Zander spricht von einem »beträchtlichen NS-nahen Potential« unter der Anthroposophenschaft in der Zeit zwischen 1933 und 1945. Diese Behauptung wird lediglich durch eine andere Behauptung belegt.

S. 250, Anmerkung 60:

»Ich neige dazu, aufgrund der kursorischen Durchsicht anthroposophischer Zeitschriften, die Werner weniger stark ausgewertet hat, das autoritäre und von daher strukturell NS-nahe Potential für beträchtlich zu halten.«

Für seine gravierende Aussage bleibt Zander jeglichen Beweis schuldig. Stattdessen teilt er dem Leser seine Neigung mit. Letzterer erfährt weder, welche Zeitschriften Zander durchgesehen hat, noch welche Funde er in diesen Zeitschriften gemacht hat. Eine »kursorische Durchsicht« reicht als Begründung für eine derart tiefgreifende Aussage nicht aus.

Ausserdem widerspricht diese Behauptung einem Befund von Uwe Werner, den Zander auf der selben Seite zitiert. Zander schreibt:

»Insgesamt gibt es hinsichtlich der aktiven Haltung zum Nationalsozialismus aber einen bemerkenswerten Befund: offenbar gab es fast keine Parteimitglieder unter den Anthroposophen.«

Reinhard Heydrich jedenfalls schrieb am 18.10.1941 an Reichsleiter Darré über den »kursorischen« Eindruck, den »die Anthroposophen« machten:

»Eine politische Belastung der einzelnen kleinen Anhänger der biologisch-dynamischen Wirtschaftsweise könnte auch deshalb nur schwer festgestellt werden, weil es zur ganzen Haltung der Anthroposophie gehört, daß sie sich zur Zeit sehr national und deutschbetont gibt und nach außen den Eindruck einwandfreier politischer Haltung erweckt, in ihrem tiefsten Wesen aber einen gefährlichen Faktor orientalischer Zersetzung der germanischen völkischen Art darstellt.«

Siehe dazu: Die völkisch-nationalsozialistische Gegnerschaft gegen die Anthroposophie – Dokumente und Quellen

Zander behauptet, die »Nationalisierung« sei der »vielleicht entscheidende Entstehungsort der Anthroposophie Rudolf Steiners«.

Auf S. 338 schreibt Zander:

»Namentlich Steiner erhob in seiner Anthroposophie die philosophische und religiöse Tradition Deutschlands zur Leitkultur. Diese Nationalisierung war ein wichtiger, vielleicht der entscheidende, sicher aber oft verdeckter historischer Ort der Entstehung der Steinerschen Anthroposophie.«

Diese Behauptung widerspricht nicht nur den historischen Tatsachen, sie widerspricht auch der Fundamentalthese Zanders, Steiners Anthroposophie habe ihren Inhalt im wesentlichen aus der Theosophie Annie Besants und H.P. Blavatskys geschöpft.

Wie es sich mit der sogenannten Nationalisierung der Theosophie durch Steiner verhält, kann man sehr gut seinem ersten Vortrag vor internationalem theosophischem Publikum entnehmen, den er auf dem Kongress der europäischen Sektionen im Juni 1906 in Paris hielt (»Theosophie in Deutschland vor hundert Jahren«). Hier spricht Steiner zwar von Schiller, Fichte und Novalis, entscheidend ist aber, wie er über sie spricht, nämlich nicht als »Nationalist«, sondern als »Internationalist«.

