Angeblich ist in der ersten Auflage des »Christentums als mystische Tatsache« 1902 nichts von Steiners späterer Christologie zu finden. »Jesus war einer unter vielen Eingeweihten, eine Auszeichnung durch das Christusprädikat gab es noch nicht, die kosmische Deutung des Christus fand in diesem Konzept [von 1902] keinen Platz«, so Zander.

Auf  S. 788-790 schreibt Zander:

»›Der Christus‹ war 1902 eine ahistorische Größe und stand jenseits der positiven Religionen, wie eine Anspielung auf die Isis an der gleichen Stelle deutlich macht.

Dies war ein theosophisches Konzept.

Folglich fehlten wichtige Dimensionen einer christologischen Deutungsebene.

Jesus erschien als einer von vielen Eingeweihten in die Mysterienkulte. ... Jesus stellte er auf die gleiche Stufe wie alle Eingeweihten, der damit, wie viele vor ihm, ›eine Stufe der Initiation‹ betrete 25. Sterben und Auferstehen waren 1902 in diesem Kontext als Stufen einer Einweihung konzipiert, also in ihrem historischen Gehalt irrelevant ...

Anmerkung 25: Steiner: Das Christentum als mystische Thatsache (11902), 86. 1902 sprach Steiner konsequenterweise von ›den Initiierten‹, die derartige Erfahrungen machten (ebd., 86), 1910 bezog er diese Aussage auf ›den Initiieren‹ [!] Christus (GA 8,107). 1910 hieß es signifikanterweise, Jesus betrete ›eine Stufe, die in einem höheren Grade der Initiation ihren Ausdruck findet. (ebd.; Veränderungen von 1910 von mir kursiv). Damit war Jesus über die anderen Eingeweihten hinausgehoben. Außerdem fügte Steiner 1910 hinzu, dass Jesus ›der durch die Innewohnung der Christenwesenheit Eingeweihte‹ sei (ebd., 106).

...

Von all dem, was ... in den folgenden Jahren für Steiner wichtig und zu zentralen Eigenheiten seiner Christologie werden sollte, war 1902 mit keinem Wort die Rede: Das ›Mysterium von Golgatha‹ oder die kosmische Deutung des Christus besaßen in diesem Konzept keinen Platz und kamen nicht vor. Jesus war einer unter vielen Eingeweihten, eine Auszeichnung durch das Christusprädikat gab es noch nicht. Steiner vertrat 1902 noch die weitgehende Egalität der Religionen in der theosophischen Religionsgeschichte.«

Um die Irrigkeit dieser Behauptungen zu erkennen, genügt es, eine Passage der Erstausgabe des »Christentums als mystische Tatsache« zu lesen, ebenjene Passage, auf die Zander selbst verweist (S. 86-87).

In diesem Text finden sich Aussagen zur spezifischen Differenz zwischen Jesus und anderen Eingeweihten wie z.B. Buddha, das »Christus-Prädikat« und die kosmische Dimension des Christus. Die entsprechenden Äußerungen sind kursiv gesetzt.

»Buddha und Jesus sind im vornehmsten Sinne Eingeweihte für die, die ihre göttliche Natur erkannt haben ... Aber das Jesus-Leben enthält mehr als das Buddha-Leben. Buddha schließt mit der Verklärung. Das Bedeutungsvollste im Jesus-Leben beginnt erst mit dieser Verklärung.

Man übersetze das in die Sprache der Eingeweihten:

Buddha ist bis zu dem Punkte gelangt, wo in dem Menschen das göttliche Licht anfängt zu glänzen. Er steht vor dem Tode des Irdischen. Er wird das Weltlicht. Jesus geht weiter. Er stirbt nicht physisch in dem Augenblicke, in dem ihn das Weltlicht durchklärt. Er ist in diesem Augenblicke ein Buddha. Aber er betritt auch in diesem Augenblicke eine höhere Stufe der Initiation. Er leidet und stirbt. Das Irdische verschwindet. Aber das Geistige, das Weltlicht verschwindet nicht. Seine Auferstehung erfolgt. Er tritt als Christus vor seine Gemeinde. Buddha zerfließt im Augenblicke der Verklärung in das selige Leben des Allgeistes. Jesus erweckt diesen Allgeist noch einmal in menschlicher Gestalt in das gegenwärtige Dasein. Solches ward mit den Initiierten der höheren Weihen vollzogen. Die im Sinne des Osiris-Mythos Initiierten waren zu solcher Auferstehung gelangt. Diese ›große‹ Initiation wurde also im Jesus-Leben zu der Buddha-Initiation hinzugefügt. Buddha hat mit seinem Leben das erwiesen, dass der Mensch der Logos ist; und dass er in diesen Logos, in das Licht zurückkehrt, wenn sein Irdisches stirbt. Jesus ist Logos selbst, persönlich geworden. In ihm ist das Wort Fleisch geworden.«

Hingewiesen sei auf die abgesetzte Aussage: »Man übersetze das in die Sprache der Eingeweihten«. Steiner bedient sich im Folgenden der »Sprache der Eingeweihten«, um Buddha und Jesus zu charakterisieren. Was genau bedeutet dies für die Hermeneutik der folgenden Sätze? Eine Reflexion über diese Frage sucht man bei Zander vergeblich.

Zander behauptet, Steiner füge »auf den Schultern Edouard Schurés« Jesus im Sommer 1903 in die Reihe der großen Eingeweihten ein, und mache ihn, indem er von dessen »Meisterwort« spreche, zu einem der »theosophischen Eingeweihten«.

Zander schreibt auf S. 790:

»Im Sommer 1903 plazierte Steiner auf den Schultern des ›genialischen‹ Edouard Schuré (GA 34,42) Jesus – wie schon 1902 – in die Reihe der ›großen Eingeweihten: Rama, Krishna, Hermes, Moses, Orpheus, Pythagoras, Platon und Jesus. Stufenweise sind durch diese Führer die Kräfte in die

Menschheit eingestrahlt worden‹ (ebd., 63). Neu war dabei wohl, dass er vom ›Meisterwort‹ Jesu sprach (ebd., 64), womit er ihn vermutlich unter die theosophischen ›Meister‹ einreihte.«

Weder ordnet Steiner Jesus »auf den Schultern Schurés« in die Reihe der großen Eingeweihten ein, noch spricht er von »Jesu Meisterwort«, um ihn zu einem »theosophischen Meister« zu machen.

