektive Neuschöpfung des Wortsinns entgegengesetzt. Im Protestantismus drang erstmals das geschichtliche, empirische Subjekt in den vom Sakralen durchdrungenen sozialen Raum und löste die Lebenseinheit des Heiligen und Profanen auf.

Was der Protestantismus begonnen hatte, setzte die Aufklärung fort, die das Heilige entmythologisierte, und nicht nur aus dem sozialen Leben verdrängte, sondern ihm auch das Recht auf Existenz aberkannte. An die Stelle des geschichtsenthobenen Sakralen setzte sie das geschichtsverfallene Subjekt und die nationalen geschichtlichen Individualitäten, die sich allein aus dem Horizont des Profanen konstituierten.

Die französische Revolution versetzte der politisch verstandenen Sakralität des Königtums den Todesstoß und inthronisierte an dessen Stelle das sich selbst zur Herrschaft ermächtigende, einzige Subjekt der Geschichte, das Volk bzw. das in Staatsform verfasste Volk, die Nation. Dem Numinosen, das seine Legitimität durch die Berufung auf die Tradition, d.h. auf die ewige Gegenwart erwies, stellte sie die Vernunft entgegen, die sich aus dem Prozess der Geschichte und dem Gerede der Vielen stets von neuem konstituieren sollte.

Die Aufklärung entfesselte jene Furie des Verschwindens, von der Hegel gesprochen hat, den Geist der Kritik, dem alle traditionellen und sakralen Mächte zum Opfer fielen, indem er sie zwischen seinen Kiefern zerrieb. Die gesellschaftlichen Akte der »Zuweisung besonderer Bedeutung«, die dem Sakralen durch symbolische Handlungen und Insignien Jahrtausende seinen Herrschaftsraum gesichert hatten, wurden vollständig delegitimiert und auf dem Altar diesseitiger Interessen dargebracht.

Die Profanierung und Säkularisierung der abendländischen Gesellschaften war aber nicht das Ergebnis einer finsteren Verschwörung gegen Thron und Altar, sondern Folge einer geschichtlichen Bewegung, in der die auf Tradition fußende Sakralität in sich selbst zerfiel. Die Aufklärung war nichts als das Zerfallsprodukt ersterbender Sakralität. Die gesellschaftlichen Entwicklungen, die die aus ihrer Bindung an das Heilige freigesetzten Kräfte entfalteten, führten zu jenen Veränderungen der abendländischen Kulturen, die als Modernisierung bezeichnet werden.

Diese Modernisierung ist in all ihren Bestandteilen, in der Industrialisierung, Demokratisierung, Parlamentarisierung und Verwissenschaftlichung, ein Ergebnis der Entheiligung des Lebens. In ihrer letzten Konsequenz führte diese Entheiligung durch Modernisierung zu den Vernichtungsmaschinerien der totalitären Staaten, in denen die Heiligkeit des Menschen aufs Äußerste verhöhnt wurde.

Die Modernität ist ihrem Selbstverständnis nach eine Rationalität, die sich aus der Negation des Heiligen konstituiert. Aber das Heilige ist der Mensch. Im Verlauf der Aufklärung verschwand deswegen das Heilige nicht nur aus der Seele des abendländischen Menschen, sondern auch aus dem sozialen Leben. Übrig blieb der geschichtliche Mensch in seiner prekären Kontingenz, seiner Zufälligkeit und grenzenlosen Verfügbarkeit für die positiven geschichtlichen Mächte, vor allem den Staat.

Die Radikalisierung des geschichtlichen Bewusstseins im 19. Jahrhundert ist ebenso Folge dieser Entwicklung, wie die Sakralisierung des Nationalen. Die hypertrophe Nationalisierung der europäischen Völker im 19. und dem beginnenden 20. Jahrhundert, die numinose Aufladung nationaler Symbole und Identitäten, war nicht Folge eines Demokratisierungsdefizits, sondern die Rache der Demokratie an ihren Erfindern. Der Nationalismus war ein naturalistischer, diesseitsförmiger Ersatz für die Sinnbestimmung, die das soziale Leben zuvor aus der Allgegenwart des Heiligen bezogen hatte.

