Ihren Höhepunkt erreicht Zanders Verschwörungsgeschichte um Steiners Beziehungen zur Freimaurerei in einer Passage seines Buches über Steiners »Reinterpretation« seiner maurerischen Geschichte, in der vom »Versteckspiel« der Herausgeber und von einem Zugeständnis Steiners die Rede ist, dass auch die Geistesschau manchmal »versage«.

Auf S. 993 schreibt Zander:

»Die Reinterpretation seiner maurerischen Geschichte war die Konstruktion einer historischen Filiation ohne Reuß. Nach der Wiederholung der Notwendigkeit einer ›Anknüpfung‹ berichtete er nun, dass er das ›Diplom‹ aus der ›angedeuteten Gesellschaft‹ genommen habe, ›die in der von Yarker vertretenen Strömung lag‹ (GA 28,335); er habe mithin ›an die historische Yarker-Einrichtung‹ angeknüpft (ebd., 337). Die zentralen Begriffe ›Memphis- und Misraim-Ritus‹ oder ›Mystica aeterna‹ fallen weder hier noch an irgendeiner Stelle seiner Autobiographie. Auch der Name Reuß taucht nicht ein einziges Mal auf. Die Herausgeber sind diesem Versteckspiel lange gefolgt und hatten beispielsweise Reuß’ Namen in Steiners Briefen an Marie von Sivers durch ein ›X‹ ersetzt.

... der immense Kraftaufwand zur damnatio memoriae von Reuß korrespondiert wohl mit dem Maß an Diskreditierung, das Steiner befürchtete, wenn er erneut mit Reuß’ Logen-Betrieb und seinen ›sexualmagischen‹ Praktiken in Zusammenhang gebracht würde183.

Anmerkung 183: Der Höhepunkt dieser Traditionsverweigerung sind in der Autobiographie Steiners Kommentare zu seiner und Marie von Sivers’ Unterzeichnung des Beitrittes zum Reußschen Ordensverband: ›Unsere Unterschriften waren unter ‚Formeln’ gegeben. Das Übliche war eingehalten worden. Und  während wir unsere Unterschriften gaben, sagte ich mit aller Deutlichkeit: das ist alles Formalität, und die Einrichtung, die ich veranlasse, wird nichts herübernehmen von der Yarker-Einrichtung.‹ (GA 28,337) Es ist allerdings nicht deutlich, ob sich diese Äußerungen – wenn es sie wirklich gab – auf die Unterschrift unter das Gelöbnis, den Vertrag oder ein anderes Dokument beziehen.

...

[Der Haupttext fährt fort:]

Doch an einer Stelle des 36. Kapitels seiner Autobiographie wurde Steiner ehrlich und gestand, dass er sich in Reuß getäuscht hatte: ›Aber ich möchte, in aller Bescheidenheit, bemerken, dass ich in dem Lebensalter, das hier in Betracht kommt, noch zu den Leuten gehörte, die bei andern, mit denen sie zu tun hatten, Geradheit und nicht Krummheit in den Wegen voraussetzten.‹ (GA 28,337) Steiner konnte sogar zugeben, dass auch das ›geistige Schauen‹ vor ›diesem Glauben an die Menschen‹ versage (ebd.). Wenn er auch Reuß’ Namen verschwieg: Soviel Selbstkritik hätte man sich öfter gewünscht.«

Steiner spricht im betreffenden Kapitel seiner Autobiografie von »Bescheinigungen«, unter die er und Marie von Sivers ihre Unterschriften gesetzt hätten: »Dass man später in Bescheinigungen, die von Marie von Sivers und mir bei der Anknüpfung an die historische Yarker-Einrichtung unterschrieben worden sind, hat die Ausgangspunkte für allerlei Verleumdungen nehmen wollen, ist etwas, das, um solche Verleumdungen zu schmieden, das Lächerliche mit der Grimasse des Ernstes behandelt.« (GA 28, Dornach 1983, S. 450)

Nicht nur der Name von Reuß wurde durch die Herausgeber mit einem »X« ersetzt, sondern auch viele andere Namen. Dies hatte nichts mit einem »Versteckspiel« zu tun, sondern entsprach den Gepflogenheiten der damaligen Herausgeber. In den neuen Ausgaben der Briefe Steiners finden sich die Klarnamen der betreffenden Personen.

