Eine Reihe beiläufiger Fälschungen bietet der erste Absatz in Zanders Kapitel über »Haeckel und Steiner«.

Zander schreibt auf S. 881:

»1882 lobte er [Steiner] ihn als Naturwissenschaftler, der auch Goethe lese (GA 38,56),

im folgenden Jahr als konsequenten Darwinisten (ebd., 73) ...

Derartige Äußerungen belegen, dass Steiner Haeckel kannte und den Organiker in Goetheschem Geist schätzte.«

1. Die Behauptung, Steiner habe Haeckel als einen Naturwissenschaftler gelobt, der auch Goethe lese, ist falsch. Steiner lobte Haeckel nicht für seine Goethelektüre, sondern bemängelte an ihm, dass seine Auffassungen nicht von Einseitigkeiten frei seien.

Zander bezieht sich auf einen Brief Steiners an Joseph Kürschner, in dem Steiner am 19. November 1882 schrieb:

»Eine weitere Bitte wäre die, Euer Hochwohlgeboren möchten mich gütigst wissen lassen, ob Sie nicht geneigt wären, einen kleinen Aufsatz [von mir zu veröffentlichen]: ›Goethes wissenschaftliche Anschauungen im allgemeinen‹ mit Beziehung auf Haeckels letzten Vortrag über ›Lamarck, Darwin und Goethe‹ und auf Du Bois-Reymonds Rede vom 15. Oktober d. J. ›Goethe und kein Ende‹, welch letzterer Vortrag ja – sogar schon bis in die Tagesjournale herab – viel Staub aufwirbelt. Es erscheint fast unbedingt nötig, gegenüber den hier gebrachten falschen Auffassungen eines im Empirischen hochverdienten Forschers, den wahren Standpunkt geltend zu machen. Sätze wie dieser: Goethes wissenschaftliche Besprechungen seien ›die totgeborene Spielerei eines autodidaktischen Dilettanten‹, sind die traurige Folge des Umstandes, dass selbst unsere großen Naturforscher der Gegenwart es verabscheuen, sich an große Prinzipien zu halten, überhaupt einer tieferen wissenschaftlichen Basis entbehren. Darinnen ist der Grund für die Verkennung Goethes als Gelehrten zu suchen. Der beste Beweis dafür ist, dass höheren Maximen zustrebende Geister – wie Haeckel – auch eine vorurteilsfreiere Auffassung Goethes von dieser Seite bereits angebahnt haben, wenngleich auch deren Auffassung von Einseitigkeiten nicht ganz freizusprechen ist. Die Behandlung meines Themas würde eine ganz populäre sein.« (GA 38, S. 56)

2. Ebenso falsch ist die Behauptung, Steiner habe Haeckel als konsequenten Darwinisten gelobt.

Zander bezieht sich auf einen Brief an Joseph Kürschner vom 20. Dezember 1883, in dem Steiner schrieb:

»Haeckel hat eben vor vielen zeitgenössischen Naturphilosophen einen großen Vorzug. Er hat die allerersten Prinzipien seiner Naturanschauung rückhaltlos vor aller Welt dargelegt. Seine Überzeugung wird aus seinen Schriften vollkommen durchsichtig. Viele andere dagegen lassen die Frage über die ersten Prinzipien offen. Letztere bekennen sich ebenfalls als Anhänger Darwins, ziehen aber durchaus nicht die letzten Konsequenzen seiner Lehre. Haeckel tut dies. Wenn es sich nun darum handelt, über einen bestimmten Punkt der modernen Organismenlehre - im zustimmenden oder ablehnenden Sinn - zu sprechen, so hat man an Haeckel immer denjenigen, bei dem man denselben am konsequentesten und – bis ins Kleinste gehend – genau im Darwinschen Sinne dargestellt findet.«

3. Was es mit Steiners »Lob« auf Haeckel Anfang der 1880er Jahre und seiner »Schätzung des Organikers im Goetheschen Geiste« auf sich hat, kann man aus dem Ersten Band seiner »Einleitungen zu Goethes Naturwissenschaftlichen Schriften« entnehmen (GA 1, Dornach 1987), der 1883 erschienen ist. Hier schreibt Steiner auf S. 33-34:

»Es tritt nun hier noch eine weitere Verschiedenheit der Goetheschen Auffassung von der Darwins hervor, namentlich, wenn man berücksichtigt, wie letztere gewöhnlich vertreten wird. 18

[Anmerkung 18:] Wir haben hier weniger die Entwicklungslehre derjenigen Naturforscher, die auf dem Boden der sinnenfälligen Empirie stehen, vor Augen, als vielmehr die theoretischen Grundlagen, die Prinzipien, die dem Darwinismus zugrunde gelegt werden. Vor allem natürlich die Jenaische Schule mit Haeckel an der Spitze; in diesem Geiste ersten Ranges hat wohl die Darwinsche Lehre mit aller ihrer Einseitigkeit ihre konsequente Ausgestaltung gefunden.«

Und auf S. 104:

»In Goethes Begriffen erhalten wir auch eine ideelle Erklärung für die durch Darwin und Haeckel gefundene Tatsache, daß die Entwicklungsgeschichte des Individuums eine Repetition der Stammesgeschichte repräsentiert. Denn für mehr als eine unerklärte Tatsache kann das, was Haeckel hier bietet, doch nicht genommen werden. Es ist die Tatsache, daß jedes Individuum alle jene Entwicklungsstadien in abgekürzter Form durchmacht, welche uns zugleich die Paläontologie als gesonderte organische Formen aufweist. Haeckel und seine Anhänger erklären dieses aus dem Gesetze der Vererbung. Aber letzteres ist selbst nichts anderes als ein abgekürzter Ausdruck für die angeführte Tatsache.«

Und auf S. 116-118:

»In zwei Heerlager geteilt stehen sich die Ansichten über Goethes Bestrebungen auf naturwissenschaftlichem Gebiete gegenüber.

Die Vertreter des modernen Monismus mit dem Professor Haeckel an der Spitze erkennen in Goethe den Propheten des Darwinismus, der sich das Organische ganz in ihrem Sinne von den Gesetzen beherrscht denkt, die auch in der unorganischen Natur wirksam sind. Was Goethe fehlte, sei nur die Selektionstheorie gewesen, durch welche erst Darwin die monistische Weltanschauung begründet und die Entwicklungstheorie zur wissenschaftlichen Überzeugung erhoben habe.

Diesem Standpunkte steht ein anderer gegenüber, welcher annimmt, die Typusidee bei Goethe sei weiter nichts als ein allgemeiner Begriff, eine Idee im Sinne der platonischen Philosophie. Goethe hätte zwar einzelne Behauptungen getan, die an die Entwicklungstheorie erinnern, wozu er durch den in seiner Natur gelegenen Pantheismus gekommen sei; bis zum letzten mechanischen Grunde fortzuschreiten hätte er aber kein Bedürfnis gefühlt. Von Entwicklungstheorie im modernen Sinne des Wortes könne daher bei ihm nicht die Rede sein.

Indem ich versuchte, Goethes Anschauungen ohne Voraussetzung irgendeines positiven Standpunktes, rein aus Goethes Wesen, aus dem Ganzen seines Geistes zu erklären, wurde klar, dass weder die eine noch die andere der erwähnten Richtungen – so außerordentlich bedeutend auch dasjenige ist, was sie beide zu einer Beurteilung Goethes geliefert haben – seine Naturanschauung vollkommen richtig interpretiert hat.

Die erste der charakterisierten Ansichten hat ganz recht, wenn sie behauptet, Goethe habe dadurch, dass er die Erklärung der organischen Natur anstrebte, den Dualismus bekämpft, der zwischen dieser und der unorganischen Welt unübersteigliche Schranken annimmt. Aber Goethe behauptete die Möglichkeit dieser Erklärung nicht deshalb, weil er sich die Formen und Erscheinungen der organischen Natur in einem mechanischen Zusammenhange dachte, sondern weil er einsah, dass der höhere Zusammenhang, in dem dieselben stehen, unserer Erkenntnis keineswegs verschlossen ist. Er dachte sich das Universum zwar in monistischer Weise als unentzweite Einheit - von der er den Menschen durchaus nicht ausschloss [siehe den Brief Goethes an F. H. Jacobi vom 23. Nov. 1801; WA 15, 280f.] –, aber deshalb erkannte er doch an, dass innerhalb dieser Einheit Stufen zu unterscheiden sind, die ihre eigenen Gesetze haben. Er verhielt sich schon seit seiner Jugend ablehnend gegenüber Bestrebungen, welche sich die Einheit als Einförmigkeit vorstellen und die organische Welt, wie überhaupt das, was innerhalb der Natur als höhere Natur erscheint, von den in der unorganischen Welt wirksamen Gesetzen beherrscht denken (siehe ›Geschichte meines botanischen Studiums‹ in Natw. Schr., 1. Bd., S. 61ff.).«

Ein »Stakkato« von Bekenntnissen zu Haeckel findet Zander in einem Brief, den Steiner am 4. Dezember 1892 an Haeckel schrieb.

Auf S. 881 schreibt Zander:

»›Ich kämpfe, seitdem ich schriftstellerisch tätig bin, gegen allen Dualismus und sehe es als die Aufgabe der Philosophie an, durch eine streng positivistische Analyse unseres Erkenntnisvermögens den Monismus wissenschaftlich zu rechtfertigen, also den Nachweis zu führen, dass die in der Naturwissenschaft gewonnenen Ergebnisse wirkliche Wahrheiten sind. Deshalb musste ich mich ebenso gegen den Kantianismus mit seinen zweierlei Wahrheiten wie gegen das moderne ‹Ignorabimus› wenden. Mir gelten die Resultate der Wissenschaft als die einzig berechtigten Bestandteile einer Weltanschauung. Neben ihnen kann ich keine andere Religion anerkennen. Ich bin deshalb auch ein entschiedener Anhänger der Behauptung: ‹dass … eine vernünftige Weltanschauung bereits sicher gewonnen ist› und bin auch überzeugt, dass es keine prinzipiell unlösbaren ‹Welträtsel› gibt, sondern dass der Kulturprozess, insofern er ein wissenschaftlicher ist, darinnen besteht: den Zustand des Nichtwissens immer mehr und mehr in den des Wissens zu verwandeln ...‹ (GA 39,166)

In einem bekenntnishaften Stakkato signalisierte Steiner seine Übereinstimmung mit Haeckelschen (oder Haeckel unterstellten) Positionen, wobei angesichts einiger zugespitzter Formulierungen, etwa des Lobs auf die ›streng positivistische Analyse‹, zumindest fragwürdig ist, ob dies wirklich Steiners eigene Meinung war oder ob er sich einer bei Haeckel vermuteten Position andiente.«83

[Anmerkung 83]: Die Unsicherheit hängt mit der Bestimmung seiner weltanschaulichen Position im Jahr 1892 zusammen. Er stand, vor der Veröffentlichung seiner ›Philosophie der Freiheit‹ im Jahr 1893, noch auf einer idealistischen Position und war bei seinem Nietzscheanismus, zu dem ein Positivismus eher passen würde, noch nicht angekommen.«

Bekennt sich Steiner in seinem Brief stakkatohaft zu Haeckels Ansichten?

