Wie mangelhaft die Quellenkenntnisse Zanders sind, auf denen seine Behauptungen manchmal fußen, gesteht er an einer Stelle selbst zu. Aber diese mangelhafte Kenntnis hindert ihn nicht daran, weitreichende Vermutungen über die Herkunft der »Engellehre« Steiners anzustellen.

Auf S. 670 schreibt Zander:

»Meine unzureichende Kenntnis von Steiner möglicherweise bekannten theosophischen Texten betrifft auch alle anderen Details potentieller Abhängigkeiten, da die in Frage kommende theosophische Literatur angesichts von Steiners Quellenverschwiegenheit erst erfasst und dann durchgesehen werden müsste. So lässt sich etwa hinsichtlich der Engelchöre nicht sagen, ob Steiner sie wirklich selbst eingefügt hat. Die Vorstellung findet sich in ihrer Struktur schon bei Blavatsky wo die ›lebendigen und intelligenten Kräfte« allerdings ›Dhyan Chohans‹ heissen; sie kannte auch einige der Engel, doch die Namen der christlichen Tradition könnten auf Steiner und seine Abgrenzungsbedürfnisse von der Theosophischen Gesellschaft verweisen. Das theosophische Gerüst der Kosmologie blieb allerdings davon unberührt....«

Zander gesteht seine »unzureichende Kenntnis« der theosophischen Literatur zu, die erst durchgesehen werden müsste, um Steiners Abhängigkeit von ihr beurteilen zu können – dass aber selbst die Literatur, die er durchgesehen hat, nur zu unzureichenden Kenntnissen geführt hat, ist nicht zu übersehen.

Dass sich die Engelchöre (gemeint sind die Engelshierarchien, wie sie Dionysos Areopagita beschreibt) »der Struktur nach« bei Blavatsky finden, ist ebensowenig erstaunlich, wie die Tatsache, dass die behauptete Ähnlichkeit der Struktur verschwindend gering ist.

Denn Blavatsky »kannte« laut Zander »einige Engel« (!), sie sprach von »lebendigen und intelligenten Kräften«, die sie allerdings »Dhyan Chohans« nannte – aber selbst wenn zweifelhaft ist, dass Steiner die Engelchöre »selbst eingefügt« hat, eines jedenfalls ist für Zander unzweifelhaft: er hat sie aufgrund seines »Abgrenzungsbedürfnisses von der Theosophischen Gesellschaft« »eingefügt«. Die Logik dieser Argumentation ist hanebüchen: von einem Autor zu behaupten, man wisse nicht, ob er eine bestimmte Theorie selbst in sein Werk eingefügt habe, aber es sei sicher, dass er dies aus einem Bedürfnis nach Abgrenzung getan habe, gleicht der Behauptung, man wisse zwar nicht, ob jemand etwas gestohlen habe, aber er sei auf jeden Fall schuldig. Noch grotesker ist die anschließende Feststellung, das theosophische kosmologische Gerüst sei durch die Einfügung der Engelchöre »unberührt geblieben«. Tatsache ist, dass die Engelchöre für die gesamte »Geheimwissenschaft im Umriss«, für die Kosmogonie und Anthropogonie von fundamentaler Bedeutung sind und dass diese bereits im »Fragment der Kosmogonie« von 1903/04 in Erscheinung traten. Es bedarf keines weiteren Nachweises, dass Steiners Schau der Weltentwicklung ohne diese Engelchöre nicht einmal im Ansatz vorstellbar wäre.

Für eine »zentrale Eigenheit« in Steiners Kosmologie findet Zander keine theosophische Quelle – auch wenn er nicht beschwören will, dass es keine solche gibt: die Namen der aufeinanderfolgenden planetarischen Entwicklungsstufen, Saturn, Sonne, Mond, Erde, Jupiter, Venus, Vulkan.