Was Steiners »Zugeständnis« anbetrifft, dass auch die Geistesschau manchmal versage, so findet sich ein solches im Text der Autobiografie nicht. Vielmehr spricht Steiner davon, dass das geistige Schauen nicht dazu »missbraucht werden dürfe, die inneren Absichten der Mitmenschen zu erforschen«, wenn diese es nicht verlangten. »Und so steht man Menschen, mit denen man zu tun hat, so gegenüber wie jeder andere, der keine Geist-Erkenntnis hat.«

Im Original lautet der Text wie folgt:

»Es ist selbstverständlich nachträglich leicht, Erwägungen darüber anzustellen, wieviel ›gescheiter‹ es doch gewesen wäre, nicht an Einrichtungen anzuknüpfen, die sich später von den Verleumdern mit gebrauchen ließen. Aber ich möchte, in aller Bescheidenheit, bemerken, dass ich in dem Lebensalter, das hier in Betracht kommt, noch zu den Leuten gehörte, die bei andern, mit denen sie zu tun hatten, Geradheit und nicht Krummheit in den Wegen voraussetzten. An diesem Glauben an die Menschen änderte auch das geistige Schauen nichts. Dieses soll nicht dazu missbraucht werden, die inneren Absichten der Mitmenschen zu erforschen, wenn diese Erforschung nicht im Verlangen der betreffenden Menschen selbst liegt. In andern Fällen bleibt die Erforschung des Innern anderer Seelen etwas dem Geist-Erkenner Verbotenes, wie die unberechtigte Öffnung eines Briefes etwas Verbotenes bleibt. Und so steht man Menschen, mit denen man zu tun hat, so gegenüber wie jeder andere, der keine Geist-Erkenntnis hat. Aber es gibt eben den Unterschied, den andern für geradlinig in seinen Absichten zu nehmen, bis man das Gegenteil erfahren hat, oder der ganzen Welt harmvoll gegenüberzustehen. Ein soziales Zusammenwirken der Menschen ist bei der letztern Stimmung unmöglich, denn ein solches kann sich nur auf Vertrauen, nicht auf Misstrauen aufbauen.« (GA 28, Dornach 1983, S. 449-450)

Laut Zander kam E.A.K. Stockmeyer im Jahr 1908 mit Bauplänen für den Doppelkuppelbau des Ersten Goetheanum zu Steiner. Diese Behauptung trifft nicht zu.

Auf S. 1066 schreibt Zander:

»... und Ernst August Karl Stockmeyer kam in diesem Jahr [1908] mit Bauplänen zu Steiner.«

Diese Aussage trifft nicht zu. Nach Stockmeyers eigenen, in GA 284 abgedruckten Erinnerungen, beschäftigte sich dieser im Anschluss an den Münchner Kongress 1907 mit den Formen der Planetensäulen und -siegel und trat im Frühjahr 1908 an Steiner mit der Frage heran, wie eine Architektur aussehen könne, die zu den in München präsentieren Motiven passe. Steiner habe daraufhin ein komplexes Konzept eines Gebäudes entwickelt, das von einer dreiachsig ellipsoiden Kuppel überwölbt war und in das die sieben Säulen in Form zweier paralleler Säulenreihen eingefügt werden sollten.

Stockmeyer schreibt:

»Ich habe mich dann auf meine Art intensiv mit den Siegeln und Säulen beschäftigt und mich malend und plastizierend an ihren Motiven versucht. In München konnte ich auch die ursprünglichen plastischen Entwürfe der Säulenkapitäle von Dr. Steiner sehen, die inzwischen leider verschollen sind. Im Frühjahr 1908 habe ich Rudolf Steiner meine ersten Versuche gezeigt und ihn auch nach den Sockeln der Säulen gefragt.

Er gab dann an, es solle jeweils das untere Motiv des Kapitals als Sockel verwendet werden, wie es dann im ersten Goetheanum geschehen ist.

Im Sommer desselben Jahres stellte ich ihm dann die Frage nach der Architektur, die zu den Säulen gehört.

Er ging sogleich darauf ein und zeichnete mir in wenigen Strichen auf, wie die sieben Säulen in zwei von Westen nach Osten verlaufenden Reihen einen elliptischen Raum umschließen und eine Kuppel in Form eines dreiachsigen Ellipsoids tragen sollten, dessen große Achse von Westen nach Osten läuft. Der Eingang sollte im Westen sein, und dort sollten die beiden Säulenreihen mit der Saturnsäule beginnen. Hinter den Säulen sollte ein Umgang sein, der ebenfalls von dreiachsigen Ellipsoiden ›muschelartig‹ überdeckt werden sollte. Eine elliptische Wand sollte das Ganze nach außen abgrenzen. Sie hat keine Fenster. Auf ihr sind die Siegel anzubringen, das erste zwischen der Saturnsäule und der Sonnensäule, das zweite zwischen Sonnen- und Mondsäule und so weiter, bis das siebte jenseits der Venussäule in der Ostnische zweimal rechts und links von der Mitte angebracht wird.