Mit der Vergeschichtlichung des Menschen im 19. Jahrhundert ging der Verlust des Überzeitlichen, Heiligen, Archetypischen einher, das seiner ephemeren Existenz einst einen Sinn verleihen konnte. Der Siegeszug des Materialismus im 19. Jahrhundert, der mit einer epidemischen Ausbreitung des Egoismus einherging, ist eine Folge dieses Verlustes. An die Stelle der Opferwilligkeit, die im Bewusstsein des Bezogenseins der menschlichen Existenz auf das sinngebende Transzendente verankert war, trat die Gier als gesellschaftlicher Grundantrieb, die den Industrialisierungsprozess und seine globale Projektion im Kolonialismus und Imperialismus steuerte. Im Ersten Weltkrieg implodierte diese Gier und offenbarte die Krise der Sinnlosigkeit einer abendländischen Lebensform, die sich vom Zwang zum Sakralen verabschiedet hatte, um dafür die Freiheit des Nihilismus einzutauschen.

Die sogenannte Modernisierung ist ein Verdrängungs-  und Verengungsprozess, dessen zerstörerische Folgen kaum zu leugnen sind. Die Anthroposophie, wie Steiner sie verstand, stellt einen Versuch dar, den verengten Horizont des Abendlandes zu erweitern und das Verdrängte wieder in Erinnerung zu rufen, ohne die positiven Errungenschaften der Moderne zu verleugnen.

Die Haupterrungenschaft der Moderne besteht im Zuwachs an Freiheit, die sie dem einzelnen Individuum gebracht hat, seinen Horizont zu erweitern. Soll diese Horizonterweiterung nicht bloß quantitativer Natur sein, und sich auf die Vermehrung von Wissen und instrumenteller Rationalität beschränken, muss sie sich auf jene Denk- und Erfahrungsräume erstrecken, die der Prozess der Modernisierung aus dem gesellschaftlichen Leben verdrängt hat. Das heißt, die Horizonterweiterung des modernen, individualisierten Bewusstseins kann sich nur auf das Sakrale beziehen, und dieses in den gesellschaftlichen Raum zurückholen. Triebkraft dieser Vergegenwärtigung des Sakralen kann aber nicht mehr eine traditionelle gesellschaftliche Instanz sein, sondern nur noch das einzelne Individuum. Das Heilige hat sich nicht aus der Welt zurückgezogen, es verbirgt sich in den Tiefen jeder einzelnen Seele, für die es Erfahrungsgegenstand werden kann, wenn sie sich ihm zuwendet. Die Hierarchienwelt, so drückt Steiner diesen Sachverhalt aus, wartet heute darauf, dass die Menschheit sich ihr zuwendet, sie offenbart sich nicht mehr von selbst. (GA 205, 17.07.1921, 1987, S. 234 ff)

Der Weg zu ihr führt über das Innere der Seele, in der die Fähigkeit erwachen muss, jenes Heilige wahrzunehmen, das aus dem öffentlichen Raum entschwunden ist.

Ihrem tiefsten Sinn nach ist die Anthroposophie ein Initiationsweg: Ein auf die Bedingungen jenes Bewusstseins, das aus dem Prozess der Aufklärung und Modernisierung hervorgegangen ist, zugeschnittener Initiationsweg, der das auf sich gestellte, autonome Bewusstsein der Neuzeit zur Erkenntnis des Geistigen führen soll, das im Kosmos und in der Natur wirkt. Dieses Bewusstsein ist seinem Selbstverständnis nach säkularisiert und entsakralisiert. Es hat sich von allen traditionellen Bindungen an kollektive Gemeinschaftsformen und Identitäten gelöst und ist zu einem frei flottierenden Existential in einer Welt unterschiedloser Gleichförmigkeiten geworden. Seine Bindung an das größere Ganze der Gesellschaft wird nicht mehr durch traditionelle Rituale vermittelt, sondern durch kontrollierte Rationalität, durch objektivierte Regelsysteme, die den Einzelnen ohne Ansehen seiner Geschichte oder persönlicher Bindungen in einen politisch-sozialen Mechanismus einfügen.

Das auf sich selbst gestellte Individuum weist den Weltinhalten durch sein Erkennen erst ihre Bedeutungen zu und mit diesen Akten der Bedeutungszuweisung beginnt deshalb auch die moderne Initiation. Sie ist eine reine Erkenntnisinitiation, die aber in eine Transformation des ganzen leibseelischen Erkenntnissubjektes übergeht.