Auf S. 671 schreibt Zander:

»In den (mir zugänglichen) theosophischen Werken findet sich allerdings kein Hinweis auf die Herkunft einer zentralen Eigenheit von Steiners Kosmologie, auf die Namen seiner Planeten. Sinnett und Blavatsky hatten die Planeten schlicht mit Buchstaben von A bis G durchgezählt. Blavatsky kannte zwar großenteils die bei Steiner vorkommenden Planetennamen, verband sie aber in der ›Geheimlehre‹ nicht mit den Planetenstufen ... Eine noch unbekannte theosophische Quelle ist nicht auszuschließen [sic!!], möglicherweise aber hat Steiner[s] die Begriffe selbst eingesetzt ... Steiners Folge der Planeten

Saturn
Sonne
Mond
Erde
Jupiter
Venus
Vulkan

entspricht einer spätantiken Hebdomenlehre, in der die sieben Wochentage mit den sieben Planeten des ptolemäischen Kosmos sekundär verbunden worden waren.«

Zander findet Steiners Planetenfolge dank einem Lexikonartikel von Franz Boll (Franz Boll: Hebdomas, in: Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft, fortgesetzt von G. Wissowa, Bd. VII / 2, Stuttgart 1912, 2547–2578.) in einer »spätantiken Hebdomenlehre«, in der die sieben Wochentage mit den Planeten des ptolemäischen Kosmos verbunden worden seien.

Er übersieht dabei aber, dass der Planet Vulkan nicht zum ptolemäischen Kosmos gehört und dass Mars und Merkur in dieser Reihe fehlen. Schließlich thematisiert er doch noch die »Abweichungen« in Steiners Reihe: ihm fällt auf, dass die Erde fehle bzw. dass sie die Stelle des Mars einnehme (fehlt sie nun oder fehlt sie nicht?) und gleichwohl nenne Steiner Mars an wenigen Stellen, ohne ihn in die Planetenhierarchie »einzubauen«.

Schließlich kann Zander nicht erklären, warum Steiner Merkur durch Vulkan ersetzt und an die letzte Stelle gerückt habe. (Zander I, S. 672.) Die astronomisch notwendige Ergänzung durch Uranus und Neptun habe er ebenfalls unterlassen.

All diese Bemerkungen Zanders zeugen entweder von einer oberflächlichen Kenntnis oder von schierem Unverständnis. Zunächst bringt er die räumliche und zeitliche Ordnung der Planeten durcheinander. Die geozentrische Sicht ist Steiner vertraut und wird von ihm oft als Sphärenlehre dargestellt: von der Erde aus gesehen, folgen die Sphären des Mondes, des Merkur, der Venus, der Sonne, des Mars, des Jupiter und des Saturn aufeinander, und diese werden von der Fixsternsphäre umschlossen:

Erde
Mond
Merkur
Venus
Sonne
Mars
Jupiter
Saturn

In dieser Ordnung werden auch Uranus und Neptun erwähnt, auch wenn Steiner davon spricht, sie hätten für den gegenwärtigen Menschen keine unmittelbare Bedeutung. (Uranus als Abspaltung aus dem Alten Saturn und Wohnplatz gewisser retardierter geistiger Wesenheiten bereits GA 98, 17.03.1908, 1996, S. 218; Uranus und Neptun als Himmelskörper, die mit der menschlichen Entwicklung unmittelbar nichts zu tun haben GA 110, 18.04.1909, abends, 1991, S. 159; Uranus und Neptun [die heutigen], als »später zugeflogene« Himmelskörper, die »in einer anderen Ordnung kreisen« GA 168, 03.12.1916, 1995, S. 212 u.ö.)