Licht empfängt der Raum nur durch eine einzige Öffnung im Hauptgewölbe, die so anzubringen ist, dass zur Zeit der Frühlings-Tagundnachtgleiche morgens gegen neun Uhr das Sonnenlicht auf einen ›bestimmten Punkt‹ im Innern fällt. Die Wand ist rot, die Kuppeln sind blau zu bemalen. An das Hauptgewölbe soll der Tierkreis gemalt werden, beginnend mit den Fischen im Westen über der Saturnsäule. Eigentlich sollte der Raum in den Felsen gehauen werden, am besten in Granit. Die Säulen sollten wenn möglich aus sibirischem Syenit hergestellt werden. Alle diese Angaben waren die Antworten auf meine immer mehr in die Einzelheiten gehenden Fragen.

Das war im Sommer 1908. Beim Durchdenken dieser Angaben wurde mir sehr bald klar, dass ihre Verwirklichung bedeutende Schwierigkeiten bringen würde. Es handelte sich um das Zusammenfügen von fünfzehn dreiachsigen Ellipsoiden. Wenn auch durch die ostwestliche und südnördliche Symmetrie das Problem auf die fünf Ellipsoide, die an jedem der vier Quadranten beteiligt sind, reduziert werden konnte, so war auch dieses Problem noch sehr verwickelt. Man musste um der Statik willen anstreben, dass an den ellipsenförmigen Schnittbögen zwischen Hauptgewölbe und Seitengewölbe die Berührungsebene des Hauptellipsoids die Hauptachse des  Seitenellipsoids aufnimmt, damit der Seitenschub des Hauptgewölbes möglichst günstig von den Seitengewölben aufgenommen würde. Diese mussten also in einer ganz bestimmten Weise schräg gestellt werden. Man musste ferner erreichen, dass die Seitenellipsoide mit senkrechten Tangenten in die Säulen und in zwei vorher festzulegende Punkte der Wand einlaufen.«

Siehe GA 284, Dornach 1993, S. 114-119.

Einmal mehr findet Zander in Äußerungen Steiners ein »Eingeständnis«, das nur in seiner Phantasie existiert. Abgesichert wird seine Enthüllung durch eine weitere Zitatfälschung.

Auf S. 1188 schreibt Zander:

»Und so versuchte Steiner, die Eurythmie zu entwickeln und zu erweitern. Die Veränderungen, die Steiner bis zu seinem Tod vornahm, stelle ich nicht detailliert dar ... Steiner hat diese Veränderungen auch nicht, wie in anderen Bereichen, abgestritten, sondern sie im Prinzip nach dem Ersten Weltkrieg konzediert:

›Dasjenige, was heute die Eurythmie ist, ist eigentlich erst seit jener Zeit zu den ersten, 1912 gegebenen Prinzipien dazugekommen.‹ (GA 279,22)

›Die Entwickelung der Eurythmie ist so geschehen, dass im Grunde genommen der eigentliche Charakter derselben eigentlich erst im Laufe der Jahre entstanden ist‹ (GA 277,380).

Dies aber war für Steiner ein heikler Punkt, denn das Eingeständnis der konzeptionellen Entwicklung der Eurythmie relativierte ihre Deutungsmöglichkeit als unmittelbare Visualisierung »objektiver«, »geistiger« Größen. Dies wiederum implizierte das Eingeständnis, dass sie eine Geschichte besaß und nicht nur zeitloser Ausdruck übersinnlicher Erkenntnis war.«

Die Frage ist, erstens, ob Steiner mit seinen Sätzen gemeint hat, die Eurythmie habe sich »konzeptionell« entwickelt, sei also der Idee nach zu etwas anderem als vorher geworden, und zweitens, ob eine »Entwicklung« der Eurythmie ihrer Deutungsmöglichkeit als »unmittelbarer Visualisierung geistiger Größen« widerspräche.

Beide Fragen dürfen verneinend beantwortet werden.

Denn erstens bezieht sich der Begriff der Entwicklung bei Steiner stets auf Erscheinungsformen des Geistigen, die sich allerdings in permanenter Wandlung befinden, was zur Folge hat, dass es geradezu paradox wäre, von der Eurythmie zu erwarten, sie habe sich als Erscheinungsform des Geistigen nicht entwickelt. Und zweitens schließt eine solche Entwicklung keineswegs ein, dass sich das »Konzept« der Eurythmie grundlegend gewandelt hat.

