1903 legte Eugen Heinrich Schmitt eine umfangreiche Sammlung von Quellentexten zur Gnosis vor, die von der Antike bis zur Theosophie, zu Rudolf Steiner, der modernen Physik und Ernst Haeckel reichte.

Zander meint, Schmitt sei zeitweise Theosoph gewesen und Steiner habe aus dessen Publikation seine Theorien über den Manichäismus geschöpft. In einer Anmerkung zu Schmitt stellt er drei falsche Behauptungen auf, die hier als weiteres Beispiel für seinen laschen Umgang mit Quellen angeführt werden sollen.

Zander schreibt in Anmerkung 698 auf S. 736:

»Schmitt hatte 1898 oder kurz zuvor einen Preis der Berliner Philosophischen Gesellschaft für eine Darstellung der Weltanschauung Hegels erhalten (GA 31,475) ...«

Unter Berufung auf einen Aufsatz Steiners, der im Oktober 1898 im »Magazin für Literatur« erschienen ist, spricht Zander davon, Schmitt habe 1898 oder kurz davor einen Preis der Berliner Philosophischen Gesellschaft für seine Darstellung der Hegelschen Philosophie erhalten. Zander zitiert hier keine andere Quelle und so lässt sich die Verlässlichkeit seiner Angabe leicht nachprüfen.

Steiner schreibt in diesem Aufsatz: »Vor etwa neun Jahren lernte ich in Wien einen Mann kennen, von dem ich mir manche schöne geistige Frucht versprach ... Er hatte vor kurzem von der Berliner Philosophischen Gesellschaft einen Preis für die beste Darstellung der Hegelschen Weltanschauung erhalten.« ( GA 31, Dornach 1989, S. 475.) Bei Zander wird diese Aussage zu der Behauptung: »Schmitt hatte 1898 oder kurz zuvor einen Preis der Berliner Philosophischen Gesellschaft ... erhalten ...«.

Nicht kurz vor 1898, sondern kurz vor 1889 hatte Schmitt den Preis erhalten.

Zander meint, Steiner habe in dem Individualanarchisten Eugen Heinrich Schmitt 1898 einen Geistesverwandten erkannt.

Zander schreibt in Anmerkung 698 auf S. 736:

»... Steiner erkannte in diesem Jahr [1898] in dem (wohl auch noch 1903 [GA 34,412]) in Pest wohnenden Individualanarchisten und Nietzscheaner Schmitt einen Geistesverwandten (GA 31,476) ...«

In der Tat finden sich Äußerungen in Steiners Aufsatz, die diese Interpretation rechtfertigen.

An Steiners unterschiedlichen Haltungen zu Schmitt lässt sich jedoch eine Pointe ablesen, die Zander entgeht. Sie enthalten wie en miniature das gesamte Grundproblem, aus dem Zanders Dekonstruktionsversuch der Anthroposophie zu erklären ist: es ist jenes Problem, das Steiner an Schmitt erkennt, und das bei Zander in abgewandelter Form wieder auftritt.

In seinem von Zander zitierten Aufsatz »Ein wirklicher ›Jünger‹ Zarathustras« schreibt Steiner 1898 über ein von Schmitt veröffentlichtes Nietzschebuch: »Wie eine Handreichung über Meilen hinweg erscheint mir die Tatsache dieses Buches. Über das Verhältnis des modernen Menschen zu den großen Rätselfragen des Daseins hat E.H. Schmitt dieselbe Auffassung wie ich.« (GA 31, Dornach 1989, S. 477)

Worin besteht diese Auffassung? Sie besteht in einer bestimmten Sicht der Bewusstseinsentwicklung der Menschheit. Diese hat sich aus einer ursprünglichen, sinnlich-geistigen Einheit mit der Welt herausgelöst und muss den Umweg über das Denken machen, um wieder zu jener Einheit zurück zu finden.