Mit diesen Sphären dürfen die Entwicklungsstufen des Wesensgefüges, das als »Erde« bezeichnet wird, das die früheren Zustände des Alten Saturn, der Alten Sonne und des Alten Mondes durchlaufen hat, und die künftigen Zustände Jupiter, Venus und Vulkan durchlaufen wird, nicht verwechselt werden, also die Reihe:

Saturn
Sonne
Mond
Erde (Mars / Merkur)
Jupiter
Venus
Vulkan

Diese chronologische Reihe entspricht der Reihe der Wochentage, die Steiner als ein esoterisches Memorationssystem der kosmologischen Entwicklung interpretiert. In dieser Reihe kommen auch Mars und Merkur vor, letzterer ist keineswegs durch Vulkan ersetzt. Steiner bezeichnet nämlich öfter die erste Hälfte der jetzigen Erdentwicklung als Mars und die zweite Hälfte als Merkur. In diesem Zusammenhang spricht er von einem »okkulten Durchgang« des Mars durch die Erde, die zur Eingliederung des Eisens geführt habe und bringt den Namen des Merkur für die zweite Hälfte der Erdentwicklung mit Hermes und den heilenden Kräften des Christus in Zusammenhang, die diese zweite Hälfte bestimmten. (So schreibt er am 25. November 1905 in einem Brief an Marie Steiner, in der Reihenfolge der Wochentage komme die Evolution des Planetensystems zum Ausdruck, »esoterisch« sei die Erde durch die beiden Planeten Mars und Merkur zu ersetzen. Durch die Eingliederung der Marskräfte entwickelt sich die Empfindungsseele des Menschen zur Verstandesseele, durch die Eingliederung der Merkurkräfte kann sie sich zur Bewusstseinsseele aufschließen. Die Eingliederung der Marskräfte wurde dadurch möglich, dass die Erde durch den Mars, der damals ätherisch war, hindurchging, was zur Aufnahme des Eisens und der Entwicklung der Warmblütigkeit führte. Dem Merkur verdankt der Mensch die Bewusstseinsseele und die Erde das Quecksilber. GA 89, 2001, S. 74-75.)

Merkur-Hermes wird von ihm als Psychopompos charakterisiert, der die Wege des Christus vorbereite und den Menschen wieder zur Höhe der Götter hinaufführe. Als solcher wird er auch mit der Entwicklung des Geistselbstes in Beziehung gebracht. (GA 93 a, 28.10.1905, 1987, S. 207-208.)

Ein »Kennzeichen« von Steiners Kosmologie sieht Zander in der Zuordnung von Planeten und Kulturen in einer »linearen Entwicklungsgeschichte«.

Auf S. 672 schreibt Zander:

»Ein weiteres Kennzeichen von Steiners Kosmologie, die Verbindung von Planeten mit Kulturen in einer linearen Entwicklungsgeschichte, ist wiederum theosophisches Traditionsgut, wie am Atlantis-Komplex exemplarisch deutlich wurde (s. o. 7.5.5). Auch hier sind allerdings keine asiatischen Quellen wahrscheinlich.

Kulturdarwinistische Konzepte waren um 1900 weit verbreitet und gehören in die Tradition von Konzepten, die seit dem Spätmittelalter greifbar sind. Allerdings ist unklar, ob Steiner derartige Quellen kannte.«

Für eine Verbindung von Planeten mit Kulturen in einer linearen Entwicklungsgeschichte nennt Zander, außer einem pauschalen Verweis auf das Kapitel 7.5.5 seines Buches, keinerlei Fundstelle.

Belege für eine solche Zuordnung bei Steiner gibt es nicht.

Steiner parallelisiert bestimmte Schichten der Hierarchienwelt und die aufeinanderfolgenden nachatlantischen Kulturen (eine absteigende Linie von den Archai in der urindischen zum Menschen in der griechisch-lateinischen Epoche), sowie unterschiedliche Wesensglieder, in denen sich das Ich spiegelt (eine aufsteigende Linie vom Ätherleib in der urindischen bis zur Bewusstseinsseele in der heutigen Epoche), aber eine Zuordnung zwischen planetarischen Zuständen (Erdinkarnationen) und Kulturen – ein reines Phantasieprodukt Zanders – nimmt er nicht vor. Deswegen kann es auch hier kein »theosophisches Traditionsgut« geben, das Steiner adaptiert hätte. Mit »Kulturdarwinismus« hat Steiners Lehre von der Bewusstseinsentwicklung ebensowenig zu tun, da die zeitlich aufeinanderfolgenden Kulturen schon aus logischen Gründen nicht in Konkurrenz zu einander treten können.