Steiner trifft in seinem Brief folgende Aussagen:

1. Dass er, seitdem er schriftstellerisch tätig sei, gegen allen Dualismus kämpfe.

2. Dass er es als die Aufgabe der Philosophie ansehe, durch eine streng positivistische Analyse des Erkenntnisvermögens den Monismus wissenschaftlich zu rechtfertigen.

3. Dass er den Nachweis führen wolle, die in der Naturwissenschaft gewonnenen Ergebnisse seien wirkliche Wahrheiten.

4. Dass er sich gegen den Kantianismus mit seinen zweierlei Wahrheiten und das moderne »Ignorabimus« wenden musste.

5. Dass ihm die Resultate der Wissenschaft als die einzig berechtigten Bestandteile einer Weltanschauung gälten.

6. Dass er neben diesen keine andere Religion anerkennen könne.

7 Dass er ein entschiedener Anhänger der Behauptung sei,  … eine vernünftige Weltanschauung sei bereits sicher gewonnen.

8. Dass er überzeugt sei, es gebe keine prinzipiell unlösbaren »Welträtsel«.

9. Dass der Kulturprozess, insofern er ein wissenschaftlicher sei, darin bestehe, den Zustand des Nichtwissens immer mehr in den des Wissens zu verwandeln.

Welches dieser neun Bekenntnisse ist ein Bekenntnis zu einer Haeckelschen Position? Keines. Man findet diese Auffassungen bereits alle in Steiners Schriften vor dem Brief an Haeckel vom 4. Dezember 1892.

1. Kampf gegen den Dualismus.

In Ersten Band der »Einleitungen zu Goethes Naturwissenschaftlichen Schriften« schreibt Steiner 1883 über Goethes Streben nach einer einheitlichen Naturauffassung (S. 74-76):

»Weil das Objekt [der lebendige Organismus] nicht von Gesetzen der Sinnenwelt beherrscht erscheint, doch aber für die Sinne da ist, ihnen erscheint, so ist es, als wenn man hier vor einem unlösbaren Widerspruche in der Natur stünde, als wenn eine Kluft bestünde zwischen anorganischen Erscheinungen, welche aus sich selbst zu begreifen sind, und organischen Wesen, bei denen ein Eingriff in die Gesetze der Natur geschieht, bei denen allgemeingültige Gesetze auf einmal durchbrochen würden.

Diese Kluft nahm man in der Tat bis auf Goethe allgemein in der Wissenschaft an; erst ihm gelang es, das lösende Wort des Rätsels zu sprechen. Erklärbar aus sich selbst sollte, so dachte man vor ihm, nur die unorganische Natur sein; bei der organischen höre das menschliche Erkenntnisvermögen auf.

Man wird die Größe der Tat, welche Goethe vollbracht hat, am besten ermessen, wenn man bedenkt, dass der große Reformator der neueren Philosophie Kant jenen alten Irrtum nicht nur vollkommen teilte, sondern sogar eine wissenschaftliche Begründung dafür zu finden suchte, dass es dem menschlichen Geiste nie gelingen werde, die organischen Bildungen zu erklären. Wohl sah er die Möglichkeit eines Verstandes ein – eines intellectus archetypus, eines intuitiven Verstandes –, dem es gegeben wäre, den Zusammenhang von Begriff und Wirklichkeit bei den organischen Wesen geradeso wie bei den Anorganismen zu durchschauen; allein dem Menschen selbst sprach er die Möglichkeit eines solchen Verstandes ab.

Der menschliche Verstand soll nämlich nach Kant die Eigenschaft haben, dass er sich die Einheit, den Begriff einer Sache nur als hervorgehend aus der Zusammenwirken der Teile – als durch Abstraktion gewonnenes analytisches Allgemeine – denken kann, nicht aber so, dass jeder einzelne Teil als der Ausfluss einer bestimmten konkreten (synthetischen) Einheit, eines Begriffes in intuitiver Form erschiene. Daher sei es diesem Verstande auch unmöglich, die organische Natur zu erklären, denn diese müsste ja aus dem Ganzen in die Teile wirkend gedacht werden.

Kant sagt darüber: ›Unser Verstand hat also das Eigene für die Urteilskraft, dass ihm Erkenntnis durch denselben, durch das Allgemeine, das Besondere nicht bestimmt wird, und dieses also von jenem nicht abgeleitet werden kann‹.

Wir müssten danach also bei den organischen Bildungen darauf verzichten, den notwendigen Zusammenhang der Idee des Ganzen, welche nur gedacht werden kann mit dem, was unseren Sinnen im Raume und in Zeit erscheint, zu erkennen.

Wir müssten uns nach Kant darauf beschränken, einzusehen, dass ein solcher Zusammenhang existiert; die logische Forderung aber zu erkennen, wie der allgemeine Gedanke, die Idee aus sich heraustritt und als sinnenfällige Wirklichkeit sich offenbart, diese könne bei den Organismen nicht erfüllt werden.

Wir müssten vielmehr annehmen, dass sich Begriff und Wirklichkeit hier unvermittelt gegenüberstünden und durch einen außerhalb der beiden liegenden Einfluss etwa auf dieselbe Weise zustande gebracht worden seien, wie der Mensch nach einer von ihm aufgeworfenen Idee irgendein zusammengesetztes Ding, z. B. eine Maschine aufbaut. Damit war die Möglichkeit einer Erklärung der Organismenwelt geleugnet, ihre Unmöglichkeit sogar scheinbar bewiesen.«

Goethe habe, so Steiner, durch seine wissenschaftlichen Arbeiten zur Erkenntnis des Organischen mit diesem Irrtum und dem damit verbundenen Dualismus aufgeräumt.

2. Positivistische Analyse des Erkenntnisvermögens.

Zander wundert sich, wie Steiner dem Positivismus zustimmen könne, wo er doch erst in der Zeit seiner Nietzschebewunderung bei diesem angelangt sei. Steiner versteht unter »Positivismus« die konsequente Anwendung des Erfahrungsprinzips. 1886 schreibt er in den »Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung« (S. 43-45):

»Bei der Erfahrung stehen zu bleiben, ist eine berechtigte wissenschaftliche Forderung. Nicht weniger aber ist eine solche die Aufsuchung der inneren Gesetzmäßigkeit der Erfahrung. Es muss also dieses Innere selbst an einer Stelle der Erfahrung als solche auftreten. Die Erfahrung wird so mit Hilfe ihrer selbst vertieft.

Unsere Erkenntnistheorie erhebt die Forderung der Erfahrung in der höchsten Form, sie weist jeden Versuch zurück, etwas von außen in die Erfahrung hineinzutragen. Die Bestimmungen des Denkens findet sie selbst innerhalb der Erfahrung. Die Art, wie das Denken in die Erscheinung eintritt, ist dieselbe wie bei der übrigen Erfahrungswelt.

Das Prinzip der Erfahrung wird zumeist in seiner Tragweite und eigentlichen Bedeutung verkannt. In seiner schroffsten Form ist es die Forderung, die Gegenstände der Wirklichkeit in der ersten Form ihres Auftretens zu belassen und sie nur so zu Objekten der Wissenschaft zu machen. Das ist ein rein methodisches Prinzip. Es sagt über den Inhalt dessen, was erfahren wird, gar nichts aus. Wollte man behaupten, dass nur die Wahrnehmungen der Sinne Gegenstand der Wissenschaft sein können, wie das der Materialismus tut, so dürfte man sich auf dieses Prinzip nicht stützen. Ob der Inhalt sinnlich oder ideell ist, darüber fällt dieses Prinzip kein Urteil. Soll es aber in einem bestimmten Falle in der erwähnten schroffsten Form anwendbar sein, dann macht es allerdings eine Voraussetzung. Es fordert nämlich, dass die Gegenstände, wie sie erfahren werden, schon eine Form haben, die dem wissenschaftlichen Streben genügt. Bei der Erfahrung der äußeren Sinne ist das, wie wir gesehen haben, nicht der Fall. Es findet nur beim Denken statt.

Nur beim Denken kann das Prinzip der Erfahrung in seiner extremsten Bedeutung angewendet werden.

Das schließt nicht aus, dass das Prinzip auch auf die übrige Welt ausgedehnt wird. Es hat ja noch andere Formen als seine extremste. Wenn wir einen Gegenstand behufs wissenschaftlicher Erklärung nicht so belassen können, wie er unmittelbar wahrgenommen wird, so kann diese Erklärung ja immerhin so geschehen, daß die Mittel, die sie beansprucht, aus anderen Gebieten der Erfahrungswelt herbeigezogen werden. Da haben wir das Gebiet der ›Erfahrung überhaupt‹ ja doch nicht überschritten.

Eine im Sinne der Goetheschen Weltanschauung begründete Erkenntniswissenschaft legt das Hauptgewicht darauf, dass sie dem Prinzipe der Erfahrung durchaus treu bleibt. Niemand hat so wie Goethe die ausschließliche Geltung dieses Prinzipes erkannt. Er vertrat das Prinzip ganz so strenge, wie wir es oben gefordert haben. Alle höheren Ansichten über die Natur durften ihm als nichts denn als Erfahrung erscheinen. Sie sollten ›höhere Natur innerhalb der Natur‹ sein. In dem Aufsatze: ›Die Natur‹ sagt er, wir seien unvermögend aus der Natur herauszukommen. Wollen wir uns also in diesem seinem Sinne über dieselbe aufklären, so müssen wir dazu innerhalb derselben die Mittel finden.«

3. Die in der Naturwissenschaft gewonnenen Ergebnisse sind wirkliche Wahrheiten.

In den »Grundlinien einer Erkenntnistheorie ...« schreibt Steiner 1886 (S. 85):

»Die Gestalt von der Wirklichkeit, welche der Mensch in der Wissenschaft entwirft, ist die letzte wahre Gestalt derselben.«

4. Gegen den Kantianismus mit seinen zweierlei Wahrheiten und gegen das moderne »Ignorabimus«.

Zum Kantianismus siehe Punkt 1.