Sokrates und Plato haben auf den Geist, der im Menschen lebt, hingewiesen, durch sie wurde jedoch auch dieser Geist aus dem Weltall herausgerissen, mit dem er zuvor noch eine Einheit bildete. Die platonische Ideenwelt war der aus der Natur herausgelöste Geist, der einst »über den Wassern schwebte.« Er wurde zu einem »schattenhaften Gebilde«, das den Zusammenhang mit den »feuchten, warmen Säften der Natur« verloren hatte.

Das Christentum wollte diesem Geist »wirkliches Leben« geben, aber es fand den Weg nicht zurück zur Natur, es versetzte den Geist in ein eigenes Reich, die Ideen Platos wurden zu Gott und den Engeln. Diese waren aber keine natürlichen Wesen, sondern hinzuerfunden wurden sie zur natürlichen Welt. Sie wurden »in das Jenseits versetzt« und das Diesseits als »irdisches Jammertal verleumdet«.

Nun folgen einige programmatische Sätze, die sich wie ein Vorblick auf die Anthroposophie aus dem Jahr 1898 lesen: »Der Weg vom Himmel zur Erde muss wiedergefunden werden. Denn die Erde selbst hat den Geist, den Himmel in sich; und nur die Menschen haben es verlernt, den Geist auf der Erde auch zu finden, von dem sie Kenntnis erlangt haben.« (GA 31, Dornach 1989, S. 478.)

Man könnte sich an dieser Stelle fragen, von welchem »Geist«, welchem »Himmel« Steiner spricht, den die Erde in sich hat.

Wie ist dieser Weg zur Erde beschaffen? Zur Weltanschauung der alten Griechen führt er nicht zurück. »Denn wir haben den Geist in seiner eigenen Gestalt gesehen.« Auch hier könnte man fragen, was das für eine eigene Gestalt des Geistes ist und wer dieses »Wir« ist, von dem Steiner spricht.

Er fährt fort: »Aber wir können den Geist in uns aufleben lassen, wir können uns von ihm durchdringen lassen. Und wenn wir ihn wirklich geschaut haben und dann den Blick zurück zur Natur wenden: dann werden wir sehen, dass das Licht, das in unserem Kopfe als Geist aufleuchtet, dasselbe ist wie dasjenige, das die Natur selbst ausstrahlt. Wir blicken in unser Inneres, und der Geist leuchtet darin auf; und unser Auge wird sonnenhaft und blickt in die Natur und sieht in ihr den gleichen Geist.« (GA 31, Dornach 1989, S. 478.)

Die heutige Menschheit muss einen Umweg gehen, dessen die vorsokratischen Griechen noch nicht bedurften. Sie muss den Geist erst in sich sehen, um ihn in der Natur wieder zu erkennen. Die alten Griechen konnten sich mit dem Geist begnügen, der ihnen aus der Natur entgegenleuchtete. Von diesem Menschen, der den Weg zum Geist in seinem Innern gehen muss, um ihn in der Natur wiederzufinden, hatte Goethe laut Steiner in seinen besten Jahren eine Ahnung. (R. Ch. Zimmermann schreibt in seiner epochemachenden Studie über Goethe als Hermetiker: »Nicht angelesene Renaissance-Magie, sondern erlebte Hermetik des 18. Jahrhunderts ist es, was Goethes Jugendwerken – allen voran Faust – ihre rätselhafte Fluoreszenz gibt. Hier gilt ferner kein Tabu mehr, und ein Wort Schellings ... scheint wie zu uns gesprochen: ›Der alte Vertrag unter Gelehrten, die Welt der Theosophie als unwissenschaftlich abzutun, bindet uns nicht mehr; denn die Frucht, die reif ist, bricht mit Macht an den Tag‹.« R. Ch. Zimmermann, Das Weltbild des jungen Goethe, Bd. 1, München 1969, S. 10).

Nietzsche, so Steiner weiter, habe diesen Menschen, der den Geist in sich finde, als »Übermenschen« verkündet. In dieser Auffassung des Übermenschen stimme Schmitt mit seiner eigenen überein.