Das Fragment »Anthroposophie« aus dem Jahr 1909/10 ist für Zander ein weiteres Beispiel für Steiners Neigung, Bücher »additiv« zu verfertigen. Steiners spätere Äußerungen darüber, warum er dieses Buch nicht für den Druck fertigstellte, geben Zander Anlass, sich über ein weiteres »Versagen« Steiners auszulassen und »Zugeständnisse« Steiners zu konstruieren, die durch aus dem Zusammenhang gerissene Zitatfetzen scheinbar belegt werden.

Auf S. 676 schreibt Zander:

»Die Gründe, warum Steiner das bis ins Stadium korrigierter Druckfahnen (GA 45,212.216) gelangte kleine Werk nicht fertiggestellte, liegen auf mehreren Ebenen. Zum einen war Steiner, wie er im Frühjahr 1911 in entwaffnender Ehrlichkeit gestand, mit seiner physiologisch begründeten Erkenntnistheorie überfordert: Es sei ihm ›unmöglich‹ gewesen, ›die Wahrheiten, die spirituell vor mir stehen, den Weg durch die Feder auf das Papier nehmen zu lassen‹ (GA 262,238). Bei dem Versuch, ›genauer zu formulieren‹, was er zu wissen meinte, sei er dann hängengeblieben (GA 324,109 [1921]). Später sei die ›Überlastung‹ hinzugekommen (GA 322,106 [1920]). Diese Begründungen sind honorig und ernstzunehmen. Gleichwohl scheint mir Steiners ehrliche Pragmatik nur die halbe Wahrheit zu sein. Entscheidend für den Abbruch des Büchleins könnte die Absicht sein, mit den später ›Anthroposophie‹ genannten Vorstellungen eine eigene Position in der Theosophie zu begründen. Dies war nach der Verselbständigung der Anthroposophischen Gesellschaft im Jahr 1912 hinfällig geworden.«

Für Zander ist das Fragment »Anthroposophie« nur ein »Torso«, ein weiterer misslungener Versuch Steiners, seine Neigung zur »additiven Verfertigung von Büchern« auszuleben, der ihm Anlass gibt, ein erneutes »Zugeständnis« Steiners, eine zusätzliche »Überforderung« zu Protokoll zu nehmen. Diese Überforderung habe Steiner später (1911) selbst freimütig zugestanden, habe er doch geäußert, es sei ihm unmöglich gewesen, die spirituellen Wahrheiten, die ihm vor Augen standen, zu Papier zu bringen.

Aber dieses Zugeständnis hält Zander nur für die halbe Wahrheit, denn hinter dem Versuch einer Anthroposophie steckt seiner Ansicht nach die Absicht Steiners, eine eigene Position in der Theosophie zu begründen, was jedoch mit der Begründung der Anthroposophischen Gesellschaft 1912 hinfällig geworden sei, nach der Steiner das Interesse an diesem Unternehmen verloren habe.

Diese These Zanders steht nicht nur in einem merkwürdigen Widerspruch zur einige Zeilen davor formulierten Auffassung, Steiner habe mit seinem Werk »keine Distanzierung von der Theosophie« vorgenommen und mit dem späteren Namen der Anthroposophischen Gesellschaft habe dieser Begriff nichts zu tun. (Zander I, S. 675.) Steiner hat also nach Zander das Kunststück vollbracht, sich gleichzeitig nicht von der Theosophie zu distanzieren und eine eigene Position in der Theosophie zu suchen.