Zum »Ignorabimus«:

In den »Grundlinien einer Erkenntnistheorie ...« schreibt Steiner 1886 (S. 80):

»Auf keinem anderen als auf dem Wege der Erkenntnistheorie kommt man zu der Ansicht, dass das Denken der Kern der Welt ist.

Denn sie zeigt uns den Zusammenhang des Denkens mit der übrigen Wirklichkeit. Woraus sollten wir aber vom Denken gewahr werden, in welcher Beziehung es zur Erfahrung steht, als aus der Wissenschaft, die sich diese Beziehung zu untersuchen direkt zum Ziele setzt? Und weiter, woher sollten wir von einem geistigen oder sinnlichen Wesen wissen, daß es die Urkraft der Welt ist, wenn wir seine Beziehung zur Wirklichkeit nicht untersuchten?

Handelt es sich also irgendwo darum, das Wesen einer Sache zu finden, so besteht dieses Auffinden immer in dem Zurückgehen auf den Ideengehalt der Welt. Das Gebiet dieses Gehaltes darf nicht überschritten werden, wenn man innerhalb der klaren Bestimmungen bleiben will, wenn man nicht im Unbestimmten herumtappen will. Das Denken ist eine Totalität in sich, das sich selbst genug ist, das sich nicht überschreiten darf, ohne ins Leere zu kommen. Mit anderen Worten: es darf nicht, um irgend etwas zu erklären, zu Dingen seine Zuflucht nehmen, die es nicht in sich selbst findet. Ein Ding, das nicht mit dem Denken zu umspannen wäre, wäre ein Unding. Alles geht zuletzt im Denken auf, alles findet innerhalb desselben seine Stelle.«

5. Die Resultate der Wissenschaft sind die einzig berechtigten Bestandteile einer Weltanschauung.

In den »Grundlinien einer Erkenntnistheorie ...« heißt es 1886 (S. 17):

»Was für so viele lange Zeit ein voller Ersatz war: die religiösen Dogmen verlieren immer mehr an überzeugender Kraft. Der Drang nimmt immer zu, das durch die Arbeit des Denkens zu erringen, was man einst dem Offenbarungsglauben verdankte: Befriedigung des Geistes. An Teilnahme der Gebildeten könnte es daher nicht fehlen, wenn das in Rede stehende Wissenschaftsgebiet wirklich Hand in Hand ginge mit der ganzen Kulturentwickelung, wenn seine Vertreter Stellung nehmen würden zu den großen Fragen, die die Menschheit bewegen.

Man muss sich dabei immer vor Augen halten, dass es sich nie darum handeln kann, erst künstlich ein geistiges Bedürfnis zu erzeugen, sondern allein darum, das bestehende aufzusuchen und ihm Befriedigung zu gewähren. Nicht das Aufwerfen von Fragen ist die Aufgabe der Wissenschaft, sondern das sorgfältige Beobachten derselben, wenn sie von der Menschennatur und der jeweiligen Kulturstufe gestellt werden, und ihre Beantwortung. Unsere modernen Philosophen stellen sich Aufgaben, die durchaus kein natürlicher Ausfluss der Bildungsstufe sind, auf der wir stehen, und nach deren Beantwortung daher niemand frägt. An jenen Fragen aber, die unsere Bildung vermöge jenes Standortes, auf den sie unsere Klassiker gehoben haben, stellen muss, geht die Wissenschaft vorüber. So haben wir eine Wissenschaft, nach der niemand sucht, und ein wissenschaftliches Bedürfnis, das von niemandem befriedigt wird.«

6. Dass neben den Resultaten der Wissenschaft keine andere Religion anerkannt werden könne.

In den »Grundlinien einer Erkenntnistheorie ...« schreibt Steiner 1886 (S. 84):

»Unsere Ansicht hat gezeigt, dass jede Annahme von einem Seinsgrunde, der außerhalb der Idee liegt, ein Unding ist. Der gesamte Seinsgrund hat sich in die Welt ausgegossen, er ist in sie aufgegangen. Im Denken zeigt er sich in seiner vollendetsten Form, so wie er an und für sich selbst ist. Vollzieht daher das Denken eine Verbindung, fällt es ein Urteil, so ist es der in dasselbe eingeflossene Inhalt des Weltgrundes selbst, der verbunden wird.

Im Denken sind uns nicht Behauptungen gegeben über irgendeinen jenseitigen Weltengrund, sondern derselbe ist substantiell in dasselbe eingeflossen. Wir haben eine unmittelbare Einsicht in die sachlichen, nicht bloß in die formellen Gründe, warum sich ein Urteil vollzieht. Nicht über irgend etwas Fremdes, sondern über seinen eigenen Inhalt bestimmt das Urteil.

Unsere Ansicht begründet daher ein wahrhaftes Wissen. Unsere Erkenntnistheorie ist wirklich kritisch. Unserer Ansicht gemäß darf nicht nur der Offenbarung gegenüber nichts zugelassen werden, wofür nicht innerhalb des Denkens sachliche Gründe da sind; sondern auch die Erfahrung muss innerhalb des Denkens nicht nur nach der Seite ihrer Erscheinung, sondern als Wirkendes erkannt werden. Durch unser Denken erheben wir uns von der Anschauung der Wirklichkeit als einem Produkte zu der als einem Produzierenden. «

1887 schreibt Steiner im Zweiten Band der »Einleitungen zu Goethes Naturwissenschaftlichen Schriften« (S. 125):

»Es ist allein des Menschen würdig, das er selbst die Wahrheit suche, dass ihn weder Erfahrung noch Offenbarung leite. Wenn das einmal durchgreifend erkannt sein wird, dann haben die Offenbarungsreligionen abgewirtschaftet. Der Mensch wird dann gar nicht mehr wollen, dass sich Gott ihm offenbare oder Segen spende. Er wird durch eigenes Denken erkennen, durch eigene Kraft sein Glück begründen wollen. Ob irgendeine höhere Macht unsere Geschicke zum Guten oder Bösen lenkt, das geht uns nichts an; wir haben uns selbst die Bahn vorzuzeichnen, die wir zu wandeln haben.«

7. Steiner bezeichnet sich als entschiedenen Anhänger der Behauptung, eine vernünftige Weltanschauung sei bereits sicher gewonnen.

Im zweiten Band der »Einleitungen zu Goethes Naturwissenschaftlichen Schriften« schreibt Steiner 1887( S. 156-157):

»Von unserem Standpunkte aus erklärt sich die Notwendigkeit wissenschaftlicher Erkenntnis und die Überschreitung der Erfahrung ganz widerspruchslos. Als das zuerst und unmittelbar Gegebene tritt uns die Sinnenwelt gegenüber; sie sieht uns wie ein ungeheures Rätsel an, weil wir das Treibende, Wirkende derselben in ihr selbst nimmermehr finden können. Da tritt die Vernunft hinzu und hält mit der idealen Welt der Sinnenwelt die prinzipielle Wesenheit gegenüber, die die Lösung des Rätsels bildet. So objektiv die Sinnenwelt, so objektiv sind diese Prinzipien. Dass sie für die Sinne nicht, sondern nur für die Vernunft zur Erscheinung kommen, ist für ihren Inhalt gleichgültig. Gäbe es keine denkenden Wesen, so kämen diese Prinzipien zwar niemals zur Erscheinung; sie wären deshalb aber nicht minder die Essenz der Erscheinungswelt. Damit haben wir der transzendenten Weltansicht Lockes, Kants, des späteren Schelling, Schopenhauers, Volkelts, der Neukantianer und der modernen Naturforscher eine wahrhaft immanente gegenübergestellt.

Jene suchen den Weltgrund in einem dem Bewusstsein Fremden, Jenseitigen, die immanente Philosophie in dem, was für die Vernunft zur Erscheinung kommt. Die transzendente Weltansicht betrachtet die begriffliche Erkenntnis als Bild der Welt, die immanente als die höchste Erscheinungsform derselben. Jene kann daher nur eine formale Erkenntnistheorie liefern, die sich auf die Frage gründet: Welches ist das Verhältnis von Denken und Sein? Diese stellt an die Spitze ihrer Erkenntnistheorie die Frage: Was ist Erkennen? Jene geht von dem Vorurteil einer essentiellen Differenz von Denken und Sein aus, diese geht vorurteilslos auf das allein Gewisse, das Denken, los und weiß, dass sie außer dem Denken kein Sein finden kann.«

8. Steiner ist überzeugt davon, dass es keine prinzipiell unlösbaren »Welträtsel« gebe.

Im Zweiten Band der »Einleitungen zu Goethes Naturwissenschaftlichen Schriften« schreibt Steiner 1887 (S. 197):

»Es kann also von prinzipiellen Grenzen des Erklärens gar nicht die Rede sein. Nun kommt da freilich etwas in Betracht, was der Theorie einer Erkenntnisgrenze einen Schein von Recht gibt. Es kann sein, dass wir von einem Wirklichen zwar ahnen, dass es da ist, dass es aber doch unserer Wahrnehmung entrückt ist. Wir können irgendwelche Spuren, Wirkungen eines Dinges wahrnehmen und dann die Annahme machen, dass dies Ding vorhanden ist. Und hier kann etwa von einer Grenze des Wissens gesprochen werden. Das, was wir als nicht erreichbar voraussetzen, ist hier aber kein solches, aus dem irgend etwas prinzipiell zu erklären wäre; es ist ein Wahrzunehmendes, wenn auch kein Wahrgenommenes. Die Hindernisse, warum ich es nicht wahrnehme, sind keine prinzipiellen Erkenntnisgrenzen, sondern rein zufällige, äußere. Ja sie können wohl gar überwunden werden. Was ich heute bloß ahne, kann ich morgen erfahren. Das ist aber mit einem Prinzip nicht so; da gibt es keine äußeren Hindernisse, die ja zumeist nur in Ort und Zeit liegen; das Prinzip ist mir innerlich gegeben. Ich ahne es nicht aus einem andern, wenn ich es nicht selbst erschaue.«

9. Steiner ist der Auffassung, der Kulturprozess, insofern er ein wissenschaftlicher sei, bestehe darin, den Zustand des Nichtwissens immer mehr in den des Wissens zu verwandeln.