Dies wird auch deutlich, wenn man die von Zander zitierten Äußeren im Kontext liest. In GA 279 heißt es am 26.8.1923:

»Dasjenige, was heute die Eurythmie ist, ist eigentlich erst seit jener Zeit zu den ersten, 1912 gegebenen Prinzipien dazugekommen.

Und wir arbeiten fortwährend - denn dasjenige, was heute Eurythmie ist, ist ja ein Anfang - an der Ausgestaltung, an der Vervollkommnung. Sie trägt aber, ich möchte sagen, unbegrenzte Vervollkommnungsmöglichkeiten in sich. Und deshalb wird sie ganz zweifellos, wenn wir längst nicht mehr dabei sind, ihre weitere Ausbildung und ihre weitergehende Vervollkommnung finden und sich dann als eine jüngere Kunst neben die älteren Künste hinstellen können.« (GA 279, S. 22)

In GA 277 dagegen heißt es am 21.7.1923 (von Zander zitierter Text unterstrichen):

»Dass die Eurythmie aus der anthroposophischen Bewegung hervorgegangen ist, ist nicht irgendeiner Willkür entsprechend, trotzdem vielleicht die unmittelbare Veranlassung fast wie ein Zufall aussieht.

Aber die Entwickelung der Eurythmie ist so geschehen, dass im Grunde genommen der eigentliche Charakter derselben erst im Laufe der Jahre entstanden ist, und so entstanden ist, wie er eigentlich nur aus der anthroposophischen Bewegung als der für die neuere Zeit gedachten, für die Gegenwart und nächste Zukunft gedachten geistigen Bewegung hervorgehen muss.« (GA 277, S. 380, Dornach 1999).

Vergleicht man das zweite Zitat mit dem Zitat bei Zander, dann muss man eigentlich schon wieder von einer Zitatfälschung sprechen, denn Zander lässt genau jene Aussagen Steiners weg, in denen dieser betont, die Entwicklung der Eurythmie habe nichts mit Willkür, sondern vielmehr mit einer inneren Notwendigkeit zu tun.

Angeblich sollte die Eurythmie laut Zander einen »unmittelbaren Eindruck der theosophischen Inhalte« vermitteln. Damit stuft Zander diese Bewegungskunst auf eine Allegorie zurück, was nicht nur ihrer Intention diametral entgegengesetzt ist, sondern auch den expliziten Äußerungen Steiners widerspricht.

Auf S. 1191 schreibt Zander:

»Eurythmie stand für Steiner prima facie im Dienst der Visualisierung, der optischen Ästhetisierung des Geistigen. Sie sollte einen ›unmittelbar anschaulichen Eindruck‹ der theosophischen Inhalte vermitteln.51

Anmerkung 51:

Steiner: Eurythmie, 97 ... Ähnlich: die Eurythmie solle ›einen unmittelbaren Eindruck machen‹ (GA 277, 287 [18.8.1922]).«

Die Überprüfung der Fundstellen mit der Wortverbindung »unmittelbarer Eindruck« ergibt den Befund, dass in keiner von einer »Visualisierung der theosophischen Inhalte« die Rede ist, dass eine solche im Gegenteil explizit abgelehnt wird.

»Man kann sagen: das Künstlerische schließt immer aus das unmittelbar Vorstellungsmäßige durch Ideen, die sonst in der Erkenntnis ihre große Rolle spielen. Wo Begriffe mitspielen, da ist kein Künstlerisches vorhanden.

Sie sehen, hier schließen wir bewusst die Vorstellung aus und stellen das heraus, was wie ein Geheimnis der menschlichen Organe selbst in einer stummen Sprache, ich möchte sagen, unmittelbar im Anschauen erraten werden kann. Wenn man so in die Geheimnisse des Daseins im unmittelbaren Anschauen ohne Vermittlung der Vorstellungen eindringt, so ist das eine wirkliche Kunst.« (GA 277, Dornach 1980, 22.11.1919, S. 118-119)

»Diese paar Worte sende ich immer voraus aus dem Grunde, weil es sich hier um die Eröffnung einer neuen Kunstquelle handelt, nicht um dasjenige, was vorgeführt werden soll, zu erklären. Denn alles Künstlerische soll nicht einer Erklärung bedürfen, sondern im unmittelbaren Anschauen, für den unmittelbaren Eindruck wirken.« (GA 277, Dornach 1980, 25.01.1920, S. 134)