Die gewaltige Transformation des menschlichen Bewusstseins, der gesamten Erkenntnisorganisation des Menschen, die im letzten halben Jahrtausend stattgefunden hat, – angestoßen von Entwicklungen im westlichen Abendland, die sich in den Jahrhunderten nach dem Anbruch der sogenannten Neuzeit globalisierten – , setzte die Einzelpersönlichkeit in eine theoretische und praktische Autonomie, die es jedem einzelnen überlässt, den Zusammenhang mit dem Geist, der alles durchdringt, wieder herzustellen. Alle anderen emanzipativen Entwicklungen in Gesellschaft und sozialem Leben sind Folgeerscheinungen jener kopernikanischen Wende, die im menschlichen Bewusstsein ihren Anfang nahm.

An der Nahtstelle zur neuen, individualisierten Erfahrung des Geistes steht die Anthroposophie als Erkenntnisweg. Sie ist keine Lehre, sondern eine Methode. Alle »Lehren«, die im Werk Steiners enthalten sind, dienen letztlich nur dem Weg (methodos), sind potentielle Inhalte der Meditation, die zur Erkenntnis jenes geistigen Weltzusammenhangs führen soll, der – wenn auch in ständiger Wandlung begriffen – immer schon bestanden hat, der aber dem Bewusstsein der Moderne entfallen ist, da die individuelle geistige Autonomie auf andere Weise nicht zu erreichen war. Die Entwicklung der Moderne kann – entgegen dem aufklärerischen Selbstverständnis –, nicht nur als eine Horizonterweiterung, sondern auch als eine Horizontverengung interpretiert werden.

Der selbstwirkende kosmische Geist musste sich aus dem menschlichen Bewusstsein zurückziehen, wenn dieses Bewusstsein zum autonomen Prinzip der Erkenntnis und des Handelns werden sollte. Die Selbstoffenbarung des Geistes liegt allen traditionellen Lebensformen und religiösen Praktiken zugrunde, die in ihrer Vielfalt zum spirituellen Erbe der Menschheit gehören. Zu diesen zählen nicht nur die Großreligionen mit ihren Ursprungserfahrungen, sondern auch alle anderen mythischen und religiösen Überlieferungen mit regionaler oder lokaler Verbreitung in der Vergangenheit und Gegenwart.

Der geistige Weltzusammenhang, den das autonom gewordene, moderne Bewusstsein finden kann, unterscheidet sich nicht wesentlich von jenem, der auch in der Vormoderne bewusst war. Die vergessenen bzw. verdrängten Horizonte vormoderner Welterfahrung sind in den Erfahrungs- und Denkraum des aufgeklärten Bewusstseins zurückzuholen, um dessen Wirklichkeitsdefizite auszugleichen. Diese Rückholung – religio – kann aber nicht bedeuten, die Errungenschaften der Moderne, die Individuation, Autonomie und Selbstreflexion über Bord zu werfen, vielmehr ist das moderne Bewusstsein dazu aufgerufen, unter Bewahrung dieser Errungenschaften über sich selbst hinaus zu wachsen, indem es die restringierenden Bedingungen seines Zustandekommens reflektiert. Wenn es sich selbst als geschichtlich Gewordenes begreift, kann es seine zeitliche Bedingtheit überschreiten, kann es seine Form als historisch erkennen. Dadurch befreit es sich von seiner ahistorischen Selbstverabsolutierung, die es der polemischen Programmatik der aufklärerischen Diskurse verdankt, in deren Verlauf es sich gegen die Tradition und das erfahrungsreligiöse Bewusstsein konstituiert hat.

Der entscheidende Unterschied des wieder zu erringenden vom verlorenen Bewusstsein liegt in der Form, in welcher der geistige Weltzusammenhang bewusst wird. Nur wenn er erzeugt wird, tritt er heute ins Bewusstsein. Wenn er aber erzeugt wird, lässt sich auch erkennen, dass die Überzeugung von der Urtradition, von der Wahrheit, die immer schon in verschiedenartigsten symbolischen Repräsentationen existierte, den Tatsachen entspricht. Was die Formel vom »Wahrheitskern in allen Religionen« besagt, ist letztlich nichts anderes als die Tatsache, dass es ein und derselbe geistige Weltzusammenhang ist, der in den verschiedenen Epochen und Kulturen in unterschiedlichsten Vorstellungs- und Sprachformen zum Ausdruck gebracht wurde.