Steiner schreibt in dem von Zander herangezogenen Aufsatz »Einweihung und Mysterien«:

»Wie also der Lehrer der Religion zu den Menschen verschiedener Entwickelungsstufen spricht, das macht er von den Geistes- und Herzensbedürfnissen derer abhängig, zu denen er sprechen soll.

Um das zu können, muss er den Kern der Weisheit, durch die er wirken soll, selbst in seiner Seele tragen; und die Art, wie er diesen Kern trägt, muss eine solche sein, dass sie ihn befähigt, zu jeglichem Menschen in dessen Auffassungsweise zu sprechen.

Wer die Reden der Religionslehrer nach ihrer Außenseite betrachtet, erkennt deshalb nur die eine, eben die äußere Seite ihrer Weisheit.

Eindringlich weist auf diese Tatsache hin Edouard Schuré in seinem Buche über die ›Großen Eingeweihten‹. Er gibt darin eine Darstellung der großen Weisheitslehrer: Rama, Krishna, Hermes, Moses, Orpheus, Pythagoras, Plato und Jesus in der Weise eines intuitiven Forschers, eines edlen Gedankenkünstlers und einer von tiefem religiösen Empfinden getragenen Persönlichkeit.«

Steiner zitiert wie man sieht Schuré nicht, um Jesus in eine Reihe »theosophischer Meister« einzufügen, sondern um die Tatsache zu verdeutlichen, dass es in allen Religionen einen Unterschied zwischen exoterischen Lehren und esoterischem Kern gibt und dass die großen Lehrer der Religion ihre Lehren an der Auffassungsfähigkeit der Zuhörer  ausrichteten. Steiner fährt fort:

»Seinen Gesichtspunkt umschreibt er [Schuré] in der Einleitung: ›Alle großen Religionen haben eine äußere und eine innere Geschichte; die eine offenbar, die andere verborgen. Durch die äußere Geschichte erschließen sich mir die Dogmen und Mythen, wie sie öffentlich in Tempeln und Schulen verkündet werden, wie sie in den Kulten und in dem volkstümlichen Aberglauben zur Darstellung kommen. Durch die innere Geschichte erschließen sich mir die tiefe Wissenschaft, die geheimnisvolle Weisheit und die verborgenen Gesetze der Taten der großen Eingeweihten, Propheten und Reformatoren, welche diese Religionen geschaffen, gestützt und verbreitet haben. Die erste, die äußere Geschichte kann man überall kennen lernen; sie ist nicht wenig dunkel, widerspruchsvoll und verworren. Die zweite, die ich die esoterische Geschichte, oder die Weisheit der Mysterien nennen möchte, ist sehr schwer aus der ersten herauszuentwickeln. Denn sie ruht in den Tiefen der Tempel, in den geheimen Gesellschaften, und ihre erschütterndsten Dramen entrollen sich ausschließlich in den Seelen der großen Propheten, die weder Urkunden noch Schülern ihre erhabensten Erlebnisse und ihre sie zum Göttlichen hebenden Vorstellungen vertraut haben. Man muss ihre Rätsel lösen. Aber, was man dann findet, erscheint lichtvoll, organisch, in Harmonie mit sich selbst. Man könnte es auch die ewige und universelle Religion nennen. Es stellt sich als das Innere der Dinge dar, als die Innenseite des Menschheitsbewusstseins im Gegensatz zur bloß geschichtlichen Außenseite. Da ergreifen wir den schöpferischen Keimpunkt von Religion und Philosophie, die am anderen Ende der Ellipse in der ungeteilten Wissenschaft zusammentreffen. Es ist der Punkt, der den übersinnlichen Wahrheiten entspricht. Da finden wir die Ursache, den Ursprung und das Ziel der wunderbaren Arbeit der Jahrhunderte, die Weltenlenkung in ihren irdischen Sendboten.‹

Diese ›irdischen Sendboten‹ arbeiten in der geistigen Apotheke, im geistigen Laboratorium der Menschheit. Was sie zu solcher Arbeit befähigt, sind die unvergänglichen Gesetze der geistigen Chemie, und was sie als geistig-chemische Prozesse vollbringen: das sind die großen intellektuellen und moralischen Taten der Weltgeschichte. Was aber aus ihrem Munde strömt, das sind nur Gleichnisse, nur Bilder der höheren in ihren Seelentiefen wohnenden Weisheit, angepasst dem Verständnisse derjenigen, die ihnen das Ohr leihen. Nur denen, welche die Bedingungen erfüllen, die das Verständnis und den rechten Gebrauch der höheren Weisheit verbürgen, kann diese eröffnet werden. Diese aber empfinden dann in der Mysterien-Einweihung die unmittelbare Berührung mit den geistigen Urgründen, mit den Vater- und Muttermächten des Daseins. Man höre, was einer sagt, der von solchen Empfindungen durchdrungen war. Klemens von Alexandrien, der christliche Schriftsteller des zweiten und dritten Jahrhunderts unserer Zeitrechnung, der vor seiner Taufe Myste, das ist Mysterienschüler war, preist diese Mysterien mit den Worten: ›O der wahrhaft heiligen Mysterien! o des lauteren Lichtes! Eine Fackel wird mir vorangetragen, wenn ich den Himmel und Gott anschaue; ich werde heilig, wenn ich die Weihe empfange. Die Geheimnisse aber erschließt mir der Urgeist und besiegelt den Eingeweihten durch die Erleuchtung; eingeweiht in den Glauben, stellt er mich dem All-Einen vor, damit ich im Schoße der Ewigkeit aufbewahrt werde. Das sind die Weihezeremonien meiner Mysterien! Willst du, so lass auch du dich einweihen, und du wirst mit den Geisteskräften des Daseins den Reigen schließen um den ungeschaffenen, unvergänglichen, all-einen Weltengeist herum, und die Sprache, die dir vom Kosmos inspiriert ist, wird diesem All-Einen die Loblieder anstimmen.‹« (GA 34, Text siehe Quellen)

Dass Steiner Jesus nicht zu einem theosophischen »Meister« macht, zeigt gerade der Absatz, in dem Zander den Ausdruck Meisterwort findet, überdeutlich, spricht doch Steiner darin von Jesus, in dem der Christus inkarniert gewesen sei. Jesus als »theosophischer Meister« ist aber keine Inkarnation Christi, sondern bestenfalls ein Avatar oder eine Epiphanie des Logos.