Im Zweiten Band der »Einleitungen ... « schreibt Steiner 1887 (S. 165-167):

»Unsere Erkenntnistheorie ist die Wissenschaft von der Bestimmung aller andern Wissenschaften. Sie hat uns aufgeklärt darüber, dass das in den einzelnen Wissenschaften Gewonnene der objektive Grund des Weltendaseins ist. Die Wissenschaften gelangen zu einer Reihe von Begriffen; über die eigentliche Aufgabe dieser Begriffe belehrt uns die Erkenntnistheorie.

Mit diesem charakteristischen Ergebnis weicht unsere im Sinne der Goetheschen Denkweise gehaltene Erkenntnistheorie von allen andern Erkenntnistheorien der Gegenwart ab. Sie will nicht bloß einen formalen Zusammenhang zwischen Denken und Sein feststellen; sie will das erkenntnistheoretische Problem nicht bloß logisch lösen, sie will zu einem positiven Resultat kommen. Sie zeigt, was der Inhalt unseres Denkens ist; und sie findet, dass dieses Was zugleich der objektive Weltinhalt ist.

So wird uns die Erkenntnistheorie zur bedeutungsvollsten Wissenschaft für den Menschen. Sie klärt den Menschen über sich selbst auf, sie zeigt ihm seine Stellung in der Welt; sie ist damit ein Quell der Befriedigung für ihn. Sie sagt ihm erst, wozu er berufen ist. Im Besitze ihrer Wahrheiten fühlt sich der Mensch gehoben; sein wissenschaftliches Forschen gewinnt eine neue Beleuchtung.

Nun erst weiß er, dass er mit dem Kern des Weltendaseins unmittelbarst verknüpft ist, dass er diesen Kern, der allen übrigen Wesen verborgen bleibt, enthüllt, dass in ihm der Weltgeist zur Erscheinung kommt, dass dieser ihm innewohnt. Er sieht in sich selbst den Vollender des Weltprozesses, er sieht, dass er berufen ist, das zu vollenden, was die andern Kräfte der Welt nicht vermögen, dass er der Schöpfung die Krone aufzusetzen hat.

Lehrt die Religion, dass Gott den Menschen nach seinem Ebenbilde geschaffen hat, so lehrt uns unsere Erkenntnistheorie, dass Gott die Schöpfung überhaupt nur bis zu einem gewissen Punkte geführt hat. Da hat er den Menschen entstehen lassen und dieser stellt sich, indem er sich selbst erkennt und um sich blickt, die Aufgabe, fortzuwirken, zu vollenden, was die Urkraft begonnen hat. Der Mensch vertieft sich in die Welt und erkennt, was sich auf dem Boden, der gelegt ist, weiter bauen lässt, er ersieht die Andeutung, die der Urgeist gemacht hat und führt das Angedeutete aus. So ist die Erkenntnistheorie zugleich die Lehre von der Bedeutung und Bestimmung des Menschen; und sie löst diese Aufgabe (von der ›Bestimmung des Menschen‹) in viel bestimmterer Weise als dies Fichte am Wendepunkte des 18. und 19. Jahrhunderts getan hat. Man gelangt durch die Gedankengestaltung dieses. starken Geistes durchaus nicht zu jener vollen Befriedigung, die uns durch eine echte Erkenntnistheorie werden muss.

Wir haben allem einzelnen Dasein gegenüber die Aufgabe, es zu bearbeiten, so dass es als von der Idee ausfließend erscheint, dass es als einzelnes ganz verflüchtigt und aufgeht in der Idee, in deren Element wir uns versetzt fühlen. Unser Geist hat die Aufgabe, sich so auszubilden, dass er imstande ist, alle ihm gegebene Wirklichkeit in der Art zu durchschauen, wie sie von der Idee ausgehend erscheint. Wir müssen uns als fortwährende Arbeiter erweisen in dem Sinne, dass wir jedes Erfahrungsobjekt umgestalten, so dass es als Teil unseres ideellen Weltbildes auftritt. Damit sind wir da angekommen, wo die Goethesche Weltbetrachtungsweise einsetzt.«

Zu einer vollends absurden Position gelangt Zander in seiner Auseinandersetzung über Haeckel und Steiner, wenn er Steiner unterstellt, er habe 1900 in seinem Aufsatz »Haeckel und seine Gegner« unter Berufung auf Haeckel materialistische und atheistische Positionen bezogen.

Auf S. 882 schreibt Zander:

»Er beschrieb unter Berufung auf Haeckel das, ›was wir kurzweg ‚menschliche Seele’ nennen‹, ›nur‹ als ›die Summe unseres Empfindens, Wollens und Denkens, die Summe von physiologischen Funktionen, deren Elementarorgane die mikroskopischen Ganglienzellen unseres Gehirns bilden‹ (ebd., 171), und er sah das ›logische Denken, wie das ästhetische Urteil‹ materialistisch ›entstehen‹: ›Über diese Frage allein spricht sich die vergleichende Physiologie und Gehirnanatomie aus‹. (ebd., 174) Dass er ein ›geistiges Urwesen … (zum Beispiel Schopenhauers Wille oder Hartmanns unbewusster Geist)‹ ablehnte (ebd., 177), war konsequent. In diesem Kontext findet sich eine der prononciertesten atheistischen Aussagen Steiners:

›Wäre die menschliche Vernunft nur Abbild einer ewigen, dann könnte sie ihre Gesetzmäßigkeit nimmermehr durch Selbstbeobachtung gewinnen, sondern sie müsste sie aus der ewigen Vernunft heraus erklären. Wo immer aber eine solche Erklärung versucht worden ist, ist stets einfach die menschliche Vernunft in die Welt hinaus versetzt worden. Wenn der Mystiker durch Versenken in sein Inneres sich zur Anschauung Gottes zu erheben glaubt, so sieht er in Wirklichkeit nur seinen eigenen Geist, den er zum Gott macht‹ (ebd., 178).«

Diese Sätze Zanders stellen ein einziges Gewirr aus entstellenden, verfälschenden Zitatverkürzungen und gravierenden Fehlinterpretationen Steiners dar. Versuchen wir dieses Wirrwarr zu entwirren.

1. Zander behauptet, Steiner habe die menschliche Seele unter Berufung auf Haeckel nur als Summe von physiologischen Funktionen, also materialistisch, beschrieben.

In Wahrheit zitiert Steiner in extenso Haeckels Ansichten – und beschreibt nicht unter Berufung auf ihn – die menschliche Seele als Summe physiologischer Funktionen. Eingeleitet wird sein langes Haeckel-Zitat durch die Gegenüberstellung zweier Alternativen, vor welche die »Entstehung der Arten« das menschliche Denken stelle:

• entweder das vernunftbegabte Bewusstsein ist vor seinem Auftreten in der Welt nicht vorhanden, sondern entsteht als Ergebnis des im Gehirn konzentrierten Nervensystems

• oder eine alles beherrschende Weltvernunft existiert vor allen übrigen Wesen und gestaltet den Stoff so, dass im Menschen ihr Abbild zur Erscheinung kommt.

Danach folgt das Zitat, in dem Haeckel laut Steiner das Werden des Menschengeistes beschreibt. In diesem finden sich die (Haeckelschen) Sätze: »Was wir kurzweg ›menschliche Seele‹ nennen, ist ja nur die Summe unseres Empfindens, Wollens und Denkens, die Summe von physiologischen Funktionen, deren Elementarorgane die mikroskopischen Ganglienzellen unseres Gehirns bilden.«

An das lange Haeckel-Zitat schließt Steiner die Bemerkung an:

»Die Gesamtheit menschlicher Seelentätigkeiten, die in dem einheitlichen Selbstbewusstsein ihren höchsten Ausdruck findet, entspricht  (kursiv L.R.) dem komplizierten Bau des menschlichen Gehirnes ebenso wie das einfache Empfinden und Wollen der Organisation des Urtieres. Die Fortschritte der Physiologie, die wir Forschern wie Goltz, Munk, Wernicke, Edinger, Paul Flechsig und anderen verdanken, geben uns heute die Möglichkeit, einzelne Seelenäußerungen bestimmten Teilen des Gehirnes als deren besondere Funktionen zuzuweisen (kursiv L.R.).«

Steiner erklärt also nicht die menschlichen Seelentätigkeiten oder das Selbstbewusstsein aus dem Gehirn, sondern er redet von Entsprechungen, von Zuweisungen von Funktionen. Kurz darauf spricht er von den Werkzeugen des Denkens im Gehirn, um sich daraufhin mit philosophischen Einwänden gegen Haeckel auseinanderzusetzen und diesen zu entgegnen: »Solche Einwände deuten auf ein Missverständnis der von Haeckel vertretenen Weltanschauung hin. Wer wirklich von dem Sinn dieser Weltanschauung durchdrungen ist, wird die Gesetze des geistigen Lebens niemals auf einem anderen Wege als durch innere Erfahrung, durch Selbstbeobachtung zu erforschen suchen.« (kursiv L.R.)

Und diese innere Erfahrung und Selbstbeobachtung, so Steiner, wird keinen  naturwissenschaftlichen Denker jemals zu der Meinung führen, »dass darüber, was im logischen Sinne wahr oder falsch ist, die körperlich-organischen Gründe Aufschluss geben können. Die geistigen Zusammenhänge können nur aus dem geistigen Leben heraus erkannt werden. Was logisch berechtigt ist, darüber wird immer die Logik, was künstlerisch vollkommen ist, darüber wird das ästhetische Urteil entscheiden.« (kursiv L.R.)