Was die späteren »Zugeständnisse« Steiners anbetrifft, lohnt sich ein genauerer Blick auf die von Zander zitierten Quellen. Durch all die unterschiedlichen Äußerungen Steiners über das unabgeschlossene Fragment »Anthroposophie« zieht sich nämlich ein Generalmotiv: das Sprach- oder Übersetzungsproblem.

Bereits die erste Mitteilung zu diesem Fragment gegenüber Eduard Selander in einem Brief vom März 1911 erwähnt die beiden Seiten dieses Problems: die Angemessenheit der sprachlichen Ausdrucksformen an den Gegenstand und die Verständlichkeit dieser Ausdrucksformen für den Leser.

Die Passage im Brief, aus der Zander lediglich einen Halbsatz zitiert (Zander I, S. 676.), lautet: es wird oft übersehen,

»dass derjenige, welcher unter voller Verantwortlichkeit gegenüber der spirituellen Welt sich fühlen muss, die strenge Pflicht hat, alles, was er auf dem physischen Plan als theosophische Wissenschaft auszusprechen hat, in allergenauester Weise zu prägen. ... Man hat da die doppelte Last der Verantwortung; erstens den höheren Welten gegenüber: es darf nichts gesagt werden, was nicht vor ihnen gelten kann; zweitens der physischen Welt gegenüber: es muss alles so geprägt werden, wie es möglich ist, um die volle Congruenz des physischen Wortes mit den Tatsachen der höheren Welt zu erzielen.  ... So ist es z.B. gekommen, dass meine ›Anthroposophie‹ seit November halb gedruckt vorliegt und nicht einmal seit jener Zeit berührt werden konnte, weil es unmöglich war, die Wahrheiten, die spirituell vor mir stehen, den Weg durch die Feder auf das Papier nehmen zu lassen.« (GA 262, 2002, S. 238-239.)

Man sieht: Steiner spricht von den Schwierigkeiten der Umformung der geistigen Anschauung in die physische Sprache, die sowohl den angeschauten Tatsachen als auch den Gesetzen des »physischen Plans«, zu denen die Verstehbarkeit des sprachlichen Ausdrucks gehört, gerecht werden muss.

Nahezu identisch äußert er sich rund zehn Jahre später, am 2. Oktober 1920, in einem Vortrag über dieses Problem. Hier weist er zunächst darauf hin, dass sich die gesprochene Sprache aufgrund ihrer größeren Plastizität besser eigne, geistige Anschauungen zu umschreiben, als die Schriftsprache.

»Es ist mir in einer Weise gelungen, [die Sinneslehre] in Worte zu kleiden ... im mündlichen Vortrage, weil man da noch eher die Möglichkeit hat, die Sprache so zu drehen und zu wenden und durch Wiederholungen für das Verständnis zu sorgen, dafür, dass man die Mängel unserer Sprache, die solch übersinnlichem Wissen noch nicht gewachsen ist, nicht so stark fühlt. Aber als ich dann [die Anthroposophie] aufschreiben wollte ... da stellte sich das Merkwürdige heraus, dass das äußerlich Erlebte bei seinem Hineintragen in das Innere etwas so Sensitives wurde, dass die Sprache nicht die Worte hergab. ... Ich konnte, weil ich das Ganze in dem Stil fortschreiben wollte, wie es angefangen war, einfach weil die Sprache zunächst das nicht hergab für meine damalige Entwicklungsstufe, was ich erreichen wollte, nicht weiter schreiben.« (GA 322, 02.10.1920, 1969, S. 105-106.)

Steiner spricht dann vom Verantwortlichkeitsgefühl dessen, der über die Wege sprechen will, die vom gewöhnlichen Bewusstsein zur Imagination hinüberführen, um seinen Exkurs mit einem Hinweis auf den Unterschied zwischen einer grundsätzlichen Darstellung über das Methodische der Erkenntnis und der Schilderung konkreter Erkenntnisergebnisse zu schließen. Ersteres, etwa in »Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten ...« sei relativ einfach, letzteres dagegen um so schwieriger. Ähnlich schildert Steiner das Problem auch im darauffolgenden Jahr in Stuttgart. (GA 324, 22.03.1921, 1972.)