Steiner schreibt: »Der Theosoph weiß, dass im Christentum die Wahrheit ist. Und er weiß auch, dass Jesus, in dem der Christus verkörpert war, kein Führer der Toten ist, sondern ein Führer der Lebendigen. Er versteht das große Meisterwort: Ich bin bei euch alle Tage bis ans Ende. An den lebendigen Führer, nicht an den der geschichtlichen Berichte wendet sich zuerst, wer so wie Annie Besant das Christentum erklären will. Was das ›lebendige Wort‹ noch heute dem Ohre verkündet, das lauschen will: das strahlt dann ein in die Evangelienberichte. Jawohl, er ist dageblieben bis heute, der Kündiger des Wortes, und er kann uns selbst sagen, wie wir den Buchstaben zu erfassen haben, der von seinen Taten und Reden berichtet.« (GA 34, Text siehe Quellen)

Zander behauptet, in der zwischen Juni 1904 und September 1905 veröffentlichten Aufsatzfolge »Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?« spielten Bezüge auf das Christentum nicht einmal in Beispielen eine Rolle. Diese Behauptung trifft nur zu, wenn man Steiners Ausführungen über den »großen Hüter der Schwelle« tendenziös liest.

Auf S. 792 schreibt Zander:

»In der zwischen Juni 1904 und September 1905 publizierten Aufsatzfolge ›Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?‹ spielten Bezüge auf das Christentum allerdings nicht einmal in Beispielen eine Rolle.«

»Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?« gipfelt in der »erzählerischen« Beschreibung der Begegnung des Schülers mit dem »großen Hüter der Schwelle«. Die Frage: Wer ist dieser »große Hüter der Schwelle«? wird von Zander nicht gestellt. Dass es sich dabei um das »große Erdenvorbild der Menschheit«, um Christus, der großen Lehrer und das Vorbild der »selbstlosen Liebe« handelt, kann nur tendenziöser Lektüre entgehen, die Steiners Darstellungen zwanghaft falsch kontextualisiert.

Steiner schreibt über die Begegnung mit dem »großen Hüter« (die Formulierungen die auf Christus als den Erlöser und das Vorbild der Menschheit hinweisen, sind kursiv gesetzt):

»Nun erscheint in dem geschilderten ›Hüter der Schwelle‹ [dem kleinen] nur das Ergebnis der verflossenen Zeit. Und von den Zukunftskeimen ist nur dasjenige darinnen, was in dieser verflossenen Zeit hineingewoben worden ist. Aber der Mensch muss in die zukünftige übersinnliche Welt alles mitbringen, was er aus der Sinnenwelt herausholen kann. Wollte er nur das mitbringen, was in sein Gegenbild bloß aus der Vergangenheit hinein verwoben ist, so hätte er seine irdische Aufgabe nur teilweise erfüllt. Deshalb gesellt sich nun zu dem ›kleineren Hüter der Schwelle‹ nach einiger Zeit der größere. Wieder soll in erzählender Form dargelegt werden, was sich als Begegnung mit diesem zweiten ›Hüter der Schwelle‹ abspielt.

Nachdem der Mensch erkannt hat, wovon er sich befreien muss, tritt ihm eine erhabene Lichtgestalt in den Weg. Deren Schönheit zu beschreiben ist schwierig in den Worten unserer Sprache. –

Diese Begegnung findet statt, wenn sich die Organe des Denkens, Fühlens und Wollens auch für den physischen Leib so weit voneinander gelöst haben, dass die Regelung ihrer gegenseitigen Beziehungen nicht mehr durch sie selbst, sondern durch das höhere Bewusstsein geschieht, das sich nun ganz getrennt hat von den physischen Bedingungen. Die Organe des Denkens, Fühlens und Wollens sind dann die Werkzeuge in der Gewalt der menschlichen Seele geworden, die ihre Herrschaft über sie aus übersinnlichen Regionen ausübt. –

Dieser so aus allen sinnlichen Banden befreiten Seele tritt nun der zweite ›Hüter der Schwelle‹ entgegen und spricht etwa folgendes:

›Du hast dich losgelöst aus der Sinnenwelt. Dein Heimatrecht in der übersinnlichen Welt ist erworben. Von hier aus kannst du nunmehr wirken. Du brauchst um deinetwillen deine physische Leiblichkeit in gegenwärtiger Gestalt nicht mehr. Wolltest du dir bloß die Fähigkeit erwerben, in dieser übersinnlichen Welt zu wohnen, du brauchtest nicht mehr in die sinnliche zurückzukehren. Aber nun blicke auf mich. Sieh, wie unermesslich erhaben ich über all dem stehe, was du heute bereits aus dir gemacht hast. Du bist zu der gegenwärtigen Stufe deiner Vollendung gekommen durch die Fähigkeiten, welche du in der Sinnenwelt entwickeln konntest, solange du noch auf sie angewiesen warst. Nun aber muss für dich eine Zeit beginnen, in welcher deine befreiten Kräfte weiter an dieser Sinnenwelt arbeiten. Bisher hast du nur dich selbst erlöst, nun kannst du als ein Befreiter alle deine Genossen in der Sinnenwelt mitbefreien. Als einzelner hast du bis heute gestrebt; nun gliedere dich ein in das Ganze, damit du nicht nur dich mitbringst in die übersinnliche Welt, sondern alles andere, was in der sinnlichen vorhanden ist. Mit meiner Gestalt wirst du dich einst vereinigen können, aber ich kann kein Seliger sein, solange es noch Unselige gibt! Als einzelner Befreiter möchtest du immerhin schon heute in das Reich des Übersinnlichen eingehen. Dann aber würdest du hinabschauen müssen auf die noch unerlösten Wesen der Sinnenwelt. Und du hättest dein Schicksal von dem ihrigen getrennt. Aber ihr seid alle miteinander verbunden. Ihr musstet alle hinabsteigen in die Sinnenwelt, um aus ihr heraufzuholen die Kräfte für eine höhere. Würdest du dich von ihnen trennen, so missbrauchtest du die Kräfte, die du doch nur in Gemeinschaft mit ihnen hast entwickeln können. Wären sie nicht hinabgestiegen, so hättest es auch du nicht können; ohne sie fehlten dir die Kräfte zu deinem übersinnlichen Dasein. Du musst diese Kräfte, die du mit ihnen errungen hast, auch mit ihnen teilen. Ich wehre dir daher den Einlass in die höchsten Gebiete der übersinnlichen Welt, solange du nicht alle deine erworbenen Kräfte zur Erlösung deiner Mitwelt verwendet hast. Du magst mit dem schon Erlangten dich in den unteren Gebieten der übersinnlichen Welt aufhalten; vor der Pforte zu den höheren stehe ich aber ›als der Cherub mit dem feurigen Schwerte vor dem Paradiese‹ und wehre dir den Eintritt so lange, als du noch Kräfte hast, die unangewendet geblieben sind in der sinnlichen Welt. Und willst du die deinigen nicht anwenden, so werden andere kommen, die sie anwenden; dann wird eine hohe übersinnliche Welt alle Früchte der sinnlichen aufnehmen; dir aber wird der Boden entzogen sein, mit dem du verwachsen warst. Die geläuterte Welt wird sich über dich hinausentwickeln. Du wirst von ihr ausgeschlossen sein. So ist dein Pfad der schwarze, jene aber, von welchen du dich gesondert hast, gehen den weißen Pfad.‹