Die Selbstbeobachtung des Denkens zeigt darüberhinaus laut Steiner, dass der menschliche Geist die Erklärungen für das, was er beobachtet, aus sich selbst entnehmen muss. Er muss über die Beobachtung hinausgehen, wenn er sie begreifen will. Für das denkende Bewusstsein gilt dies aber nicht, denn: »Ihm können wir durch keine Erklärung etwas hinzufügen, was nicht schon in der Beobachtung liegt. Es liefert uns die Gesetze für alles andere, es liefert uns zugleich auch seine eigenen ... Über die Richtigkeit des Denkens entscheidet nur das Denken selbst. So ist es das Denken, das uns bei allem Weltgeschehen über die bloße Beobachtung, nicht aber über sich selbst hinausführt.«

Daraus folgt: das Denken und seine innere Gesetzmäßigkeit, sowie die Gesetzmäßigkeiten des Weltzusammenhangs überhaupt, die durch das Denken erkannt werden, können nicht aus den Beobachtungen abgeleitet oder erklärt werden: das Denken kann nur aus sich selbst erklärt werden. Folglich kann es auch keine materialistische oder reduktionistische Erklärung des Denkens aus materiellen Vorgängen geben. Deshalb vertritt Steiner hier keine materialistische Position.

2. Zander behauptet, in Steiners Aufsatz finde sich eine seiner »prononciertesten atheistischen Aussagen«.

Als Beleg für diese Behauptung zitiert Zander folgende Sätze Steiners:

»Wäre die menschliche Vernunft nur Abbild einer ewigen, dann könnte sie ihre Gesetzmäßigkeit nimmermehr durch Selbstbeobachtung gewinnen, sondern sie müsste sie aus der ewigen Vernunft heraus erklären. Wo immer aber eine solche Erklärung versucht worden ist, ist stets einfach die menschliche Vernunft in die Welt hinaus versetzt worden. Wenn der Mystiker durch Versenken in sein Inneres sich zur Anschauung Gottes zu erheben glaubt, so sieht er in Wirklichkeit nur seinen eigenen Geist, den er zum Gott macht.«

Nun erläutert Zander nicht näher, was er an diesen Sätzen für atheistisch hält, immerhin gibt es drei Möglichkeiten. Zander könnte für atheistisch halten,

1. dass Steiner die Vorstellung ablehnt, die menschliche Vernunft sei »nur das Abbild einer ewigen Vernunft« und ihre »Gesetzmäßigkeit« sei aus der ewigen Vernunft zu erklären;

2. dass Steiner alle derartigen Erklärungsversuche als Projektionen der menschlichen Vernunft in die Außenwelt bezeichnet;

3. oder dass er behauptet, der Mystiker, der glaube, er erhebe sich zur Anschauung Gottes, indem er sich in sein Inneres versenke, mache »nur seinen eigenen Geist« zu diesem Gott.

Nirgends behauptet Steiner, es gebe keinen Gott. Für »atheistisch« kann man eine der drei genannten Behauptungen nur halten, wenn man deren Gegenteil für »theistisch« hält. Steiner spricht stattdessen vom »Dualismus«. Dem Dualismus, der den Inhalt der menschlichen Vernunft in ein Jenseits projiziert, oder der versucht, diese Vernunft aus einem hypostasierten Vernunftinhalt zu erklären, oder der Gott jenseits der Vernunft in einem mystischen Inneren sucht, hält Steiner die monistische Auffassung entgegen, die auf der Selbstbeobachtung ebendieser Vernunft beruht. Sein Argument gegen den Dualismus entwickelt er in folgendem Gedankengang:

»Man ziehe nur einmal die richtige Folgerung aus der Erkenntnis, dass Beobachtung in Selbstbeobachtung umschlägt, wenn wir aus naturwissenschaftlichem in geisteswissenschaftliches Gebiet heraufgehen. Läge den Naturerscheinungen eine allgemeine Weltvernunft oder ein anderes geistiges Urwesen zugrunde (zum Beispiel Schopenhauers Wille oder Hartmanns unbewusster Geist), so müsste auch der denkende Menschengeist von diesem Weltwesen geschaffen sein. Eine Übereinstimmung der Begriffe und Ideen, die sich dieser Geist von den Erscheinungen bildet, mit der eigenen Gesetzmäßigkeit dieser Erscheinungen wäre nur möglich, wenn der ideelle Weltkünstler in der menschlichen Seele die Gesetze erzeugte, nach denen er vorher die ganze Welt geschaffen hat. Dann aber könnte der Mensch seine eigene geistige Tätigkeit nicht durch Selbstbeobachtung, sondern durch Beobachtung des Urwesens erkennen, von dem er gebildet ist. Es gäbe eben keine Selbstbeobachtung, sondern nur Beobachtung der Absichten und Zwecke des Urwesens. Mathematik und Logik zum Beispiel dürften nicht dadurch ausgebildet werden, dass der Mensch die innere, eigene Natur geistiger Zusammenhänge sucht, sondern dass er diese geisteswissenschaftlichen Wahrheiten aus den Absichten und Zwecken der ewigen Weltvernunft ableitet.«

Auf diese Argumentation folgen die von Zander zitierten Sätze »Wäre die menschliche Vernunft nur Abbild einer ewigen ...« etc.

Nach Steiners Auffassung ist aber die menschliche Vernunft nicht das Abbild einer ewigen Vernunft, eines unbewussten Willens oder eines unbewussten Geistes, sondern »der Weltengrund hat sich in die Welt vollständig ausgegossen« und »die höchste Form in der er innerhalb der Wirklichkeit des gewöhnlichen Lebens auftritt, ist das Denken und mit demselben die menschliche Persönlichkeit.« (»Grundlinien einer Erkenntnistheorie ...«)

Diese Sätze aus Steiners sogenannter »idealistischer Phase« bezeichnen genau die Position aus seiner von Zander unterstellten »atheistischen Phase«. Steiner verneint nicht die Existenz Gottes, sondern er definiert dessen Begriff »pantheistisch« oder »panentheistisch« um. »Was die Philosophen das Absolute, das ewige Sein, den Weltengrund, was die Religionen Gott nennen, das nennen wir, auf Grund unserer erkenntnistheoretischen Erörterungen: die Idee«, schreibt Steiner in den »Einleitungen zu Goethes Naturwissenschaftlichen Schriften« 1883, und nicht: dessen Existenz leugnen wir.

Steiner vertritt also auch keine atheistische Position und er hat nie eine solche Position vertreten, weil er von der logischen Unmöglichkeit negativer Existentialurteile überzeugt war.

3. In einer Hinsicht vertritt Steiner allerdings eine Position, die man als »materialistisch« bezeichnen könnte.

Bei genauerem Hinsehen, ist sie dies aber nicht. Vielmehr bringt Steiner die Überzeugung zum Ausdruck, dass das menschliche Bewusstsein im Zusammenhang mit der leiblichen Existenz und nur im Zusammenhang mit dieser auftritt.

Er schreibt:

»Ein anderes aber ist die Frage: Wie entsteht das logische Denken, wie das ästhetische Urteil als Funktion des Gehirnes? Über diese Frage allein spricht sich die vergleichende Physiologie und Gehirnanatomie aus. Und diese zeigen, dass das vernünftige Bewusstsein nicht für sich abgesondert existiert und das menschliche Gehirn nur benutzt, um sich durch dasselbe zu äußern, wie der Klavierspieler auf dem Klavier spielt, sondern dass unsere Geisteskräfte ebenso Funktionen der Form-Elemente unseres Gehirns sind, wie ›jede Kraft die Funktion eines materiellen Körpers ist‹ (Haeckel, Anthropogenie).«

Die Frage ist, wie das logische Denken als Funktion des Gehirns entsteht, also wie Denken und Gehirn zusammenwirken. Und auf die Entstehung der Erscheinungsform des Denkens hat das Gehirn, das »Werkzeug des Denkens« allerdings einen Einfluss, denn das Denken wirkt im Gehirn, wie jede Kraft im Körper: seine Kraft muss sich der Organe und Form-Elemente des Gehirns bedienen, wenn es sich durch dieses äußern will.

Die Ausführungen Steiners im Kontext:

»Wenn wir die Frage nach der Entstehung der Arten in ihrer wichtigsten Form aufwerfen, in der nach dem Ursprung des Menschen, so gibt es nur zwei Antworten.

Entweder ist ein vernunftbegabtes Bewusstsein vor seinem tatsächlichen Auftreten in der Welt in keiner Weise vorhanden, sondern es entsteht als Ergebnis des im Gehirn konzentrierten Nervensystems, oder eine alles beherrschende Weltvernunft existiert vor allen übrigen Wesen und gestaltet den Stoff so, dass im Menschen ihr Abbild zur Erscheinung kommt.

Haeckel stellt (in ›Der Monismus als Band zwischen Religion und Wissenschaft‹) das Werden des Menschengeistes in folgender Weise dar:

›Wie unser menschlicher Körper sich langsam und stufenweise aus einer langen Reihe von Wirbeltierahnen herangebildet hat, so gilt dasselbe auch von unserer Seele; als Funktion unseres Gehirns hat sie sich stufenweise in Wechselwirkung mit diesem ihrem Organ entwickelt. Was wir kurzweg ‚menschliche Seele’ nennen, ist ja nur die Summe unseres Empfindens, Wollens und Denkens, die Summe von physiologischen Funktionen, deren Elementarorgane die mikroskopischen Ganglienzellen unseres Gehirns bilden. Wie der bewunderungswürdige Bau dieses letzteren, unseres menschlichen Seelenorgans, sich im Laufe von Jahrmillionen allmählich aus den Gehirnformen höherer und niederer Wirbeltiere emporgebildet hat, zeigt uns die vergleichende Anatomie und Ontogenie; wie Hand in Hand damit auch die Seele selbst — als Funktion des Gehirns — sich entwickelt hat, das lehrt uns die vergleichende Psychologie. Die letztere zeigt uns auch, wie eine niedere Form der Seelentätigkeit schon bei den niedersten Tieren vorhanden ist, bei den einzelligen Urtieren, Infusorien und Rhizopoden. Jeder Naturforscher, der gleich mir lange Jahre hindurch die Lebenstätigkeit dieser einzelligen Protisten beobachtet hat, ist positiv überzeugt, dass auch sie eine Seele besitzen; auch diese ‚Zellseele’ besteht aus einer Summe von Empfindungen, Vorstellungen und Willenstätigkeiten; das Empfinden, Denken und Wollen unserer menschlichen Seele ist nur stufenweise davon verschieden.‹

Die Gesamtheit menschlicher Seelentätigkeiten, die in dem einheitlichen Selbstbewusstsein ihren höchsten Ausdruck findet, entspricht dem komplizierten Bau des menschlichen Gehirnes ebenso wie das einfache Empfinden und Wollen der Organisation des Urtieres. Die Fortschritte der Physiologie, die wir Forschern wie Goltz, Munk, Wernicke, Edinger, Paul Flechsig und anderen verdanken, geben uns heute die Möglichkeit, einzelne Seelenäußerungen bestimmten Teilen des Gehirnes als deren besondere Funktionen zuzuweisen. Wir sehen in vier Gebieten der grauen Rindenzone des Hirnmantels die Vermittler von vier Arten des Empfindens: die Körperfühlsphäre im Scheitellappen, die Riechsphäre im Stirnlappen, die Sehsphäre im Hinterhauptlappen, die Hörsphäre im Schläfenlappen. Das die Empfindungen verbindende und ordnende Denken hat seine Werkzeuge zwischen diesen vier ›Sinnesherden‹. Haeckel knüpft an die Erörterung dieser neueren physiologischen Ergebnisse die Bemerkung:

›Die vier Denkherde, durch eigentümliche und höchst verwickelte Nervenstruktur vor den zwischenliegenden Sinnesherden ausgezeichnet, sind die wahren ‚Denkorgane’, die einzigen realen Werkzeuge unseres Geisteslebens‹ (Über unsere gegenwärtige Kenntnis vom Ursprung des Menschen).