Einige Beispiele: aus Schillers Werken zieht er die »Theosophie des Julius« heran und zitiert daraus u.a. die Sätze:

»Liebe also – das schönste Phänomen in der beseelten Schöpfung, der allmächtige Magnet in der Geisterwelt, die Quelle der Andacht und der erhabensten Tugend – Liebe ist nur der Widerschein dieser einzigen Kraft, eine Anziehung des Vortrefflichen, gegründet auf einen augenblicklichen Tausch der Persönlichkeit, eine Verwechslung der Wesen. Wenn ich hasse, so nehme ich mir etwas; wenn ich liebe, so werde ich um das reicher, was ich liebe. Verzeihung ist das Wiederfinden eines veräußerten Eigentums – Menschenhaß ein verlängerter Selbstmord; Egoismus die höchste Armut eines erschaffenen Wesens.«

Daneben behandelt Steiner ausführlich Schillers »Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen«. Als dessen politische Ideen hebt er hervor: »Diesen ›ästhetischen Zustand‹ möchte Schiller auch zum Vorbild des gesellschaftlichen Zusammenlebens machen. Ihm erscheint ein Gesellschaftsverhältnis unfrei, in welchem die Menschen ihre gegenseitigen Beziehungen nur auf die Begierden des niederen Selbstes, des Egoismus stützen. Nicht minder unfrei erscheint ihm aber auch ein Zustand, bei welchem eine bloße Vernunftgesetzgebung berufen ist, die niederen Instinkte und Leidenschaften zu zügeln. Als Ideal stellt er eine Gesellschaftsverfassung hin, innerhalb welcher der Einzelne das ›höhere Selbst‹ der Gesamtheit so stark als sein eigenes Wesen fühlt, daß er aus innerstem Trieb ›selbstlos‹ wirkt. Das ›Einzel-Ich‹ soll so weit kommen, daß es ganz der Ausdruck des ›Gesamt-Ich‹ werde. Ein gesellschaftliches Handeln, das unter solchen Antrieben steht, empfindet Schiller als ein Handeln ›schöner Seelen‹; und solche ›schöne Seelen‹, welche den Geist des ›höheren Selbst‹ in ihrer alltäglichen Natur zur Offenbarung bringen, sie sind für Schiller auch die wahrhaft ›freien Seelen‹. Er möchte die Menschheit durch die Schönheit und die Kunst zur ›Wahrheit‹ führen.«

Fichte charakterisiert Steiner als einen Philosophen, der das menschliche Ich »im Sinne des Okkultismus« behandelte.

»Die Art, wie Fichte das ›Ich bin‹ charakterisiert, ist durchaus im Sinne des Okkultismus. Wenn er auch im Felde des reinen Gedankens verbleibt, so ist doch seine Betrachtung keine bloße Spekulation, sondern wahres inneres Erlebnis. Aber gerade aus diesem Grunde ist auch die Verwechselung seiner Weltbetrachtung mit bloßer Spekulation so leicht. Wen die Neugierde in die höheren Welten hinauftreibt, der wird durch die Vertiefung in Fichtes Philosophie eben nicht auf seine Rechnung kommen. Wer aber an sich arbeiten will, um die in der Seele schlummernden Fähigkeiten zu entdecken, dem kann gerade Fichte ein guter Führer sein. Er wird gewahr werden, daß es bei ihm nicht auf den Inhalt seiner Lehre oder seiner Dogmen, sondern auf die Kraft ankommt, die in der Seele wächst, wenn man die Gedankenwege Fichtes hingebungsvoll nachwandelt. Man möchte diesen Denker mit dem Propheten vergleichen, der nicht selbst das gelobte Land betreten hat, aber die Seinigen bis zu einem Gipfel führt, von dem aus sie die Herrlichkeiten desselben schauen konnten. Fichte führt das Denken bis zu dem Gipfel, von dem aus der Eintritt in das Land des Okkultismus vollzogen werden kann. Und die Vorbereitung, welche man durch ihn erlangt, ist die denkbar reinste. Denn sie hebt völlig über das Gebiet der Sinnesempfindung und über den Bereich dessen hinweg, was aus der Wunsch- und Begierdennatur des Menschen (aus seinem Astralleib) stammt. Man lernt durch Fichte leben und sich bewegen in dem ganz reinen Elemente des Denkens.«

Ganz ähnlich Novalis, an dem Steiner die allgemein-menschliche Bedeutung seiner Philosophie hervorhebt:

»Die Identität des menschlichen Ich mit dem Grundwesen der objektiven Welt ist das Leitmotiv in allem Schaffen des Novalis. Unter seinen ›Fragmenten‹ ist der Spruch aufgezeichnet: ›Unter Menschen muß man Gott suchen. In den menschlichen Begebenheiten, in menschlichen Gedanken und Empfindungen offenbart sich der Geist des Himmels am hellsten.‹ Und die Einheit des ›höhern Selbst‹ in der Gesamtmenschheit bringt er in der folgenden Art zum Ausdruck: ›Im Ich, im Freiheitspunkte sind wir alle in der Tat völlig identisch – von da aus trennt sich erst jedes Individuum. Ich ist der absolute Gesamtplatz, der Zentralpunkt.‹«

Steiner zu unterstellen, er habe dadurch, dass er die universell-menschlichen Ideale auch in der deutschen Geistesgeschichte fand, die Theosophie »nationalisiert«, bedeutet, die historische Realität in ihr Gegenteil zu verkehren.

Den gesamten Vortrag Steiners über »Theosophie in Deutschland vor hundert Jahren« finden Sie unter »Materialien«.

Scheinbar harmlos bemerkt Zander, unter den Mitgliedern der deutschen Sektion der Theosophischen Gesellschaft, die von Steiner geleitet wurde, habe es »vereinzelte Juden« gegeben.

Auf S. 375 schreibt Zander:

»Juden gab es vereinzelt65, Quantifizierungen sind mir jedoch nicht möglich.«

In Anmerkung 65 heisst es:

»Karl König, der Gründer der anthroposophischen Camphill-Bewegung in England, war von Hause aus Jude, bei einigen Namen – Henriette Rosenwald ... oder Dr. Cohen ... kann man einen jüdischen Hintergrund vermuten.«

Es gehört zu den subtileren Taktiken Zanders, den jüdischen Anteil an der anthroposophischen Bewegung möglichst kleinzureden, um dadurch auf Umwegen ihre Nähe zur völkischen Bewegung zu suggerieren.

Es ist auffällig, dass der »Experte« hier Adolf Arenson den Verfasser des ersten »Handbuches zum Vortragswerk Rudolf Steiners«, Carl Unger, einen der führenden Stuttgarter Anthroposophen, die Waldorflehrer Ernst Lehrs, Karl Schubert, Alexander Strakosch und Friedrich Hiebel, sowie Ernst Müller, den Zionisten und Übersetzer des Sohar, den Zionisten Hugo Bergmann und Otto Fränkl-Lundborg zu erwähnen vergisst, um nur einige prominente Mitarbeiter Steiners jüdischer Herkunft zu nennen. Wie die Beispiele von Viktor Ullmann, Saul Bellow, Evelyn Hecht-Galinski oder Göran Rosenberg zeigen, hat die Anthroposophie bis heute nichts von ihrer Attraktivität für Menschen jüdischer Herkunft oder jüdischen Glaubens eingebüßt. Seit einigen Jahren erlebt die Waldorfpädagogik als interkulturelle Pädagogik in Israel geradezu einen Boom.

Zander konstatiert, Steiner habe, trotz seiner Tätigkeit an Arbeiter-Bildungsschulen von 1899 bis 1905 kein Verständnis für die »proletarische Lebenswelt« gehabt.

Auf S. 362 schreibt Zander:

»Steiner selbst hatte zwar von 1899 bis 1905 an Arbeiter-Bildungsschulen in Berlin Unterricht erteilt ... Bezeichnenderweise hatte Steiner in diesen Schulen allgemeine Geschichte und keine politische Ökonomie gelehrt, er hielt mithin Distanz zu den spezifischen Themen der Arbeiterbewegung. Diese Ferne dokumentieren auch Steiners wenige theosophische Äusserungen zur sozialen Frage vor dem Ersten Weltkrieg ... Äusserungen anderer Theosophen bestätigen die relative Fremdheit gegenüber der proletarischen Lebenswelt.«

Auf S. 379 spricht Zander von einem »Realitätsdefizit« Steiners hinsichtlich der sozialen Lage der Arbeiter.