So kündigt sich der ›große Hüter‹ der Schwelle bald an, nachdem die Begegnung mit dem ersten Wächter erfolgt ist. Der Eingeweihte weiß aber ganz genau, was ihm bevorsteht, wenn er den Lockungen eines vorzeitigen Aufenthaltes in der übersinnlichen Welt folgt. Ein unbeschreiblicher Glanz geht von dem zweiten Hüter der Schwelle aus; die Vereinigung mit ihm steht als ein fernes Ziel vor der schauenden Seele. Doch ebenso steht da die Gewissheit, dass diese Vereinigung erst möglich wird, wenn der Eingeweihte alle Kräfte, die ihm aus dieser Welt zugeflossen sind, auch aufgewendet hat im Dienste der Befreiung und Erlösung dieser Welt. Entschließt er sich, den Forderungen der höheren Lichtgestalt zu folgen, dann wird er beitragen können zur Befreiung des Menschengeschlechts. Er bringt seine Gaben dar auf dem Opfer-Altar der Menschheit. Zieht er seine eigene vorzeitige Erhöhung in die übersinnliche Welt vor, dann schreitet die Menschheitsströmung über ihn hinweg. Für sich selbst kann er nach seiner Befreiung aus der Sinnenwelt keine neuen Kräfte mehr gewinnen. Stellt er ihr seine Arbeit doch zur Verfügung, so geschieht es mit dem Verzicht, aus der Stätte seines ferneren Wirkens selbst für sich noch etwas zu holen.

Man kann nun nicht sagen, es sei selbstverständlich, dass der Mensch den weißen Pfad wählen werde, wenn er so vor die Entscheidung gestellt wird. Das hängt nämlich ganz davon ab, ob er bei dieser Entscheidung schon so geläutert ist, dass keinerlei Selbstsucht ihm die Lockungen der Seligkeit begehrenswert erscheinen lässt. Denn diese Lockungen sind die denkbar größten. Und auf der anderen Seite sind eigentlich gar keine besonderen Lockungen vorhanden. Hier spricht gar nichts zum Egoismus. Was der Mensch in den höheren Regionen des Übersinnlichen erhalten wird, ist nichts, was zu ihm kommt, sondern lediglich etwas, das von ihm ausgeht: die Liebe zu seiner Mitwelt. Alles, was der Egoismus verlangt, wird nämlich durchaus nicht entbehrt auf dem schwarzen Pfade. Im Gegenteil: die Früchte dieses Pfades sind gerade die vollkommenste Befriedigung des Egoismus. Und will jemand nur für sich die Seligkeit, so wird er ganz gewiss diesen schwarzen Pfad wandeln, denn er ist der für ihn angemessene. –

Es darf daher niemand von den Okkultisten des weißen Pfades erwarten, dass sie ihm eine Anweisung zur Entwickelung des eigenen egoistischen Ich geben werden. Für die Seligkeit des einzelnen haben sie nicht das allergeringste Interesse. Die mag jeder für sich erreichen. Sie zu beschleunigen ist nicht die Aufgabe der weißen Okkultisten. Diesen liegt lediglich an der Entwickelung und Befreiung aller Wesen, die Menschen und Genossen des Menschen sind. Daher geben sie nur Anweisungen, wie man seine Kräfte zur Mitarbeit an diesem Werke ausbilden kann. Sie stellen daher die selbstlose Hingabe und Opferwilligkeit allen anderen Fähigkeiten voran. Sie weisen niemand geradezu ab, denn auch der Egoistischste kann sich läutern. Aber wer nur für sich etwas sucht, wird, solange er das tut, bei den Okkultisten nichts finden. Selbst wenn diese ihm nicht ihre Hilfe entziehen; er, der Suchende, entzieht sich den Früchten der Hilfeleistung. Wer daher wirklich den Anweisungen der guten Geheimlehrer folgt, wird nach dem Übertreten der Schwelle die Forderungen des großen Hüters verstehen; wer diesen Anweisungen aber nicht folgt, der darf auch gar nicht hoffen, dass er je zur Schwelle durch sie kommen werde. Ihre Anweisungen führen zum Guten oder aber zu gar nichts. Denn eine Führung zur egoistischen Seligkeit und zum bloßen Leben in der übersinnlichen Welt liegt außerhalb der Grenzen ihrer Aufgabe. Diese ist von vornherein so veranlagt, dass sie den Schüler so lange von der überirdischen Welt fernhält, bis dieser sie mit dem Willen zur hingebenden Mitarbeit betritt.« (Zitiert nach der ersten Ausgabe, S. 488-490)

Zander behauptet, Steiner habe ab 1906 »wichtige Weichen für die systematische Christologisierung seines Jesusbildes« gestellt. Jesus, bis dahin ein Buddha unter vielen, sei zu einer kosmischen Größe geworden.