Haeckel fordert von den Psychologen, dass sie solche Ergebnisse bei ihren Ausführungen über das Wesen der Seele berücksichtigen und nicht eine Scheinwissenschaft aufbauen, die sich zusammensetzt aus phantastischer Metaphysik, einseitiger, sogenannter innerer Beobachtung der Seelenvorgänge, unkritischer Vergleichung, missverstandenen Wahrnehmungen und unvollständigen Erfahrungen aus spekulativen Verirrungen und religiösen Dogmen. Man findet dem Vorwurf gegenüber, der durch diese Ansicht der veralteten Seelenkunde gemacht wird, bei Philosophen und auch bei einzelnen Naturforschern die Behauptung, dass in den materiellen Vorgängen des Gehirnes doch nicht das eingeschlossen sein könne, was wir als Geist zusammenfassen; die stofflichen Vorgänge in den Sinnes- und Denksphären seien doch keine Vorstellungen, Empfindungen und Gedanken, sondern nur materielle Erscheinungen. Das Wesen der Gedanken und Empfindungen könnten wir nicht durch äußere Beobachtung, sondern nur durch innere Erfahrung, durch rein geistige Selbstbeobachtung kennenlernen. Gustav Bunge zum Beispiel führt in einem Vortrage ›Vitalismus und Mechanismus‹ (Seite 12) aus: ›In der Aktivität — da steckt das Rätsel des Lebens darin. Den Begriff der Aktivität aber haben wir nicht aus der Sinneswahrnehmung geschöpft, sondern aus der Selbstbeobachtung, aus der Beobachtung des Willens, wie er in unser Bewusstsein tritt, wie er dem inneren Sinn sich offenbart.‹ Manche Denker sehen das Kennzeichen eines philosophischen Kopfes in der Fähigkeit, sich zu der Einsicht zu erheben, dass es eine Umkehrung des richtigen Verhältnisses der Dinge ist, die geistigen Vorgänge aus materiellen begreifen zu wollen.

Solche Einwände deuten auf ein Missverständnis der von Haeckel vertretenen Weltanschauung hin. Wer wirklich von dem Sinn dieser Weltanschauung durchdrungen ist, wird die Gesetze des geistigen Lebens niemals auf einem anderen Wege als durch innere Erfahrung, durch Selbstbeobachtung zu erforschen suchen. Die Gegner der naturwissenschaftlichen Denkungsart reden gerade so, als wenn deren Anhänger die Wahrheiten der Logik, Ethik, Ästhetik und so weiter nicht durch Beobachtung der Geisteserscheinungen als solcher, sondern aus den Ergebnissen der Gehirnanatomie gewinnen wollten. Das von solchen Gegnern selbstgeschaffene Zerrbild naturwissenschaftlicher Weltanschauung nennen sie dann Materialismus und werden nicht müde, immer von neuem zu wiederholen, dass diese Ansicht unfruchtbar sein muss, weil sie die geistige Seite des Daseins ignoriere oder wenigstens auf Kosten der materiellen herabsetze. Otto Liebmann, der hier noch einmal angeführt werden mag, weil seine antinaturwissenschaftlichen Vorstellungen typisch für die Denkweise gewisser Philosophen und Laien sind, bemerkt: ›Gesetzt nun aber, die Naturerkenntnis wäre ans Ziel gelangt, so würde sie in der Lage sein, mir genau die körperlich-organischen Gründe anzugeben, weshalb ich den Satz ‚zweimal zwei ist vier’ für wahr halte und behaupte, den anderen Satz ‚zweimal zwei ist fünf’ für falsch halte und bestreite, oder weshalb ich diese Zeilen hier gerade jetzt aufs Papier schreiben muss, während ich in dem subjektiven Glauben befangen bin, es geschehe dies deshalb, weil ich sie wegen ihrer von mir angenommenen Wahrheit niederschreiben will‹ (Gedanken und Tatsachen).

Kein naturwissenschaftlicher Denker wird je der Meinung sein, dass darüber, was im logischen Sinne wahr oder falsch ist, die körperlich-organischen Gründe Aufschluss geben können. Die geistigen Zusammenhänge können nur aus dem geistigen Leben heraus erkannt werden. Was logisch berechtigt ist, darüber wird immer die Logik, was künstlerisch vollkommen ist, darüber wird das ästhetische Urteil entscheiden.

Ein anderes aber ist die Frage: Wie entsteht das logische Denken, wie das ästhetische Urteil als Funktion des Gehirnes? Über diese Frage allein spricht sich die vergleichende Physiologie und Gehirnanatomie aus. Und diese zeigen, dass das vernünftige Bewusstsein nicht für sich abgesondert existiert und das menschliche Gehirn nur benutzt, um sich durch dasselbe zu äußern, wie der Klavierspieler auf dem Klavier spielt, sondern dass unsere Geisteskräfte ebenso Funktionen der Form-Elemente unseres Gehirns sind, wie ›jede Kraft die Funktion eines materiellen Körpers ist‹ (Haeckel, Anthropogenie).

Das Wesen des Monismus besteht in der Annahme, dass alle Weltvorgänge, von den einfachsten mechanischen an bis herauf zu den höchsten menschlichen Geistesschöpfungen, in gleichem Sinne sich naturgemäß entwickeln und dass alles, was zur Erklärung der Erscheinungen herangezogen wird, innerhalb der Welt selbst zu suchen ist. Dieser Anschauung steht der Dualismus gegenüber, der die reine Naturgesetzlichkeit nicht für ausreichend hält, um die Erscheinungen zu erklären, sondern zu einer über den Erscheinungen waltenden, vernünftigen Wesenheit seine Zuflucht nimmt. Diesen Dualismus muss die Naturwissenschaft, wie gezeigt worden ist, verwerfen.

Es wird nun von Seiten der Philosophie geltend gemacht, dass die Mittel der Naturwissenschaft nicht ausreichen, um eine Weltanschauung zu begründen. Von ihrem Standpunkte aus hätte die Naturwissenschaft ganz recht, wenn sie den ganzen Weltprozess als eine Kette von Ursachen und Wirkungen im Sinne einer rein mechanischen Gesetzmäßigkeit erklärt; aber hinter dieser Gesetzmäßigkeit stecke doch die eigentliche Ursache, die allgemeine Weltvernunft, die sich der mechanischen Mittel nur bedient, um höhere, zweckmäßige Zusammenhänge zu verwirklichen. So sagt zum Beispiel der in den Bahnen Eduard von Hartmanns wandelnde Arthur Drews:

›Auch das menschliche Kunstwerk kommt auf mechanische Weise zustande, wenn man nämlich nur die äußerliche Aufeinanderfolge der einzelnen Momente dabei im Auge hat, ohne darauf zu reflektieren, dass hinter diesem allem doch nur der Gedanke des Künstlers steckt; dennoch würde man denjenigen mit Recht für einen Narren halten, der etwa behaupten wollte, das Kunstwerk sei rein mechanisch entstanden..., was sich auf jenem niedrigeren, mit der bloßen Anschauung der Wirkung sich begnügenden Standpunkte, der also den ganzen Prozess gleichsam nur von hinten betrachtet, als gesetzmäßige Wirkung einer Ursache darstellt, dasselbe erweist sich, von vorne gesehen, allemal als beabsichtigter Zweck des angewandten Mittels‹ (Die deutsche Spekulation seit Kant).

Und Eduard von Hartmann selbst sagt von dem Kampf ums Dasein, der es ermöglicht, die Lebewesen naturgemäß zu erklären:

›Der Kampf ums Dasein und mit ihm die ganze natürliche Zuchtwahl ist nur ein Handlanger der Idee, der die niederen Dienste bei der Verwirklichung jener, nämlich das Bebauen und Anpassen der vom Baumeister nach ihrem Platz im großen Bauwerk bemessenen und typisch vorherbestimmten Steine, verrichten muss. Diese Auslese im Kampf ums Dasein für das im wesentlichen zureichende Erklärungsprinzip der Entwickelung des organischen Reiches ausgeben, wäre nicht anders, als wenn ein Tagelöhner, der beim Zurichten der Steine beim Kölner Dombau mitgewirkt, sich für den Baumeister dieses Kunstwerkes erklären wollte‹ (Philosophie des Unbewussten).

Wären diese Vorstellungen berechtigt, so käme es der Philosophie zu, den Künstler hinter dem Kunstwerke zu suchen. Philosophen haben in der Tat die verschiedensten dualistischen Erklärungsweisen der Welterscheinungen versucht. Sie haben in Gedanken gewisse Wesenheiten konstruiert, die hinter den Erscheinungen schweben sollen, wie der Künstlergeist hinter dem Kunstwerke waltet.