Betrachtet man das Fragment »Anthroposophie«, erscheint es aus unterschiedlichen Gründen bemerkenswert. Zunächst ist unverkennbar, dass Steiner in diesem Werk eine völlig neue Begriffssprache entwickelt, um das vielgliedrige Wesen des Menschen zu beschreiben. Er spricht nicht mehr vom physischen Leib des Menschen, sondern vom »Sinnesorganismus«, nicht mehr vom Ätherleib, sondern von »Lebensvorgängen«, nicht mehr vom Astralleib, sondern von »Vorgängen im menschlichen Inneren«, von »Bildempfindungen Begehrungen und Bewegungsimpulsen«. Schließlich spricht er nicht mehr vom Ich, sondern vom »Ich-Erlebnis«.

Schon diese Begrifflichkeit macht den phänomenologischen Ansatz deutlich, den er in diesem Fragment verfolgt, der sich an den Erfahrungen des Alltagsbewusstseins orientiert und das Augenmerk auf die Funktionen, die Tätigkeiten oder Prozesse lenkt, durch die sich die verschiedenen Schichten des Menschenwesens erkennen lassen. Gleichzeitig ist aber auch unübersehbar, dass Steiner in der »Anthroposophie« die Untersuchungen fortsetzt, die er im Kapitel »Die physische Welt und ihre Verbindung mit Seelen- und Geisterland« der »Theosophie« vorgelegt hat. Auch in der »Anthroposophie« geht es um die Verbindung der physischen Welt mit Seelen- und Geisterland, um den Aufbau der physischen aus der überphysischen Welt. Untersucht wird aber nicht diese physische Welt in ihrer Gänze, sondern lediglich die physische Organisation des Menschen, insofern sie durch ihre Sinne in diese Welt eingegliedert ist.

Die »Anthroposophie« geht aber über die Untersuchung der menschlichen Sinnesorganisation weit hinaus. Sie stellt auch die Lebensorganisation des Menschen, seine Seele und sein Ich im Zusammenhang mit den geistigen Bildekräften dar, aus denen sie hervorgehen. Auch insofern knüpft die »Anthroposophie« an die Untersuchungen der »Theosophie« und natürlich jene der »Geheimwissenschaft im Umriss« an. Aber der Gesichtspunkt der »Anthroposophie« ist nicht genetisch-anthropogonisch wie jener der »Geheimwissenschaft im Umriss«, sondern systematisch-ontologisch. Das zeigt bereits die Komposition des Werkes, soweit Steiner sie ausgearbeitet hat.

Ein systematischer Gesichtspunkt, der im ersten Kapitel des Fragments entwickelt wird, ist für Steiners Verständnis von »Anthroposophie« von Bedeutung. Diese wird zwischen physische Anthropologie und Theosophie eingeordnet. Die Anthroposophie bedarf jedoch der Ergänzung durch eine Psychosophie und eine Pneumatosophie, die ebenso phänomenologisch wie die Anthroposophie vom Sinnlichen oder dem gewöhnlichen Bewusstsein zum Geistigen aufsteigen sollen. Zu Psychosophie und Pneumatosophie hat Steiner in den Jahren 1910 und 1911 jeweils eine Reihe von Vorträgen gehalten. (Siehe GA 115.)

Das Fragment »Anthroposophie« stellt also lediglich den ersten von drei Teilen eines umfassenderen Werkes dar, das auch das seelische und das geistige Wesen des Menschen hätte behandeln sollen. Zu diesem Konzept heißt es im Fragment: »Die Skizze ist so gedacht, dass sie nur das Leibliche des Menschen berücksichtigt, insofern dieses Offenbarung des Geistigen ist. Und in diesen Grenzen ist die Anthroposophie im engeren Sinne gemeint. An sie muss sich dann reihen eine Psychosophie, welche das Seelische betrachtet, und eine Pneumatosophie, die sich mit dem Geist beschäftigt. Damit mündet dann Anthroposophie in die Theosophie selbst ein.« (GA 45, 1980, S. 24.)