Auf S. 792-793 schreibt Zander:

»1906 aber stellte Steiner wichtige Weichen für die systematische Christologisierung seines Jesusbildes. Jesus, bis dato ein ›großer Eingeweihter‹ und ein Buddha unter vielen, stieg nun zu einer einzigartigen Figur auf, die die Absolutheit des Christentums im Konzert der Religionen herstellte. Jesus wurde zu einer kosmischen Größe, die Steiner als entscheidenden Motor und finalen Punkt der Evolution definierte. Dieser Vorgang erfolgte schleichend ...«

Diese Aussagen sind in mehrfacher Hinsicht falsch.

Jesus war auch vor 1906 für Steiner nicht ein »großer Eingeweihter und Buddha unter vielen«. Der Hinweis auf »Das Christentum als mystische Tatsache« genügt, in dem Steiner bereits 1902 beschreibt, in welchem Sinn Jesus über Buddha – alle Buddhagestalten – hinausging.

»Buddha und Jesus sind im vornehmsten Sinne Eingeweihte für die, die ihre göttliche Natur erkannt haben ... Aber das Jesus-Leben enthält mehr als das Buddha-Leben. Buddha schließt mit der Verklärung. Das Bedeutungsvollste im Jesus-Leben beginnt erst mit dieser Verklärung. Man übersetze das in die Sprache der Eingeweihten: Buddha ist bis zu dem Punkte gelangt, wo in dem Menschen das göttliche Licht anfängt zu glänzen. Er steht vor dem Tode des Irdischen. Er wird das Weltlicht. Jesus geht weiter. Er stirbt nicht physisch in dem Augenblicke, in dem ihn das Weltlicht durchklärt. Er ist in diesem Augenblicke ein Buddha. Aber er betritt auch in diesem Augenblicke eine höhere Stufe der Initiation. Er leidet und stirbt. Das Irdische verschwindet. Aber das Geistige, das Weltlicht verschwindet nicht. Seine Auferstehung erfolgt. Er tritt als Christus vor seine Gemeinde. Buddha zerfließt im Augenblicke der Verklärung in das selige Leben des Allgeistes. Jesus erweckt diesen Allgeist noch einmal in menschlicher Gestalt in das gegenwärtige Dasein. Solches ward mit den Initiierten der höheren Weihen vollzogen. Die im Sinne des Osiris-Mythos Initiierten waren zu solcher Auferstehung gelangt. Diese ›große‹ Initiation wurde also im Jesus-Leben zu der Buddha-Initiation hinzugefügt. Buddha hat mit seinem Leben das erwiesen, dass der Mensch der Logos ist; und dass er in diesen Logos, in das Licht zurückkehrt, wenn sein Irdisches stirbt. Jesus ist Logos selbst, persönlich geworden. In ihm ist das Wort Fleisch geworden.«

Die zweite gravierend falsche Behauptung beruht auf der Verwechslung von Jesus und Christus durch Zander. Nicht Jesus war für Steiner eine »kosmische Größe«, der »finale Punkt der Evolution«, sondern »Christus«. Vom Unterschied zwischen Jesus und Christus ist auch in GA 94, in Vorträgen aus dem Jahr 1906 die Rede, die Zander zwar heranzieht, aber gewohnt tendenziös interpretiert.

So heißt es im Vortrag vom 13. Juni 1906:

»Aber Christus Jesus ist nicht bloß ein unbestimmtes Prinzip in der Welt. Er ist ein Wesen, das nur einmal, in einem geschichtlich bestimmten Moment erschienen ist. In menschlicher Gestalt hat er durch sein Wort und Leben einen Zustand der Vollendung enthüllt, den alle Menschen am Ende der Zeiten durch ihren eigenen freien Willen erreichen werden. Er ist erschienen auf dem Höhepunkt einer furchtbaren Krise, als die herabsteigende Entwickelungslinie der Menschheit im Begriffe war, ihren tiefsten Punkt in der Materialisierung zu erreichen.

Sollte das Christus-Prinzip in den Menschen zur Erweckung kommen, war es notwendig, dass es auf der Erde in einem Menschen zur Erscheinung kam und dass der Christus gelebt hat.

Das Karma und der Christus sind der Inbegriff der ganzen Evolution. Das Karma ist das Gesetz von Ursache und Wirkung in der geistigen Welt; es ist die Spirale der Entwickelung. Die Christus-Kraft schaltet sich in die Entwickelung dieser karmischen Linie als richtunggebende Achse ein. Diese Kraft findet sich seit der Ankunft des Christus auf der Erde im Grunde jeder menschlichen Seele.« (GA 94, S. 115-116)

»Das Karma und der Christus ergänzen sich wie das Mittel zur Erlösung und der Erlöser. Durch das Karma wird die Tat des Christus ein kosmisches Gesetz, und durch das Christus-Prinzip, den geoffenbarten Logos, erreicht das Karma sein Ziel, nämlich die Befreiung der Seelen zum Selbstbewusstsein und ihre Wesensgleichheit mit Gott. Das Schicksalsgesetz ist die stufenweise Erlösung, der Christus ist der Erlöser.« (Ebenda, S.117-118)

Und im Vortrag vom 6. November 1906:

»Das lebendige Bewusstsein der Akasha-Chronik der Erde ist Christus selbst, darum wird ihm vom Vater das Gericht übergeben, und er hat Macht, die Sünden zu vergeben und auf sich zu nehmen (Joh.-Ev. 5,21,22,23): ›Denn wie der Vater die Toten auferweckt und macht sie lebendig, also auch der Sohn macht lebendig, welche er will. Denn der Vater richtet niemand, alles Gericht hat er dem Sohn gegeben, auf dass sie alle den Sohn ehren, wie sie den Vater ehren. Wer den Sohn nicht ehrt, der ehrt den Vater nicht, der ihn gesandt hat.‹