Alle naturwissenschaftlichen Betrachtungen könnten dem Menschen die Überzeugung nicht nehmen, dass die wahrnehmbaren Erscheinungen von außerweltlichen Wesen gelenkt werden, wenn er innerhalb seines Geistes selbst etwas fände, was auf solche Wesen hindeutet. Was vermöchten Anatomie und Physiologie mit ihrer Erklärung, dass die Seelentätigkeiten Funktionen des Gehirnes sind, wenn die Beobachtung dieser Tätigkeiten etwas lieferte, was als höherer Erklärungsgrund anzusehen ist? Wenn der Philosoph uns zu zeigen vermöchte, dass sich in der menschlichen Vernunft eine allgemeine Weltvernunft offenbart, dann könnten eine solche Erkenntnis alle naturwissenschaftlichen Ergebnisse nicht widerlegen.

Nun wird aber die dualistische Weltanschauung durch nichts besser widerlegt als durch die Betrachtung des menschlichen Geistes. Wenn ich einen äußeren Vorgang, zum Beispiel die Bewegung einer elastischen Kugel, die durch eine andere gestoßen worden ist, erklären will, so kann ich nicht bei der bloßen Beobachtung stehen bleiben, sondern ich muss das Gesetz suchen, das Bewegungsrichtung und Schnelligkeit der einen Kugel durch Richtung und Schnelligkeit der anderen bestimmt. Ein solches Gesetz kann mir nicht die bloße Beobachtung, sondern nur die gedankliche Verknüpfung der Vorgänge liefern. Der Mensch entnimmt also aus seinem Geiste die Mittel, um das zu erklären, was sich ihm durch die Beobachtung darbietet. Er muss über die Beobachtung hinausgehen, wenn er sie begreifen will. Beobachtung und Denken sind die beiden Quellen unserer Erkenntnisse über die Dinge. Das gilt für alle Dinge und Vorgänge, nur nicht für das denkende Bewusstsein selbst. Ihm können wir durch keine Erklärung etwas hinzufügen, was nicht schon in der Beobachtung liegt. Es liefert uns die Gesetze für alles andere, es liefert uns zugleich auch seine eigenen. Wenn wir die Richtigkeit eines Naturgesetzes dartun wollen, so vollbringen wir dies dadurch, dass wir Beobachtungen, Wahrnehmungen unterscheiden, ordnen, Schlüsse ziehen, also uns Begriffe und Ideen über die Erfahrungen mit Hilfe des Denkens bilden. Über die Richtigkeit des Denkens entscheidet nur das Denken selbst. So ist es das Denken, das uns bei allem Weltgeschehen über die bloße Beobachtung, nicht aber über sich selbst hinausführt.

Diese Tatsache ist unvereinbar mit der dualistischen Weltanschauung. Was die Anhänger dieser Weltanschauung so oft betonen, dass die Äußerungen des denkenden Bewusstseins uns durch den inneren Sinn der Selbstbeobachtung zugänglich sind, während wir das physische, das chemische Geschehen nur begreifen, wenn wir die Tatsachen der Beobachtung durch logische, mathematische Kombination und so weiter, also durch die Ergebnisse der geisteswissenschaftlichen Gebiete, in die entsprechenden Zusammenhänge bringen: das dürften sie vielmehr niemals zugeben. Denn man ziehe nur einmal die richtige Folgerung aus der Erkenntnis, dass Beobachtung in Selbstbeobachtung umschlägt, wenn wir aus naturwissenschaftlichem in geisteswissenschaftliches Gebiet heraufgehen. Läge den Naturerscheinungen eine allgemeine Weltvernunft oder ein anderes geistiges Urwesen zugrunde (zum Beispiel Schopenhauers Wille oder Hartmanns unbewusster Geist), so müsste auch der denkende Menschengeist von diesem Weltwesen geschaffen sein. Eine Übereinstimmung der Begriffe und Ideen, die sich dieser Geist von den Erscheinungen bildet, mit der eigenen Gesetzmäßigkeit dieser Erscheinungen wäre nur möglich, wenn der ideelle Weltkünstler in der menschlichen Seele die Gesetze erzeugte, nach denen er vorher die ganze Welt geschaffen hat. Dann aber könnte der Mensch seine eigene geistige Tätigkeit nicht durch Selbstbeobachtung, sondern durch Beobachtung des Urwesens erkennen, von dem er gebildet ist. Es gäbe eben keine Selbstbeobachtung, sondern nur Beobachtung der Absichten und Zwecke des Urwesens. Mathematik und Logik zum Beispiel dürften nicht dadurch ausgebildet werden, dass der Mensch die innere, eigene Natur geistiger Zusammenhänge sucht, sondern dass er diese geisteswissenschaftlichen Wahrheiten aus den Absichten und Zwecken der ewigen Weltvernunft ableitet. Wäre die menschliche Vernunft nur Abbild einer ewigen, dann könnte sie ihre Gesetzmäßigkeit nimmermehr durch Selbstbeobachtung gewinnen, sondern sie müsste sie aus der ewigen Vernunft heraus erklären. Wo immer aber eine solche Erklärung versucht worden ist, ist stets einfach die menschliche Vernunft in die Welt hinaus versetzt worden. Wenn der Mystiker durch Versenken in sein Inneres sich zur Anschauung Gottes zu erheben glaubt, so sieht er in Wirklichkeit nur seinen eigenen Geist, den er zum Gott macht, und wenn Eduard von Hartmann von Ideen spricht, die sich der Naturgesetze als Handlanger bedienen, um den Weltenbau zu bilden, so sind diese Ideen nur seine eigenen, durch die er sich die Welt erklärt. Weil Beobachtung der Geistesäußerungen Selbstbeobachtung ist, deshalb spricht sich im Geiste das eigene Selbst und nicht eine äußere Vernunft aus.

Im vollen Einklänge mit der Tatsache der Selbstbeobachtung steht aber die monistische Entwickelungslehre. Hat sich die menschliche Seele langsam und stufenweise mit den Seelenorganen aus niederen Zuständen entwickelt, so ist es selbstverständlich, dass wir ihr Entstehen von unten her naturwissenschaftlich erklären, dass wir aber die innere Wesenheit dessen, was sich zuletzt aus dem komplizierten Bau des menschlichen Gehirns ergibt, nur durch die Betrachtung dieser Wesenheit selbst gewinnen können. Wäre Geist in einer der menschlichen Form ähnlichen immer vorhanden gewesen und hätte sich zuletzt nur im Menschen sein Gegenbild geschaffen, so müssten wir den Menschengeist aus dem Allgeist ableiten können; ist aber der Menschengeist im Laufe der natürlichen Entwickelung als Neubildung entstanden, dann begreifen wir sein Herkommen, wenn wir seine Ahnenreihe verfolgen; wir lernen die Stufe, zu der er zuletzt gekommen ist, kennen, wenn wir ihn selbst betrachten.«

GA 30, Haeckel und seine Gegner, GA 30, Dornach 1989, S. 172-178.

Auf einen »leichtfertigen Umgang« Zanders mit historischen Tatsachen weist Hartmut Traub in seinem Werk »Philosophie und Anthroposophie« hin.

Zander schreibt auf S. 919 in einer Fußnote:

»Immanuel Hermann Fichte (1796-1879) kam 1894 nur als Herausgeber von Werken seines Vaters vor (GA 31, 429), wurde aber 1916 unter der Rubrik ›Eine vergessene Strömung im deutschen Geistesleben‹ mehrfach erwähnt; mehr als ein name-dropping war dies aber nicht (GA 20,63. 65. 68. 120. 166 f. 175). Engere Bezugnahmen wären angesichts von Fichtes Selbstverständnis als Theist (vgl. Hermann: Philosophie Immanuel Hermann Fichtes, 91-98) auch schwierig geworden.«

Traub kommentiert diese Fußnote wie folgt:

»An dieser Fußnote zu I.H. Fichte ist nahezu alles sachlich unzutreffend. Schon die Zuordnung in das Kapitel ›Weitere romantische Naturphilosophen‹, in dem Zander naturphilosophische Denker vorstellt, die Steiner gekannt und mit denen er sich auseinander gesetzt hat, ist irreführend. Denn weder I.H. Fichtes ›speculative Theologie‹ noch seine ›Ethik‹, seine ›Anthropologie‹ oder ›Psychologie‹ lassen sich als ›romantische Naturphilosophie‹ verstehen. Die Philosophie I.H. Fichtes ist keine Naturphilosophie. Sie unter dieser Überschrift abzuhandeln, lässt sich weder sachlich noch geistesgeschichtlich rechtfertigen.

Unzutreffend an der Fußnote zum Fichte-Sohn ist ebenfalls, dass dessen Erwähnung bei Steiner nicht mehr als ein ›name-dropping‹ gewesen sei. Zander stützt diese Behauptung auf die mehrfache Erwähnung I.H. Fichtes in Steiners ›Eine vergessene Strömung im deutschen Geistesleben‹ (GA 20). Ein Blick in den Text zeigt aber, dass sich Steiner mit den für seine Anthroposophie einschlägigen Passagen aus Fichtes Anthropologie mehr als nur oberflächlich auseinander gesetzt hat. Auf andere ... Bezugnahmen Steiners auf I.H. Fichtes als einen bedeutenden Vorläufer und Bezugspunkt zur eigenen Anthroposophie (unter anderem GA 35, 215 ff.; 311 ff.; 66, 161 ff.) geht Zander nicht ein. Vielmehr wird behauptet, dass ›engere Bezugnahmen‹ Steiners zu I.H. Fichte › angesichts von Fichtes Selbstverständnis als Theist [...] auch schwierig geworden‹ wären (ebd.).

An dieser These ist allenfalls zutreffend, dass Steiner sich wohl wenig für I.H. Fichtes ›speculative Theologie‹ interessiert hat. Fraglich ist, ob er sie überhaupt einmal in der Hand gehabt hat. Damit ist Steiners Beziehung zu I.H. Fichte jedoch keineswegs erschöpft. Denn was Steiner interessierte, – und darauf ist er auch inhaltlich wiederholt und ausführlich eingegangen –, das war I.H. Fichtes Anthropologie. Hier richtete sich Steiners Aufmerksamkeit auf die darin weiträumig entfaltete Leib-Seele-Geistlehre, auf die anthroposophisch bedeutsame These vom ›inneren Menschen‹ sowie auf die ›Neubegründung‹ einer psychologischen Anthropologie und Anthroposophie ›auf naturwissenschatlichem Wege‹. Wie eng diese Bezugnahme Steiners zu I.H. Fichtes Anthropologie gesehen werden kann, lässt der Blick auf die (Unter)titel von Steiners Philosophie der Freiheit und I.H. Fichtes Anthropologie erkennen. Letztere heißt: ›Die Lehre von der menschlichen Seele. Neubegründet auf naturwissenschaftlichem Wege.‹ Steiner untertitelt seine Philosophie der Freiheit bekanntlich im Jahre 1918: ›Seelische Beobachtungsresultate nach naturwissenschaftlicher Methode‹ (GA 4; GA 4a, 241). Steiners Interesse galt also weniger dem ›speculativen Theisten‹ als vielmehr dem anthropologischen Psychologen I.H. Fichte.