Man sieht also, was Steiner 1898 Zustimmung zu jenem Geist entlockte, an dessen »philosophischem Enthusiasmus« er sich rund 10 Jahre vorher im Kreis um Marie-Eugenie delle Grazie ergötzt hatte.

Deswegen von einem »Geistesverwandten« zu sprechen, scheint dennoch übertrieben. Doch bemerkenswert ist nun die Wandlung, die Steiners Haltung zu Schmitt innerhalb von fünf Jahren erfährt. Denn 1903 äußert sich Steiner in der »Luzifer-Gnosis« erneut über Schmitt und eine weitere seiner Publikationen. Innerhalb dieser fünf Jahre ist Steiner geistig weiter gegangen, Schmitt nicht. (Siehe den folgenden Eintrag).

Als Theosoph, meint Zander, habe Steiner Eugen Heinrich Schmitts Gnosisbuch überaus positiv besprochen und es für seine Theoriebildung, etwa zu den Manichäern, benutzt (hier verweist er auf einen editorischen Kommentar in GA 93).

Zander schreibt in Anmerkung 698 auf S. 736:

»Als Theosoph hat Steiner Schmitts Gnosis-Buch überaus positiv besprochen (GA 34,411–414) und es für seine Theoriebildung, etwa zu den Manichäern, benutzt (vgl. den Kommentar in GA 93,308).«

Steiner rezensierte Schmitts Buch über die Gnosis im Juli 1903, seinen Vortrag über den Manichäismus hielt er im November 1904 in Berlin.

Hat Steiner das Buch von Schmitt »überaus positiv« besprochen oder handelt es sich hier wieder um eine jener Zanderschen Erzählungen, die uns schon bei seiner Behandlung einer ganzen Reihe theosophischer Autoren begegnet sind?

Nun, in »Luzifer-Gnosis« macht Steiner 1903 deutlich, dass er Schmitt nicht als Theosophen betrachtet. Er schreibt über ihn: »Viele stehen nahe vor der Eingangstür zur Mystik, und können nur die letzten Schritte nicht machen ... der Mystiker ... muss sich doch gestehen, dass sie auf halbem Wege stehen bleiben.« (GA 34, Dornach 1978, S. 411)

Immerhin, Schmitt ist »einer der besten« aus den Reihen derer, die auf halbem Wege stehen bleiben. Der Mystiker sieht mit Befriedigung, so Steiner weiter, wie von Schmitt erkannt werde, dass der Mensch im Ewigen ruhe. »Allein, er muss zugleich sehen, wie nicht zum wahren, echten Leben des Geistes fortgeschritten wird.« (GA 34, Dornach 1978, S. 413)

Schmitt ist für Steiner zwar ein Schätzer der Gnostiker, aber er kann »nicht nachleben, was sich im Geiste dieser großen Mystiker abgespielt hat, und was sie geschaut haben.« (GA 34, Dornach 1978, S. 413) »Er ist Denker, aber nicht Mystiker. Er nimmt die geistige Welt nicht so wahr, wie der Sinnesmensch seine Welt wahrnimmt. Er kann den Gedanken schätzen, aber nicht beleben. Die Verstandeskultur unserer Zeit wirkt auch auf diesen kühnen und freien Denker noch lähmend.« (GA 34, Dornach 1978, S. 413)

Dies sind die Kernaussagen der »überaus positiven Rezension«, die in Wahrheit ein Dokument des Bedauerns ist, dass der vielversprechende Autor, den Steiner aus seiner Wiener und Berliner Zeit kannte (gehörte er doch zu den Mitbegründern des Giordano-Bruno-Bundes), nicht einzulösen vermochte, was er einst verhieß: dass er jenen Schritt vom Denken zum Erleben des Denkens, von der Philosophie zur Mystik nicht gegangen war, den Steiner gewagt hatte. Den Weg zum Himmel in der Erde, zum Geist, den die Erde in sich trägt, war Steiner gegangen, während Schmitt immer noch im platonischen Ideenhimmel, jener schattenhaften Welt herumwandelte, die er hätte verlassen können, wenn es ihm gelungen wäre, die geistige Welt so wahrzunehmen, wie der Sinnesmensch die seine. Und aus dem Buch dieses Denkers, der nach Steiners Auffassung gescheitert war, weil er nicht nachzuleben vermochte, was die Mystiker geschaut hatten, sollte er sich ein Jahr später bei seiner »Theoriebildung« über den Manichäismus und anderes bedienen?