In Christus lebt das ganze Erdenkarma der Menschen, er ist das lebendig verkörperte Erdenkarma. Darum die Lehre des Christentums von dem persönlichen lebendigen Verhältnis jedes einzelnen zu Christus, welches zugleich das Bewusstsein gibt, dass Christus die Sünden vergibt, dass irgendwo der Ausgleich im Christus Jesus zu suchen ist. Die Erlösung ist bei ihm zu suchen, die Erdengerechtigkeit stellt er dar.« (GA 94, S. 297-298)

»Christus stellt uns ein Wesen dar, wie es sonst keines auf der Erde gegeben hat. Am Ende der Erdentage ist das ›Wort‹ wieder der letzte Ausdruck für die geistige Wesenheit des Christus. Christus wird sich dann in allen Menschen verkörpern. Im Fleische konnte ihm dazu die Möglichkeit, sich zu verkörpern, nur ein höheres Wesen geben. Niemals könnten Sie die Sonne sehen, wenn Sie kein Auge hätten. Wer aber hat das Auge des Menschen gemacht? Die Sonne hat es gemacht. Christus ist die Sonne, welche die Menschenseele in sich aufnehmen soll mit Hilfe dessen, wodurch wir den Christus schauen.« (Ebenda, S. 300)

In einem weiteren Vortrag vom 2. Dezember 1906 heißt es:

»Jesus wurde Christus im dreißigsten Jahre seines Lebens. Bei dem gewöhnlichen Menschen sind nur geringe Teile vom Astralleib Ätherleib und physischen Leib umgewandelt in Manas, Buddhi und Atma oder Geistselbst, Lebensgeist und Geistesmensch. Jesus von Nazareth war ein Chela [Geistesschüler] im dritten Grade. Dadurch waren seine Leiber in einem Zustande hoher Läuterung. Es war eine Reinigung, Heiligung und Läuterung bei ihm vorhanden im Astralleib, Ätherleib und physischen Leib. Wenn ein Chela diese Läuterung seiner drei Leiber absolviert hat, dann wird er fähig, in einem gewissen Zeitpunkt seines Lebens sein Ich hinzuopfern. Im dreißigsten Jahre verließ das Ich des Jesus die drei Körper und ging in die astrale Welt über, so dass auf der Erde die geheiligten drei Leiber zurückblieben, gleichsam ausgehöhlt vom Ich, so dass Platz darin war für die höhere Individualität. Es hat also das Ich des Jesus von Nazareth im dreißigsten Jahre seines Lebens das große Opfer gebracht, seine gereinigten Leiber der Individualität des Christus zur Verfügung zu stellen. Christus füllte diese drei Leiber aus. Nach dieser Zeit sprechen wir von dem Christus Jesus, der drei Jahre auf der Erde umhergewandelt ist und die großen Taten in dem Leibe des Jesus vollbracht hat.« (GA 97, 2.12.1906, S. 64-65)

Was in den physischen Leib, Äther- und Astralleib des Jesus von Nazareth eingezogen ist, das ist dieser ganze Feuergeist, der gemeinsame Quell aller dieser Geistesfunken für die Menschen. Das ist der Christus, die einzige göttliche Wesenheit, die in der Weise in keiner ändern Form auf der Erde vorhanden ist. Sie zog ein in den Jesus von Nazareth, damit die, welche sich verbunden fühlten mit dem Christus Jesus, die Kraft erhielten, die Buddhi in sich aufzunehmen.

Es beginnt mit dem Erscheinen des Christus Jesus die Möglichkeit, die Buddhi zu empfangen. Das nannte Johannes das göttliche Schöpferwort. Das göttliche Schöpferwort ist dieser Feuergeist, der seine Funken in die Menschen ausgoss.« (Ebenda, S. 68)

»Der Christus ist der Erdengeist, und die Erde ist sein Leib. Alles, was auf der Erde lebt und sprießt und wächst, das ist der Christus.« (Ebenda, S. 69)

Am 10. Juli 1906 habe Steiner wohl erstmals »drei Einweihungsformen« dargestellt, so Zander. Die »orientalische« Schulung, mit der »wohl der buddhistische Weg« gemeint war, die »christliche« Einweihungsform, mit der wohl das »kirchliche Christentum« gemeint sei und die »rosenkreuzerische« Schulungsart.

Auf S. 793-794 schreibt Zander:

»Am 10. Juli 1906 stellte Steiner möglicherweise zum ersten Mal drei ›Einweihungsformen‹ vor (GA 94,176): ... Entscheidend war Steiners Hierarchisierung religiöser Traditionen. Der ›orientalische‹ (gemeint war wohl der buddhistische) Weg wurde als autoritär abgewertet, und der christliche Weg (gemeint war wohl das kirchliche Christentum) galt Steiner ... als verbraucht.«

Diese Sätze enthalten gleich drei Irrtümer oder falsche Behauptungen: weder »meinte« Steiner mit der orientalischen Schulung den Buddhismus, noch mit dem christlichen Weg das »kirchliche« Christentum, noch betrachtete er den christlichen Weg generell als »verbraucht«.

Steiners Darstellungen zu den drei Schulungswegen ab 1906 beziehen sich auf esoterische oder okkulte Schulungswege und zwar auf den gegenüber dem Buddhismus weitaus älteren hinduistischen Yogaweg, den christlich-gnostischen Schulungsweg, der an das Johannes-Evangelium anknüpfte, laut Steiner von Dionysios Areopagita gestiftet und von der Kirche verurteilt und verfolgt wurde und auf den durch Christian Rosenkreutz begründeten, rosenkreuzerisch-christlichen Schulungsweg – dessen Name bereits deutlich macht, dass Steiner den christlichen Weg keineswegs als »verbraucht« betrachtete.

Dies geht bereits aus dem Text hervor, den Zander selbst zitiert (GA 94, Vortrag vom 10. Juli 1906), der nur drei Seiten umfasst, also nicht mehr als Notizen, aber auch aus späteren, besser nachgeschriebenen Darstellungen, zum Beispiel aus GA 95, »Vor dem Tore der Theosophie« und GA 99, der »Theosophie des Rosenkreuzers«.