Unterstreichen lässt sich dieser werkgeschichtliche Zusammenhang zwischen I.H. Fichte und Rudolf Steiner auch durch die in der Steiner-Forschung vertretene These, dass die Philosophie der Freiheit weniger eine Erkenntnistheorie und Ethik, sondern vielmehr als eine ›philosophische Anthropologie‹ gelesen werrden müsse ... Denn nicht nur im psychologischen Leitthema beider Bücher und ihrem methodologischen Selbstverständnis, sondern auch in ihrem anthropologisch-anthroposophischen Grundanliegen verfolgen Steiner und I.H. Fichte dasselbe Ziel: Die Neujustierung und Neugestaltung einer modernen Anthropologie.

In diesem Punkt gestaltet sich somit die Möglichkeit einer vergleichenden Untersuchung zwischen Steiner und I.H. Fichte nicht, wie Zander behauptet, schwierig , sondern im Gegenteil: Sie bietet sich vielmehr an, ja, sie drängt sich geradewegs auf. Steiners Auseinandersetzung mit I.H. Fichte, auch das zeigen schon die wenigen Andeutungen, ist offensichtlich mehr als ein bloßes ›name-dropping‹.

Wollte man nun darüber hinaus auf Zanders Behauptung, dass engere Beziehungen zwichen I.H. Fichte und Rudolf Steiner wegen Fichtes ›speculativem Theismus‹ schwierig herzustellen seien, näher eingehen, so wäre dabei zunächst einmal ein möglicher Bezugspunkt in der Sache auszumachen. Auch das ist nicht unmöglich. denn ein solcher Bezugspunkt ließe sich etwa in Steiners eigener ›Gotteslehre‹ im Kapitel ›Letzte Fragen‹ in der Philosophie der Freiheit oder in späteren ›theosophischen‹, theologischen und christologischen Schriften und Äußerungen ausmachen (etwa: GA 51, 313 ff.; GA 8). Ein kritischer Vergleich von Steiner und I.H. Fichte könnte sich somit auch in dieser Sache als interessantes und wohl auch ertragreiches Forschungsprojekt erweisen.«

Hartmut Traub, »Philosophie und Anthroposophie. Die philosophische Weltanschauung Rudolf Steiners - Grundlegung und Kritik«, Stuttgart 2011, S. 902-904

Traub widmet übrigens Steiners »Gotteslehre« in der Philosophie der Freiheit eine ausführliche Untersuchung und widerspricht in diesem Zusammenhang wiederholt der Zanderschen These, Steiner sei in den 1890er Jahren zum »Atheisten« geworden, zum Beispiel in der folgenden Passage:

»Wenn man, wie Zander es tut, davon spricht, dass bei Steiner – etwa um die Jahrhundertwende – eine geistige Neuorientierung zur Theosophie und Anthroposophie eingesetzt habe, dann ist es dieser These dienlich, die Unterschiede anzugeben, an denen sich eine solche Veränderung ablesen lässt. Sicherlich ist Steiners »Wende zur Theosophie« keine solche, die sich durch die von Zander gezogene Demarkationslinie kennzeichnen lässt, die den »atheistischen« Steiner des 19. vom »theosophischen« Steiner des 20. Jahrhunderts unterscheidet. Denn Steiner hatte .... bereits im letzten Kapitel der Philosophie der Freiheit explizit eine »monistische Theologie« vertreten und seine Kirchen- und Religionskritik lässt ... deutliche Akzente eines eigenständigen (katholisch-)christlichen Bekenntnisses mit mystisch-asketischen Zügen erkennen ...

Die unübersehbaren impliziten und expliziten theologischen und religiösen Züge der Philosophie der Freiheit lassen die Annahme einer solchen Phasentrennung in der Entwicklung der philosophischen Weltanschauung Rudolf Steiners nicht zu. Noch weniger lässt sich – mit Blick auf die offensichtlichen religiösen Stränge in der Philosophie der Freiheit – Zanders These von der Wende des frühen atheistischen zum späteren theosophischen Steiner aufrecht erhalten.«

Hartmut Traub in »Philosophie und Anthroposophie. Die philosophische Weltanschauung Rudolf Steiners - Grundlegung und Kritik«, Stuttgart 2011, S. 933.

Bezeichnend für Zanders Umgang mit seinen Quellen ist seine Behauptung, der Schweizer Philosoph Ignaz Paul Vital Troxler erscheine in Steiners Werk vor dem Ersten Weltkrieg nur als »schlichte Information«, die auf keinerlei intensive Beschäftigung schließen lasse.

Auf. S. 921 schreibt Zander:

Er erwähnte ihn in seiner Philosophiegeschichte in der Ausgabe des Jahres 1901 nicht, so dass Steiner ihm keine Bedeutung zumaß, sollte er Troxler überhaupt gekannt haben. Vor dem Ersten Weltkrieg ist er an höchstens vier Stellen nachweisbar234, aber bei der Neubearbeitung seiner Philosophiegeschichte im Jahr 1914 erschien Troxler plötzlich als im ›Ziel‹ der Theosophie verwandter Goetheanist (GA 18, 344).«

Anmerkung 234: Als schlichte Information, die auf keinerlei intensive Beschäftigung schließen lässt, wird Troxler genannt in GA 35,216 (1906) ...«

Hierzu ist zu bemerken:

Wenn Zander das 1900 erschienene Werk »Welt- und Lebensanschauungen im neunzehnten Jahrhundert« als Steiners »Philosophiegeschichte« bezeichnet, ist dies unzutreffend. Es handelt sich in der ersten Auflage um nicht mehr und nicht weniger als eine Darstellung der »Welt- und Lebensanschauungen im 19. Jahrhundert«: wie sollte eine solche Darstellung den Anspruch erheben, eine »Philosophiegeschichte« zu sein?

Die Vorrede der Ausgabe 1900 beginnt mit den Sätzen:

»In dieser Schrift wird der Versuch gemacht, die Entwicklung der Welt- und Lebensanschauungen von Goethe und Kant bis zu Darwin und Haeckel darzustellen.« (1900, Vorrede)

Zu einer Philosophiegeschichte wurde dieses Werk erst in der zweiten Auflage 1914 ausgearbeitet. Daher auch der neue Titel: »Die Rätsel der Philosophie in ihrer Geschichte als Umriss dargestellt«. Nunmehr greift die Darstellung bis zum Denken der alten Griechen aus.

Die Behauptung Zanders, die Erwähnung Troxlers in GA 35, 1906 sei nur eine »schlichte Information« straft ein Blick in den Text des Vortrages, auf den hier verwiesen wird, Lügen. Es handelt sich um Steiners Vortrag auf dem Theosophischen Kongress in Paris vom 4. Juni 1906 mit dem Titel: »Theosophie in Deutschland vor hundert Jahren«, einen für Steiners »theosophisches Selbstverständnis« grundlegenden Text, in dem er dem in Paris versammelten Publikum zum wiederholten Male deutlich machte, wo die geistesgeschichtlichen Anknüpfungspunkte seiner Theosophie lagen. Steiners gesamter Vortrag mündet in der Erwähnung Ignaz Paul Vital Troxlers. Die Schlusspassage lautet:

»Hier aber soll nur noch auf eine wenig bekannte Persönlichkeit hingewiesen werden, welche in dem Brennpunkt ihres Geistes die Strahlen theosophischer Weltbetrachtung vereinigte und ein Ideengebäude schuf, das in vieler Beziehung völlig mit den heute wieder erneuerten Gedanken der Theosophie übereinstimmt. Es ist I.P.V. Troxler, der von 1780 bis 1866 lebte und von dessen Werken namentlich das 1812 erschienene ›Blicke in das Wesen des Menschen‹ in Betracht kommt. Troxler wendet sich gegen die übliche Einteilung der menschlichen Natur in Seele und Leib, die er irreführend findet, weil sie die Natur nicht erschöpft. Er unterscheidet zunächst vier Glieder der menschlichen Wesenheit: Geist, höhere Seele, Leib (der ihm die niedere Seele ist) und Körper. Man braucht diese Einteilung nur im rechten Lichte zu sehen, um zu erkennen, wie nahe sie der heute in theosophischen Büchern üblichen ist. Der Körper in seinem Sinne fällt vollkommen zusammen mit dem, was man jetzt physischen Leib nennt. Die niedere Seele, oder das, was er, im Gegensatze zum Körper, den Leib nennt, ist nichts anderes als der sogenannte Astralleib. Das ist nicht etwa in seine Gedankenwelt hineingelegt, sondern er sagt selbst, dass dasjenige, was subjektiv die niedere Seele ist, man objektiv dadurch charakterisieren solle, dass man zurückgreife auf die von den alten Forschern gebrauchte Bezeichnung Astralleib. ›Es gibt demnach‹ – so führt er aus – ›notwendig etwas im Menschen, was die Weisen der Vorzeit als ein Soma asteroeides und Uranion soma, oder als ein Schema pneumatikon geahndet und verkündet, und was als Substrat der mittleren Lebenssphäre das Band des unsterblichen und des sterblichen Lebens ist.‹ Bei den Dichtern und Philosophen, welche Troxlers Zeitgenossen sind, lebt die Theosophie als Unterströmung; er selbst aber wird diese Theosophie bis zu einem hohen Grade in der ihn umgebenden geistigen Welt gewahr und gestaltet sie in origineller Art aus. So kommt er durch sich selbst auf Vieles, was sich in den uralten Weisheitslehren findet. Es ist um so reizvoller, sich in seine Gedankengänge zu vertiefen, da er nicht direkt auf alten Überlieferungen baut, sondern aus dem Denken und der Gesinnung seiner Zeit heraus etwas wie eine ursprüngliche Theosophie schafft.«

Der Text des gesamten Vortrags findet sich in den Quellen