Zander verdankt den Hinweis auf Schmitts Buch der Herausgeberin von GA 93, Hella Wiesberger, die in ihren editorischen Kommentaren erwähnt, das Buch habe sich in Steiners Bibliothek befunden und dieser habe die für seinen Vortrag benutzten Stellen angestrichen. Es handelt sich um drei Stellen: eine bezieht sich auf eine Äußerung des Manichäerbischofs Faustus gegenüber Augustinus, man dürfe keine Lehre auf Autorität hin annehmen, sondern nur aus Freiheit, eine zweite auf eine entsprechende Äußerung Manis, seine Schüler müssten alle äußeren Überlieferungen hinter sich lassen, und zu eigenen inneren Erfahrungen gelangen und die dritte auf eine kosmogonische Erzählung über den Kampf des Lichtes und der Finsternis. Aus dieser Legende leitet Steiner den Kerngedanken des Manichäismus ab, das Böse dürfe nicht mit den Waffen des Bösen bekämpft, sondern müsse durch Liebe und Milde umgewandelt werden, eine Auffassung des Bösen, »die ich oftmals als die theosophische auseinandergesetzt habe.«

Was Steiner im Folgenden entwickelt, ist eine Deutung des Manichäismus, die diesen mittels theosophischer Begrifflichkeit interpretiert und in die Geschichtsauffassung der Theosophie integriert. Der Manichäismus greift den tiefsten Kern des Christentums auf und wird erst in Zukunft seine volle Wirksamkeit entfalten. In der »sechsten Wurzelrasse«, d.h. nach dem 10. Jahrtausend nach Christus wird die Menschheit sich geistig viel stärker als heute unter moralischen Gesichtspunkten differenzieren (die folgenden Sätze stellen keine wörtliche Wiedergabe dar, sondern wurden aus verschiedenen Notizen rekonstruiert; siehe die editorische Vorbemerkung in GA 93, Dornach 1979, S. 308): »Auf der einen Seite werden dann Menschen da sein von einer gewaltigen inneren Güte, von Genialität an Liebe und Güte; aber auf der anderen Seite wird auch das Gegenteil da sein. Das Böse wird als Gesinnung ohne Deckmantel bei einer großen Anzahl von Menschen vorhanden sein, nicht mehr bemäntelt, nicht mehr verborgen. Die Bösen werden sich des Bösen rühmen als etwas besonders Wertvollem. Es dämmert schon bei manchen genialen Menschen etwas auf von einer gewissen Wollust an diesem Bösen, diesem Dämonischen der sechsten Wurzelrasse. Nietzsches blonde Bestie ist zum Beispiel so ein Vorspuk davon. ... Die sechste Wurzelrasse wird die Aufgabe haben, das Böse durch Milde so weit als möglich wieder einzubeziehen in den fortlaufenden Strom der Entwicklung.« (GA 93, Dornach 1979, S. 77.)

Von all diesen Überlegungen, die Steiner über den Manichäismus und seine weltgeschichtliche Bedeutung anstellt, findet sich bei Schmitt nichts. Die Behauptung Zanders, Steiner habe sich bei seiner Theorienbildung über den Manichäismus auf Schmitt gestützt, ist aus der Luft gegriffen.

Die gewaltige Arbeit der Philologie im 19. Jahrhundert, so Zander, führte zu einer Vielfalt kultureller Deutungsmodelle, und machte die Relativität der europäischen Traditionen, des Judentums und des Christentums deutlich. Die Fülle des Materials war um 1900 selbst für Fachleute kaum mehr überschaubar. Öffentliche Debatten um Geltungsansprüche blieben nicht aus, wie etwa der »Bibel-Babel-Streit« um den Assyriologen Fritz Delitzsch zeige. Steiner habe auf diesen Streit nicht reagiert.