Aus der Tatsache, dass Steiner an der Arbeiterbildungsschule keine marxistischen Themen oder Lehren behandelte zu schließen, die »Lebenswelt« der Proletarier sei ihm fremd gewesen oder er habe für sie kein Verständnis gehabt, ist nicht nur weit hergeholt, sondern widerspricht auch den Tatsachen. In seiner Autobiografie geht Steiner verschiedentlich auf diese Frage ein, ein ganzes Kapitel ist seiner Tätigkeit in der Arbeiterbildungsschule Berlin gewidmet. Darin schreibt Steiner:

»Ich erklärte dem Vorstande, wenn ich den Unterricht übernähme, so würde ich ganz nach meiner Meinung von dem Entwickelungsgange der Menschheit Geschichte vortragen, nicht in dem Stil, wie das nach dem Marxismus jetzt in sozialdemokratischen Kreisen üblich sei. Man blieb dabei, meinen Unterricht zu wünschen.

Nachdem ich diesen Vorbehalt gemacht hatte, konnte es mich nicht mehr berühren, daß die Schule eine sozialdemokratische Gründung des alten Liebknecht (des Vaters) war. Für mich bestand die Schule aus Männern und Frauen aus dem Proletariat; mit der Tatsache, daß weitaus die meisten Sozialdemokraten waren, hatte ich nichts zu tun. ...

Ich fand, daß meine Vorträge in den Seelen manches Gute wirkten. Es wurde aufgenommen, auch was dem Materialismus und der marxistischen Geschichtsauffassung widersprach. Als später die ›Führer‹ von meiner Art Wirken erfuhren, da wurde es von ihnen angefochten. In einer Versammlung meiner Schüler sprach einer dieser ›kleinen Führer‹. Er sagte das Wort: ›Wir wollen nicht Freiheit in der proletarischen Bewegung; wir wollen vernünftigen Zwang.‹ Es ging das darauf hinaus, mich gegen den Willen meiner Schüler aus der Schule hinauszutreiben. Mir wurde die Tätigkeit allmählich so erschwert, daß ich sie bald, nachdem ich anthroposophisch zu wirken begonnen hatte, fallen ließ.

Ich habe den Eindruck, wenn damals von Seite einer größeren Anzahl unbefangener Menschen die Arbeiterbewegung mit Interesse verfolgt und das Proletariat mit Verständnis behandelt worden wäre, so hätte sich diese Bewegung ganz anders entfaltet. Aber man überließ die Leute dem Leben innerhalb ihrer Klasse, und lebte selbst innerhalb der seinigen. Es waren bloß theoretische Ansichten, die die eine Klasse der Menschen von der andern hatte. Man verhandelte in Lohnfragen, wenn Streiks u. dgl. dazu nötigten; man gründete allerlei Wohlfahrtseinrichtungen. Das letztere war außerordentlich anerkennenswert.

Aber alles Tauchen dieser weltbewegenden Fragen in eine geistige Sphäre fehlte. Und doch hätte nur ein solches der Bewegung ihre zerstörenden Kräfte nehmen können. Es war die Zeit, in der die ›höheren Klassen‹ das Gemeinschaftsgefühl verloren, in der der Egoismus mit dem wilden Konkurrenzkampf sich ausbreitete. Die Zeit, in der sich die Weltkatastrophe des zweiten Jahrzehnts des zwanzigsten Jahrhunderts schon vorbereitete.«

Das Kapitel 28 ist hier zugänglich.

1898 veröffentlichte Steiner im »Magazin für Literatur« den Artikel »Freiheit und Gesellschaft«, in dem er hellsichtig die Folgen der Verwirklichung eines klassenbezogenen Kollektivismus vorwegnahm, die in den kommunistischen Totalitarismen des 20. Jahrhunderts zu Tage traten.