»Gestatten Sie, dass ich auch heute, wie immer vor diesen Vorstellungen, ein paar Worte über den Charakter unserer eurythmischen Kunst vorausschicke. Es geschieht das gewiss nicht, um eine Art Erklärung abzugeben über die eurythmische Kunst als solche; das wäre natürlich ein unkünstlerisches Beginnen, denn alles Künstlerische muss nicht durch irgendeine theoretische Anschauung wirken, sondern durch den unmittelbaren Eindruck und durch dasjenige, was sich unmittelbar in der Kunst offenbart.« (GA 277, Dornach 1980, 31.01.1920, S. 141)

»Wir können in der Gegenwart nur schwer finden – aber hier in diesem Bau ist es versucht worden –, plastisch und malerisch Form und Farbe nach dem unmittelbaren Eindruck so festzuhalten, dass man das rein Künstlerische auf sich wirken lassen kann, mit Ausschluss alles Ideellen, mit Ausschluss alles Gedanklichen. Und wenn einmal dieser Bau fertig sein wird, dann wird sich zeigen, dass hier nicht irgendwelche vertrackten mystischen Ideen durch plastische oder malerische Formen zu verkörpern gesucht worden sind ... , sondern dass unmittelbar in Formen und in Farben mit Überspringung des Vorstellungsmäßigen der Eindruck – sowohl der architektonisch-plastische, wie der plastisch-malerische – gesucht worden ist.« (GA 277, Dornach 1980, 31.01.1920, S. 149)

»Heute möchten wir vor Sie hintreten mit der Eurythmie als einer freien Kunst. Eine Vorstellung in einer solchen erklären wollen, ist ein unkünstlerisches Unternehmen. Denn eine wirkliche Kunst muss durch dasjenige wirken, was sie in unmittelbarer Anschauung offenbaren kann; und der Zuschauer kann daran nur dasjenige künstlerisch finden, was ihm in dieser unmittelbaren Anschauung restlos entgegentritt.

Es kann also nicht sein, um über die Vorstellung erklärende Worte zu sagen, warum ich diese Einleitung spreche.« (GA 277, Dornach 1980, 24.08.1921, S. 244)

Die Gebärden der Eurythmie sollen nicht allegorisch oder symbolisch gedeutet werden:

»Das soll nicht in der einzelnen Gebärde gedeutet werden. Es sollen nicht einzelne Gebärden bezogen werden auf irgend etwas Seelisches, gerade so wenig wie der einzelne Laut auf irgend etwas Seelisches bezogen werden soll unmittelbar, sondern in seiner Konfiguration, in seinem Zusammenhang mit den anderen Lauten und so weiter.

Und so ist es auch mit der Eurythmie. Sie soll durch dasjenige, was als Bewegung vorgeführt wird, ihren unmittelbaren Eindruck machen.« (GA 277, Dornach 1980, 18.08.1922, S. 286)

»Man sollte daher auch nicht sagen, die Eurythmie verstehe man erst dann, wenn man alles einzelne auf die Dichtung oder auf das Musikalische beziehen kann. So ist es nicht. Kunst muss wirken im unmittelbaren Eindrucke. Sie muss auf das Gefühl wirken. Und so kommt es auch hier an auf die Rundung oder Eckigkeit der Form, auf das Hervorgehen der einen Form aus der anderen, auf dasjenige, was sich an Bewegungen zeigt im unmittelbar künstlerischen Genießen. Nichts Spekulatives, nichts Intellektualistisches sollte eigentlich in die Eurythmie hinein.« (GA 277, Dornach 1980, 05.11.1922, S. 298)

»Jedenfalls soll man aber nicht glauben, dass es bei der Eurythmie auf irgendeine Deutung, Interpretation ankommt, sondern es handelt sich darum, dass man im unmittelbaren Anschauen empfindet, wie dasjenige, was aus der inneren harmonischen Natur des Menschen als ein Schönes, als ein Künstlerisches herauskommt, im Anschauen, nicht in der Erklärung oder in der Interpretation wirkt.« (GA 277, Dornach 1980, 16.06.1923, S. 348)