Auf S. 742 schreibt Zander:

»Als der Assyriologe Friedrich Delitzsch in einem Vortrag am 13. Januar 1903 Parallelen zwischen biblischen und babylonischen Schriften erörterte – fachwissenschaftlich nichts Neues – und dabei an einigen Stellen auch von der Überlegenheit der babylonischen Religion sprach, geriet der Vortrag zum Eklat. Nicht weil andere Forscher widersprachen, sondern weil Kaiser Wilhelm II., der dem Vortrag beigewohnt hatte, in einem an Tageszeitungen lancierten, konfessorischen Brief kaum verhohlen die Angst vor den Konsequenzen der historischen Bibelkritik artikulierte und Delitzsch ›dringend‹ riet, ›seine Thesen nur in theologischen Schriften und im Kreise seiner Kollegen zu ventilieren, uns Laien aber … damit zu verschonen‹. Auf dieses Vorzeigebeispiel öffentlicher Unruhe durch historische Forschung hat Steiner nicht reagiert, vielleicht weil er 1903 gerade über beide Ohren in der Akquisition theosophischen Wissens steckte.«

Steiner hat den Bibel-Babel-Streit sehr wohl zur Kenntnis genommen und zeitnah auf ihn reagiert.

Bereits am 19. März 1903 hielt Steiner einen Vortrag über »Die Theosophie und die Fortbildung der Religionen mit Berücksichtigung der Babel-Bibel-Frage.« Diesen Vortrag, den Zander auf S. 742 verschweigt, erwähnt er selbst auf S. 790 seines Buches.

Im Mai 1904 veröffentlichte Steiner einen Artikel in der »Luzifer-Gnosis« mit dem Titel »Die übersinnliche Welt und ihre Erkenntnis«, in dem er ausführlich auf den Bibel-Babel-Streit einging.

Seine in diesem Aufsatz vorgetragene Kritik an Delitzsch liest sich wie ein Kommentar zu Zanders Dekonstruktionsversuch der Anthroposophie. In Delitzsch, so Steiner, werfe sich der auf Tatsachen der physischen Forschung gerichtete Verstand zum Richter über Erkenntnisse übersinnlicher Art auf.

»Es ist kein Bewusstsein davon vorhanden«, so schreibt er über Delitzsch, »dass dieser Verstand vielleicht auch ungeeignet sein könnte, über die Unterweisungen in der ›Offenbarung‹ so ohne weiteres nachzudenken. Wenn das, was als ›Offenbarung‹ auftritt, verstanden werden soll, dann müssen zu diesem Verständnis diejenigen Kräfte herangezogen werden, aus denen die ›Offenbarung‹ selbst geflossen ist. Wer nun mystische Erkenntniskräfte in sich entwickelt, der sieht bald, dass sich ihm in gewissen von Delitzsch ›althebräische Sagen‹ genannten Erzählungen des Alten Testamentes Wahrheiten höherer Art aussprechen, die nicht mit dem auf das Sinnliche gerichteten Verstand erfasst werden können. Das eigene mystische Erleben führt ihn dazu, einzusehen, dass die ›Sagen‹ aus mystischer Erkenntnis der übersinnlichen Wahrheiten geflossen sind. Und dann ändert sich der ganze Gesichtspunkt mit einem Schlage. So wenig man gegen die Wahrheit eines mathematischen Satzes etwas erfahren kann, wenn man nachweist, wer ihn zuerst gefunden hat, oder gar durch den historisch gewiss wertvollen Fund, dass ihn mehrere behauptet haben: so wenig kann irgend etwas gegen die Wahrheit einer biblischen Erzählung dadurch ausgemacht werden, dass man eine ihr ähnliche anderswo entdeckt. Statt zu fordern, dass jeder auf seinem Rechte, oder gar auf seiner Pflicht bestehen solle, über die sogenannten ›Offenbarungen‹ nachzudenken, sollte vielmehr gesagt werden, dass nur der ein Recht habe, über diesen Begriff etwas zu entscheiden, der die in ihm schlummernden Kräfte entwickelt hat, die es ihm möglich machen, nachzuleben, was diejenigen Mystiker erlebt haben, welche ›übersinnliche Offenbarungen‹ verkündet haben.« (GA 34, Dornach 1987, S. 145)