Darin heisst es:

»Der Staat und die Gesellschaft, die sich als Selbstzweck ansehen, müssen die Herrschaft über das Individuum anstreben, gleichgültig wie diese Herrschaft ausgeübt wird, ob auf absolutistische, konstitutionelle oder republikanische Weise.

Sieht sich der Staat nicht mehr als Selbstzweck an, sondern als Mittel, so wird er sein Herrschaftsprinzip auch nicht mehr betonen. Er wird sich so einrichten, daß der Einzelne in größtmöglicher Weise zur Geltung kommt. Sein Ideal wird die Herrschaftslosigkeit sein. Er wird eine Gemeinschaft sein, die für sich gar nichts, für den Einzelnen alles will. Wenn man im Sinne einer Denkungsweise, die sich in dieser Richtung bewegt, sprechen will, so kann man nur alles das bekämpfen, was heute auf eine Sozialisierung der gesellschaftlichen Institutionen hinausläuft ...

Von allen Herrschaften die schlimmste ist diejenige, welche die Sozialdemokratie anstrebt. Sie will den Teufel durch Beelzebub austreiben. ... Diejenigen, die denken können, wissen, daß mit der Realisierung der sozialdemokratischen  Ideale alle Individualitäten unterdrückt sein werden. Weil aber diese sich nicht unterdrücken lassen können – denn die menschliche Entwicklung hat es einmal auf Individualität abgesehen –, so wäre der Tag des Sieges der Sozialdemokratie zugleich der ihres Unterganges.« (GA 31, S. 251-262)

Ende 1905, Anfang 1906 veröffentlichte Steiner in der Zeitschrift »Luzifer-Gnosis« einen Artikel über die »soziale Frage«, in dem er erstmals das »soziale Hauptgesetz« formulierte, dessen Konsequenzen heute die Bewegung für ein »bedingungsloses Grundeinkommen« zieht:

»Ob man heute reich oder arm ist, das hängt von der persönlichen Tüchtigkeit oder von derjenigen seiner Vorfahren ab, oder von ganz anderen Dingen. Daß man Ausbeuter der Arbeitskraft anderer ist, das aber hat gar nichts mit diesen Dingen zu  tun. Wenigstens nicht unmittelbar. Aber mit anderem hat es sehr viel zu tun. Nämlich damit, daß unsere Einrichtungen oder die uns umgebenden Verhältnisse auf den persönlichen Eigennutz aufgebaut sind. Man muß darüber ganz klar denken, sonst wird man zu der verkehrtesten Auffassung dessen kommen, was gesagt wird. Wenn ich heute einen Rock erwerbe, so erscheint es, nach den bestehenden Verhältnissen, ganz natürlich, daß ich ihn so billig wie nur möglich erwerbe. Das heißt: ich habe dabei nur mich im Auge. Damit ist aber der Gesichtspunkt angedeutet, welcher unser ganzes Leben beherrscht.

...

Man mag noch so viele Verbesserungen zum Schutze irgendeiner Arbeitsklasse einführen, und damit gewiß viel zur Hebung der Lebenslage dieser oder jener Menschengruppe beitragen: Das Wesen der Ausbeutung wird dadurch nicht gemildert. Denn dieses hängt davon ab, daß ein Mensch unter dem Gesichtspunkt des Eigennutzes sich die Arbeitsprodukte des anderen erwirbt. Ob ich viel oder wenig habe: bediene ich mich dessen, was ich habe zur Befriedigung meines Eigennutzes, so muß dadurch der andere ausgebeutet werden.

...

Genau das Gegenteil davon lehrt nun der Okkultismus, der auf eine tiefere Erkenntnis des Menschen und der Welt begründet ist. Er zeigt gerade, daß alles menschliche Elend lediglich eine Folge des Egoismus ist, und daß in einer Menschengemeinschaft ganz notwendig zu irgendeiner Zeit Elend, Armut und Not sich einstellen müssen, wenn diese Gemeinschaft in irgendeiner Art auf dem Egoismus beruht.

...