»Es ist hier versucht worden, die höchste Offenbarung der Welt, den Menschen, diesen Mikrokosmos, sichtbarlich wie einen großen Kehlkopf darzustellen. Natürlich will ich hiermit nichts anderes sagen, als wie diese Kunstform entstanden ist. So wie die Natur im Menschen selber dasjenige, was Kunst werden kann, in der Dichtung, im musikalischen Gesange schafft, so kann dasjenige, was im ganzen Menschen liegt, zur Kunst werden. Aber alles, was ich gesagt habe, soll nur die Entstehung ausdrücken. Das Künstlerische muss in der unmittelbaren Anschauung empfunden werden, und wir sind überzeugt, dass es auch empfunden werden kann.« (GA 277, Dornach 1980, 05.04.1919, S. 567)

Zander überhöht die Bewegungskunst der Eurythmie zu einer Offenbarung, ja sogar zu einem »Agens für die Erlösung der Menschheit«. Er unterstellt Steiner, dieser habe die Eurythmie religiös aufgeladen.

Auf S. 1191-92 schreibt Zander:

»Konsequenterweise versah Steiner die Eurythmie mit einem zentralen Legitimationsbegriff der clairvoyanten Erkenntnis, er bezeichnete sie – explizit und an vielen Stellen – als Offenbarung.57 Mit dieser religiösen Deutung wurde sie zum Agens für die ›Erlösung der Menschheit‹ (GA 277a, 54 [1914]).

Anmerkung 57:

Exemplarisch Steiner in: Steiner: Der künstlerische Impuls, 173 (3.5.1924)«

Abgesehen davon, dass der Begriff der »Offenbarung« kein exklusiver »Legitimationsbegriff der clairvoyanten Erkenntnis« ist – stammt er doch aus dem Kontext der Offenbarungsreligionen, wo er die historische und soziale Legitimität dieser Religionen begründen soll – , gibt es auch einen säkularisierten Begriff der Offenbarung, an den Steiner in seiner Kunsttheorie anschließt, dessen historischer Referenzpunkt für ihn Goethe ist. Oft genug zitiert er Goethes »Sprüche in Prosa«: »Das Schöne ist eine Manifestation geheimer Naturgesetze, die uns ohne dessen Erscheinung ewig wären verborgen geblieben« sowie »Wem die Natur ihr offenbares Geheimnis zu enthüllen anfängt, der empfindet eine unwiderstehliche Sehnsucht nach ihrer würdigsten Auslegerin, der Kunst.«

Ebenso oft bezieht er sich auf Goethes Ausführungen über Winckelmann, in dem er vom Schönen als einer Offenbarung dieser geheimen Naturgesetze spricht. Goethe schreibt in »Winckelmann und sein Jahrhundert«:

»Das letzte Produkt der sich immer steigernden Natur ist der schöne Mensch. Zwar kann sie ihn nur selten hervorbringen, weil ihren Ideen gar viele Bedingungen widerstreben, und selbst ihrer Allmacht ist es unmöglich, lange im  Vollkommnen zu verweilen, und dem hervorgebrachten Schönen eine Dauer zu geben. Denn genau genommen kann man sagen, es sei nur ein Augenblick, in welchem der schöne Mensch schön sei.

Dagegen tritt nun die Kunst ein, denn indem der Mensch auf den Gipfel der Natur gestellt ist, so sieht er sich wieder als eine ganze Natur an, die in sich abermals einen Gipfel hervorzubringen hat. Dazu steigert er sich, indem er sich mit allen Vollkommenheiten und Tugenden durchdringt, Wahl, Ordnung, Harmonie und Bedeutung aufruft, und sich endlich bis zur Produktion des Kunstwerkes erhebt, das neben seinen übrigen Taten und Werken einen glänzenden Platz einnimmt. Ist es einmal hervorgebracht, steht es in seiner idealen Wirklichkeit vor der Welt, so bringt es eine dauernde Wirkung, es bringt die höchste hervor: denn indem es aus den gesamten Kräften sich geistig entwickelt, so nimmt es alles herrliche, verehrungs- und liebenswürdige in sich auf und erhebt, indem es die menschliche Gestalt beseelt, den Menschen über sich selbst, schließt seinen Lebens und Tatenkreis ab und vergöttert ihn für die Gegenwart, in der das Vergangene und Zukünftige begriffen ist. Von solchen Gefühlen wurden die ergriffen, die den olympischen Jupiter erblickten, wie wir aus den Beschreibungen, Nachrichten und Zeugnissen der Alten uns entwickeln können. Der Gott war zum Menschen geworden, um den Menschen zu Gott zu erheben. Man erblickte die höchste Würde und ward für die höchste Schönheit begeistert.« (Goethe, »Winckelmann und sein Jahrhundert«, Münchner Ausgabe 1989, Bd. 6.2., S. 355)

Daneben offenbart sich für Steiner die Seele des Menschen auch im Sprechen, in allen artikulierten Äußerungen, ohne dass dieser Offenbarung ein religiöser Sinn unterlegt würde.