Im Grunde leidet auch Zanders gesamtes Werk an dieser Inkompatibilität der von ihm angewandten Erkenntnisinstrumente und des untersuchten Erkenntnisgegenstandes, auch wenn die Anthroposophie nicht als Offenbarung bezeichnet werden kann, sondern als Ergebnis mystischer Erfahrung.

Auf die Relativierung tradierter Deutungssysteme durch den Historismus, die einerseits die Konstruktion neuer Weltanschauungssysteme ermöglichte, andererseits deren Geltungsreichweite untergrub, reagierte die Theosophie laut Zander, indem sie versuchte, das neue Material in einen Deutungsentwurf zu integrieren, gleichzeitig aber selektiv mit diesem umging. Insbesondere die damaligen Kenntnislücken hinsichtlich tibetischer, gnostischer, kabbalistischer oder rosenkreuzerischer Traditionen habe sie benutzt, um dort die »esoterischen Scharnierstellen« ihrer Traditionskonstruktion unterzubringen.

Auf S. 734 schreibt Zander:

»Die Beanspruchung historischer Traditionen unter Theosophen war gerade an den Punkten besonders ausgeprägt, wo die Erreichbarkeit der Quellen besonders problematisch war: hinsichtlich tibetischer, gnostischer, kabbalistischer oder rosenkreuzerischer Traditionen und bei den Mysterienreligionen. Theosophen und Theosophinnen verwandten also einerseits das neu zugängliche Material zur Weltanschauungskonstruktion, nutzten aber zugleich die damaligen Kenntnislücken, um dort die unbelegbaren, ›esoterischen‹ Scharnierstellen ihrer Traditionskonstruktion unterzubringen. Letztlich suchten sie das Bedrohungspotential in den Relativierungsfolgen des Historismus zu entschärfen, indem sie in einer synkretistischen Weltanschauungskonstruktion die souveräne Assimilation der vermehrten Deutungsmöglichkeiten suggerierten.«

Diese pauschalen Aussagen treffen auf Steiner nur bedingt zu, denn weder die tibetischen, noch die gnostischen oder kabbalistischen Traditionen stellen einen von ihm beanspruchten Bezugsrahmen dar.

Was das Rosenkreuzertum anbetrifft, so stellt Steiners Bezugnahme auf dieses eine freie Weiterbildung und Neuschöpfung dar. Wie immer auch die Quellenlage oder die wissenschaftliche Bearbeitung zu Steiners Zeiten ausgesehen haben mag: für Steiners Verständnis des Rosenkreuzertums ist sie nicht relevant, zumal er deutlich macht, dass das Rosenkreuzertum auf spirituellen Erfahrungen beruhte, die sich lediglich gebrochen in den überlieferten Quellen niederschlugen. Andererseits zeigt sich bei einer näheren Analyse, dass viele Elemente der Kosmologie und Geschichtsauffassung, der Anthropologie und mystischen Erkenntnislehre Steiners in frappierender Weise Motiven der leonischen und lurianischen Kabbala entsprechen, lange bevor diese durch die historische Forschung, besonders Gershom Scholems überhaupt bekannt wurden. Dies im Einzelnen aufzuzeigen, würde hier zu weit führen. Weiter oben wurde am Beispiel der Akasha-Chronik gezeigt, dass es in der jüdischen Mystik Vorstellungen gibt, die dem, was Steiner als Akasha-Chronik bezeichnete, analog sind, ohne dass Zander dies bemerkt hätte.