Das soziale Hauptgesetz, welches durch den Okkultismus aufgewiesen wird, ist das folgende: ›Das Heil einer Gesamtheit von zusammenarbeitenden Menschen ist um so größer, je weniger der einzelne die Erträgnisse seiner Leistungen für sich beansprucht, das heißt, je mehr er von diesen Erträgnissen an seine Mitarbeiter abgibt, und je mehr seine eigenen Bedürfnisse nicht aus seinen Leistungen, sondern aus den Leistungen der anderen befriedigt werden.‹

Alle Einrichtungen innerhalb einer Gesamtheit von Menschen, welche diesem Gesetz widersprechen, müssen bei längerer Dauer irgendwo Elend und Not erzeugen. - Dieses Hauptgesetz gilt für das soziale Leben mit einer solchen Ausschließlichkeit und Notwendigkeit, wie nur irgendein Naturgesetz in bezug auf irgendein gewisses Gebiet von Naturwirkungen gilt. Man darf aber nicht denken, daß es genüge, wenn man dieses Gesetz als ein allgemeines moralisches gelten läßt oder es etwa in die Gesinnung umsetzen wollte, daß ein jeder im Dienste seiner Mitmenschen arbeite. Nein, in der Wirklichkeit lebt das Gesetz nur so, wie es leben soll, wenn es einer Gesamtheit von Menschen gelingt, solche Einrichtungen zu schaffen, daß niemals jemand die Früchte seiner eigenen Arbeit für sich selber in Anspruch nehmen kann, sondern doch diese möglichst ohne Rest der Gesamtheit zugute kommen. Er selbst muß dafür wiederum durch die Arbeit seiner Mitmenschen erhalten werden. Worauf es also ankommt, das ist, daß für die Mitmenschen arbeiten und ein gewisses Einkommen erzielen zwei voneinander ganz getrennte Dinge seien.« (GA 34, S. 191-221, Dornach 1987).

Weitere Aufsätze zu diesem Thema waren geplant, kamen aber wegen des mangelnden Interesses der vor allem aus den oberen Schichten kommenden theosophischen Leserschaft nicht zustande. Siehe dazu: Christoph Strawe, Sozialimpulse, in: Rahel Uhlenhoff (Hrsg.) »Anthroposophie in Geschichte und Gegenwart«, Berlin 2011, S. 665.

Steiner soll laut Zander den Begriff der Volksseele »nach eigenem Bekunden« bei Karl Julius Schröer kennengelernt haben.

Auf S. 442 schreibt Zander:

»... den Begriff der Volksseele ... hat Steiner nach eigenem Bekunden bei Schröer kennengelernt (GA 28,70).«

Die Behauptung, Steiner habe nach eigenem Bekunden den Begriff der »Volksseele« bei Schröer kennengelernt, ist falsch. In der betreffenden Passage der Autobiografie »Mein Lebensgang«, die Zander im übrigen als späte Selbstdeutung Steiners sonst nicht als Quelle gelten lässt, heisst es wörtlich:

»Meiner Anschauung kam aber Schröer in hohem Grade mit seiner Ausdrucksform entgegen, wenn wir das besprachen, was sich als ›Volksseele‹ offenbart. Er sprach von dieser als von einem wirklichen geistigen Wesen, das sich in der Gesamtheit der einzelnen Menschen, die zu einem Volke gehören, darlebt. Da nahmen seine Worte einen Charakter an, der nicht bloß auf die Bezeichnung einer abstrakt gehaltenen Idee ging. Und so betrachteten wir beide das Gefüge des alten Österreich und die in demselben wirksamen Individualitäten der Volksseelen.« (GA 28, S. 93, Dornach 2000).

Dieser Text setzt eine eigene geistige »Anschauung« der »Volksseele« bei Steiner voraus, der die »Ausdrucksform« Schröers »entgegenkam«. Von einem Zugeständnis Steiners, er habe den Begriff der »Volksseele« von Schröer übernommen oder durch diesen kennengelernt, findet sich nichts.