In GA 94 ist ausdrücklich vom »Yogaweg« die Rede:

»Sie erinnern sich, dass ich ihnen darlegte, wieviel bei der Entwicklung des Menschen davon abhing, dass der Mensch begann, durch die Lungen zu atmen. Seine höhere Schulung hängt nun auch mit einem Atmungsprozess zusammen. In der Yoga-Schulung bringt der Schüler einen gewissen Rhythmus in seine Atmung, indem er Einziehen, Anhalten des Atems und Ausatmen in eine gewisse Anzahl von Sekunden bringt ... Der indische Yogi atmete ...

Die zweite Stufe der orientalischen Schulung besteht darin, eine Zeitlang die äußeren Eindrücke auszuschalten, sich zu konzentrieren und seine Seele vom Ewigen erfüllt sein zu lassen.« (GA 94, 10. Juli 1906, S. 174-175)

Vom »Yogaweg« ist auch an anderen Stellen in GA 94 die Rede, zum Beispiel im Vortrag vom 4. November 1906:

»Es gibt drei verschiedene Wege zur Einweihung, entsprechend den Unterrassen unserer Hauptrasse [den Kulturen der nachatlantischen Zeit]. Die Unterrassen [Kulturen] lösen einander keineswegs einfach zeitlich ab, sondern leben lange Zeit noch nebeneinander. Der Unterschied ist innerlich viel stärker als äußerlich. Zum Beispiel: ein Inder kann sich heute noch ungleich leichter als der Europäer hineinversenken mit Abspaltung seines Denkens in sein sympathisches Nervensystem. Wollte ein Europäer, namentlich ein Mann, den orientalischen Pfad gehen, so benötigte er dazu, schon um das bloß Physische zu ermöglichen, starker Mittel, die seinen ganzen Knochenstatus und seine Körperkonstitution auflockern müssten, was nicht ohne dauernden Schaden abgehen würde. Somit ist ein solcher Versuch dem Europäer gar nicht zu raten, und ein gutes Resultat damit zu erreichen fast unmöglich. Die Einweihung selbst ist nichts anderes als eine vollständige Umänderung der inneren Natur. Für den heutigen Europäer ist der rosenkreuzerische Pfad, der seit dem 14. bis 15. Jahrhundert gepflegt wird, der beste.

Die drei Wege der Einweihung sind die folgenden: der indisch-orientalische Jogaweg, der christlich-gnostische Weg bis zum 15. Jahrhundert, der christlich-rosenkreuzerische Weg seit dem 15. Jahrhundert. Der erste ist nicht für Europäer. Der zweite ist für den Menschen der mittleren Zone geeignet, er ist für uns gehbar, aber der rosenkreuzerische Weg, der vom 14. Jahrhundert ab eingeschlagen wurde, ist zweckmäßiger. Der christlich-gnostische Weg bringt zwar für den einzelnen die Wahrheit, aber der Schüler wird nicht imstande sein, ihn innerhalb des modernen Lebens konsequent durchzuführen und Antworten zu geben auf die mannigfachen Einwände der heutigen Wissenschaft und Kultur, so wie er es mit Hilfe des rosenkreuzerischen Weges zu tun vermag.

Der orientalische Jogaweg kennt eine Reihe von Stufen, auf denen man sich zunächst vorbereiten muss. Die sieben Stufen können nebeneinander geübt werden, aber der Mensch muss sich streng unter einen sogenannten Guru stellen. Dieser weiß Bescheid über den Zustand seiner inneren Entwickelung. Der Weg des Inders geht gleich hinauf in die Astralwelt. Im Anfange ist da der Schüler sehr hilflos, daher die strenge Unterwerfung unter den Guru, weil ihm die eigene Korrekturmöglichkeit seiner Irrtümer mangelt bei der Wahrnehmung einander hart widersprechender Tatsachen.« (S. 276-277)

In GA 95 heißt es über die drei Schulungswege:

»Die orientalische, die man auch die Yoga-Entwickelung nennt, ist eine solche, in der ein einzelner, auf dem physischen Plan lebender eingeweihter Mensch der Führer, der Guru eines andern ist und dieser sich vollständig und auch in allen Einzelheiten auf den Guru verlässt. Das erreicht man am besten, wenn man für die Zeit der Entwickelung sein eigenes Selbst ganz ausschaltet und es dem Guru hingibt. Der Guru muss sogar Rat erteilen bei der Initiative des Handelns. Für ein solches restloses Aufgehen des eigenen Selbstes ist die indische Natur geeignet; die europäische Kultur lässt eine derartige Hingabe gar nicht zu.

Die christliche Entwickelung setzt an Stelle des einzelnen Guru den einen großen Führer der Menschheit, den Christus Jesus selbst. Das Gefühl der Zusammengehörigkeit zu diesem Christus Jesus, das Einssein mit ihm, kann die Hingabe an einen einzelnen Guru ersetzen. Aber man muss durch einen irdischen Lehrer erst zu ihm hingeführt werden. Auch da ist man in gewisser Weise abhängig von dem Lehrer, dem Guru auf dem physischen Plane.

Am unabhängigsten ist man bei der rosenkreuzerischen Schulung. Der Guru ist da nicht mehr der Führer, er ist der Ratgeber. Er ist derjenige, der einem Anweisungen gibt, was man innerlich tun soll. Zugleich sorgt er auch dafür, dass parallel mit der okkulten Schulung eine entschiedene Schulung des Denkens geht, ohne die man eine solche okkulte Schulung nicht durchmachen kann. Das kommt daher, dass das Denken eine Eigenschaft hat, die die anderen Dinge nicht haben. Sind wir zum Beispiel auf dem physischen Plane, dann nehmen wir mit den physischen Sinnen wahr, was sich auf dem physischen Plane befindet, nichts anderes. Auf dem Astralplan gelten die astralen Wahrnehmungen, und das devachanische Hören gilt nur im Devachan; kurz, jeder Plan hat seine eigenen Wahrnehmungen. Eines aber zieht sich durch alle Welten hindurch, und das ist das logische Denken. Die Logik ist dieselbe auf allen drei Planen. So kann man auf dem physischen Plane etwas lernen, was auch für die höheren Plane Gültigkeit hat, und diese Methode beobachtet die rosenkreuzerische Entwickelung, indem sie auf dem physischen Plan das Denken vorzugsweise schult mit den Mitteln des physischen Planes. Ein eindringliches Denken wird schon ausgebildet durch das Lernen theosophischer Wahrheiten oder auch durch direkte Denkübungen. Will man den Intellekt noch mehr schulen, dann kann man Bücher studieren, wie ›Die Philosophie der Freiheit‹, ›Wahrheit und Wissenschaft‹, die mit Absicht so geschrieben sind, dass ein durch sie geschultes Denken sich absolut sicher auf den höchsten Planen bewegen kann. Es könnte sogar jemand, der diese Schriften studiert und gar nichts von Theosophie wüsste, sich dadurch in den höheren Welten orientieren. Aber wie gesagt, auch die theosophischen Lehren wirken in derselben Weise. Das ist das System der Rosenkreuzerschulung. Im eigenen scharfen Denken hat man den wahrsten inneren Führer. Da ist dann der Guru nur noch der Freund des Schülers, der Ratschläge gibt, denn den besten Guru erzieht man in sich selbst in der eigenen Vernunft. Man braucht natürlich den Guru auch hier, weil er die Ratschläge geben muss, wie man selbst zur freien Entwicklung kommt.