Man könnte also behaupten, »Anthroposophie« sei lediglich der erste Teil einer spirituellen Wissenschaft vom Menschen, deren beide anderen Teile die Psychosophie und die Pneumatosophie beinhalten müssten. Steiner hat diese Gliederung später nicht etwa aufgegeben. Sie findet sich zum Beispiel an prominenter Stelle, in den Vorträgen zur »Allgemeinen Menschenkunde als Grundlage der Pädagogik« 1919, in denen nacheinander das Wesen des Menschen zuerst vom seelischen, dann vom geistigen und schließlich vom leiblichen Gesichtspunkt aus betrachtet wird. (GA 293.)

Nun ergibt sich jedem, der einen näheren Blick auf die Komplexität der Gedankenentwicklung der »Anthroposophie« wirft, ohne weiteres eine zweifache Einsicht. Die sachliche Unangemessenheit solcher Urteile Zanders, wie desjenigen der supponierten Additivität ist angesichts der logischen Stringenz des Aufbaus dieses Manuskripts unmittelbar einleuchtend. Es ist aber auch einleuchtend, warum Steiner dieses Fragment nicht zu Ende geführt bzw. veröffentlicht hat. Von den beiden Kriterien, die er selbst genannt hat: der Angemessenheit an den Gegenstand und der Verständlichkeit der Darstellung ist vermutlich das erste, soweit erkennbar, erfüllt. Ob das zweite erfüllt ist, kann zumindest als fraglich gelten. Die komplexen Umstülpungsvorgänge von Sinneserlebnissen und Organbildekräften, die Steiner beschreibt, bewegen sich an der Grenze der Verständlichkeit, wenn nicht schon jenseits von ihr. Es ist denkbar, dass Steiner die damit verbundene Zumutung an die Leser empfunden hat und dass in ihr der Hauptgrund für die Unabgeschlossenheit des Manuskriptes und seine Nichtveröffentlichung liegt. Denkt man sich die konkreten imaginativen Bildprozesse hinzu, auf die Steiner bei der Abfassung des Manuskriptes offensichtlich hinblickte, von deren anschaulicher Gestalthaftigkeit er jedoch bei seiner Beschreibung abstrahierte, könnte man sich vorstellen, dass die betreffenden Umstülpungsvorgänge leichter verständlich wären. In der vorliegenden Gestalt erinnert das Manuskript jedoch eher an manche Texte von Hegel oder Husserl, die ihre kristallene Klarheit mit einem Grad von Abstraktheit erkaufen, der ihre Verständlichkeit nicht unbedingt befördert.

Zur Herkunft der Sinneslehre, die Steiner in seinem Fragment einer »Anthroposophie« 1909/10 entwickelt, stellt Zander Vermutungen an, die in mehrfachem Sinn ins Leere führen.

Auf S. 675 schreibt Zander:

»Die Herkunft dieser Sinneslehre ist unklar, sie dürfte aber aus der Physiologie des 19. Jahrhunderts stammen und hängt möglicherweise mit Konzepten Franz von Brentanos (GA 45,187) oder Herbarts (ebd., 189) zusammen. Möglicherweise spielt auch die seit der frühen Neuzeit diskutierte Frage von neuen Sinnen für eine erweiterte Erkenntnis eine Rolle.«

Belege für diese Vermutungen bleibt Zander schuldig.

Der Verweis auf Brentano oder Herbart führt nicht nur auf in der Gesamtausgabe nicht existierende Textseiten [die Seiten 187 und 189 existieren in GA 45 nicht], sondern auch noch in die Irre, da Steiner im betreffenden Band der Gesamtausgabe auf beide Autoren nicht als Quellen seiner Sinneslehre zu sprechen kommt, sondern aus ganz anderen Gründen.