Auch die Belege, die Zander anführt, decken seine weitreichenden Behauptungen nicht ab.

In Anmerkung 57 verweist er auf eine Publikation »Der künstlerische Impuls«, die sich in der Gesamtausgabe nicht findet und die Rede von der »Erlösung der Menschheit« durch die Eurythmie, die angeblich in GA 277 steht, handelt zwar von einer Erlösung, aber nicht von der totalen »Erlösung der Menschheit«, sondern von der »Erlösung des Denkens«, die für Steiner darin besteht, dass »das menschliche Denken«, der menschliche Gedanke »aus seiner gegenwärtigen Erstarrung, aus seinem Eingefrorensein« durch die Eurythmie befreit wird. Der Text der betreffenden Ansprache vom 21.01.1914 lautet wie folgt:  

»Meine lieben Freunde!

Vielleicht werden Sie einen gewissen Zusammenhang herausfinden zwischen demjenigen, was ich gestern Abend von intimen Angelegenheiten des menschlichen Denkens gesagt habe, und dem, was unsere jetzige Darstellung sein soll. Eine fundamentale Forderung für die Denk- und Weltanschauungsgesundung unserer Zeit sollte gestern Abend einmal dargestellt werden: die Möglichkeit, wieder das menschliche Denken, den menschlichen Gedanken aus seiner gegenwärtigen Erstarrung, aus seinem Eingefrorensein in Bewegung zu bringen. Wenn wir in diesen Tagen öfter und mehr, als es uns recht sein konnte, genötigt waren, hinzuweisen auf die Schäden des erstarrten Denkens, so hat die Empfindung, die sich knüpft an einen solchen Hinweis, wahrhaftig nicht nötig, irgend etwas in sich zu schließen, was Hochmut oder Überhebung ist über dasjenige, was in unserer Zeit durch den erstarrten, durch den sich nicht zur Bewegung, zur Beweglichkeit aufraffenden Gedanken hereingekommen ist. Denn alles dasjenige, was wir besprechen mussten, hat eine ernste, tragische Seite.

Meine lieben Freunde! Zu den signifikantesten Symptomen unserer Zeit gehört das jetzt von mir öfter erwähnte Buch, dessen dritten Band ich hier in der Hand habe: ›Kritik der Sprache‹ von Fritz Mauthner. In diesem Buch ist, wie ich Ihnen gesagt habe, viel Treffliches enthalten, allein es ist zugleich ein Ausfluss des unendlich traurigen, erstarrten Denkens unserer Zeit. Und wie traurig es ist, das entnehmen Sie aus den wenigen Worten, die auf der allerletzten Seite des dritten Bandes, auf der letzten Seite der drei Bände stehen als das Resultat, das Ergebnis einer ersten, aber eben im tragischen Sinne unserer Zeit gehaltenen Kritik der Sprache, die doch sein sollte eine Kritik aller Weisheit und Erkenntnis:

›So steht denn die Menschheit mit ihrer unstillbaren Sehnsucht nach Erkenntnis in der Welt, ausgerüstet allein mit ihrer Sprache. Die Worte dieser Sprache sind wenig geeignet zur Mitteilung, weil Worte Erinnerungen sind, und niemals zwei Menschen die gleichen Erinnerungen haben. Die Worte der Sprache sind wenig geeignet zur Erkenntnis, weil jedes einzelne Wort umschwebt ist von den Nebentönen seiner Geschichte. Die Worte der Sprache sind endlich ungeeignet zum Eindringen in das Wesen der Wirklichkeit, weil die Worte nur Erinnerungszeichen sind für die Empfindungen unserer Sinne, und weil diese Sinne Zufallssinne sind, die von der Wirklichkeit wahrlich nicht mehr erfahren als eine Spinne von dem Palaste, in dessen Erkerlaubwerk sie ihr Netz gesponnen hat.