In der europäischen Bevölkerung ist der christliche Weg der geeignete für diejenigen, die mehr das Gefühl ausgebildet haben. Diejenigen, die sich von der Kirche mehr oder weniger losgesagt haben, die mehr auf dem Boden der Wissenschaft stehen und wegen der Wissenschaft in Zweifel gekommen sind, gehen am besten den rosenkreuzerischen Weg.« (GA 95, 2.9.1906, S. 116-117)

In GA 99 heißt es:

»Heute wollen wir noch von dem Prinzip der Einweihung oder der esoterischen Schulung sprechen. Und zwar wollen wir von den beiden Methoden der Schulung sprechen, welche vor allen Dingen dasjenige in Betracht ziehen, was hier über die Entwickelung der Menschheit auseinandergesetzt worden ist; denn man muss sich klarmachen, dass man in einer gewissen Weise die Wahrheit findet in einem Sich-zurück-Versetzen in frühere Menschheitszustände.

Es ist gesagt worden, dass die Menschen der alten Atlantis aus allem, was sie umgab, Weisheit wahrnehmen konnten. Je weiter wir zurückgehen in urferne Vergangenheiten, desto mehr finden wir Bewusstseinszustände, durch welche die Menschen imstande waren, die schaffenden Kräfte, welche die Welt durchziehen, die geistigen Wesenheiten, die uns umgeben, wahrzunehmen. Alles, was uns umgibt, ist entstanden durch diese schaffenden Wesenheiten, und sie sehen heißt eben erkennen.

Als die Menschheit sich herausentwickelt hatte zu unserem gegenwärtigen Bewusstseinszustande, eigentlich erst während unseres fünften nachatlantischen Zeitalters [ab dem 15. Jahrhundert], da fühlte sie in der Seele die Sehnsucht, wiederum einzudringen in die geistigen Reiche. Und ich habe Ihnen gesagt, wie in dem alten indischen Volke jene tiefe Sehnsucht ursprünglich lebte, hinter allem, was uns in der Welt umgibt, das eigentlich Geistige zu erkennen, wie bei ihm die Anschauung entstand: Alles, was uns umgibt, ist ein Traum, eine Illusion; unsere einzige Aufgabe ist, uns hinaufzuentwickeln zu der alten Weisheit, die geschaffen und gewirkt hat in alten Zeiten. – Die Schüler der alten Rischis haben getrachtet, den Weg anzutreten, der sie durch Yoga dahin brachte, hinaufzuschauen in die Reiche, aus denen sie selbst heruntergestiegen waren. Von Maja fort strebten sie hinauf in diese geistigen Reiche.

Das ist der eine Weg, den der Mensch machen kann. Der neueste Weg, den es gibt, um zu der Weisheit emporzusteigen, ist der Rosenkreuzer-Weg. Dieser Weg weist den Menschen nicht in die Vergangenheit, sondern in die Zukunft, in diejenigen Zustände, die der Mensch wiederum durchleben wird. Es wird gelehrt, durch bestimmte Methoden die Weisheit, die im Menschen veranlagt ist, aus sich selbst zu entwickeln. Das ist der Weg, der gegeben wurde durch den Begründer der rosenkreuzerischen esoterischen Bewegung, äußerlich Christian Rosenkreutz genannt. Nicht ein unchristlicher Weg ist das; er ist nur ein für die modernen Verhältnisse eingerichteter christlicher Weg, der zwischen dem eigentlichen christlichen und dem Yogaweg liegt.

Dieser Weg hat sich zum Teil schon lange vor dem Christentum vorbereitet. Er nahm eine besondere Gestalt an durch jenen großen Eingeweihten, der in der esoterischen Schule des Paulus zu Athen als Dionysius der Areopagite jene Schulung begründete, aus der alle spätere esoterische Weisheit und Schulung hervorgegangen ist.

Das sind die beiden vorzugsweise für das Abendland gangbaren Wege der esoterischen Schulung. Alles, was mit unserer Kultur und dem Leben, das wir führen und das wir führen müssen, zusammenhängt, alles das wird erhöht und bis zu dem Prinzip der Einweihung erhoben durch die christliche und durch die rosenkreuzerische Schulung. Der rein christliche Weg ist für den heutigen Menschen etwas schwer; daher ist der rosenkreuzerische Weg eingeführt worden für den Menschen, der in der Gegenwart leben muss. Wer den alten, rein christlichen Weg inmitten des modernen Lebens gehen will, der muss die Möglichkeit haben, sich für eine Zeitlang loslösen zu können von dem äußeren Leben, um nachher wieder um so intensiver hineinzutreten in dieses Leben.

Den rosenkreuzerischen Weg aber kann ein jeder gehen, in welchem Berufe und in welcher Lebenssphäre er auch stehen mag.

Wir wollen den rein christlichen Weg charakterisieren. Er ist der Methode nach in dem tiefsten christlichen Buche, das von den Vertretern der christlichen Theologie am wenigsten verstanden wird, im Johannes-Evangelium, vorgeschrieben, und dem Inhalte nach in der Apokalypse oder geheimen Offenbarung.« (GA 99, 6.6.1907, S. 152-153)