So muss die Menschheit ruhig daran verzweifeln, jemals die Wirklichkeit zu erkennen. Alles Philosophieren war nur das Auf und Ab zwischen wilder Verzweiflung und dem Glücke der ruhigen Illusion. Die ruhige Verzweiflung allein kann nicht ohne dabei über sich selbst zu lächeln den letzten Versuch wagen, sich das Verhältnis des Menschen zur Welt bescheidentlich klar zu machen durch Verzichten auf den Selbstbetrug, durch das Eingeständnis, dass das Wort nicht hilft, durch eine Kritik der Sprache und ihrer Geschichte. Das wäre freilich die erlösende Tat, wenn die Kritik geübt werden könnte mit dem ruhig verzweifelnden Freitode des Denkens oder Sprechens, wenn sie nicht geübt werden müsste mit scheinlebendigen Worten ... ‹

Meine lieben Freunde! Nicht von mir ausgesprochen, von dem Manne ausgesprochen, der in seiner Art sich bemüht hat, den Sinn unserer Zeit zu enträtseln, haben Sie hier die ganze Verzweiflung an dem geistigen Gehalt unserer Zeit ausgedrückt, die ganze Verzweiflung zu nichts anderem kommen zu können als zu dem Eingeständnis, ›daß das Wort nicht hilft, durch eine Kritik der Sprache und ihrer Geschichte. Das wäre freilich die erlösende Tat, wenn die Kritik geübt werden könnte mit dem ruhig verzweifelnden Freitode des Denkens oder Sprechens, wenn sie nicht geübt werden müsste mit scheinlebendigen Worten.‹

An solche Dinge musste man denken, als jetzt vor mehr als einem Jahr es möglich wurde, weil ich zunächst die geeignete Persönlichkeit in Fräulein Smits fand, den Versuch zu machen, aus dem Born des schöpferischen Gedankens der Welt heraus, aus den Quellen heraus, in denen der Logos, das Wort schöpferisch in der Welt sich betätigt, dasjenige zu suchen im menschlichen Ätherleib, woran unsere Zeit noch nicht glaubt, was auch im Äußeren aus diesem ruhenden Menschenleibe heraus jene Gebärde aufruft, welche der Ausdruck davon ist, dass nicht der Tod eingeprägt ist dem menschlichen Leibe, sondern das Leben. Die kurze Zeit, die seither verflossen ist, hat ja vielen unserer Freunde schon gezeigt, in Köln und in Leipzig, dass widerlegt werden kann der Glaube an das Nicht-Dasein des Ätherleibes, denn das, was als Geheimnis in der menschlichen Sprache ruht, so drinnen ruht, dass es Leben gewinnen kann, wenn der menschliche Leib zum Ausdruck der naturgemäßen Gesetze des menschlichen Ätherleibes wird, wurde Ihnen vorgeführt und wird Ihnen nun auch in dieser Stunde vorgeführt werden.

Sie werden sehen, dass in Bewegung übergehen kann das Erhabenste, zu dem sich menschliches Wort erheben kann. Haben Sie gestern gesehen, wie erhabenste Worte, zu denen sich irdisches Denken und irdisches Sprechen durchgerungen haben, umgesetzt werden in Bewegungen, welche in uns wirklich die Ahnung hervorrufen: Ja, es gibt eine Fortsetzung desjenigen, was die Menschheit immer in der Kunst gewollt hat, ein Sprechen des menschlichen Leibes selbst, das tief ins Herz uns dringen kann ..., so werden Sie das auch heute sehen, wo Ihnen vorgeführt werden soll aus der Sprache des menschlichen Schaffens heraus solch ein bedeutendes Gedicht wie Hölderlins ›Schicksalslied‹, wie ein anderes, das in russischer Sprache gesprochen wird, oder solche bedeutsamen Dinge, wie die drei Büßerinnen aus Goethes ›Faust‹, die Sie im Verlauf der heutigen Vorführungen sehen werden. Sie werden sogar eine Szene aus dem Evangelium sehen, von der man den Eindruck bekommen kann, wie selbst unendlich Erhabenstes wunderbar vor uns hingestellt werden kann, wenn es in jene Bewegungen überfließt, die den natürlichen Gesetzen des menschlichen Ätherleibes entsprechen.

Diejenigen unter uns, die künstlerische Sehnsuchten empfinden, mögen aus dem, was hier zunächst nur versucht ist, was wie ein Anfang hingestellt ist, den Mut und die Hoffnung schöpfen, dass die Kunst in neuer Gestalt und Metamorphose wirklich von unserer Zeit hervorgebracht werden kann. Und diejenigen, welche heute der Anschauung sind, dass in alles Leben das hineinfließen muss, was wir wollen, mögen hier ein solches Gebiet des Lebens, ein solch gesundes Gebiet des Lebens erblicken, denn nichts wäre schöner, als wenn möglichst viele Freunde, wenn recht viele Anthroposophen sich bemühen würden, dass diese mit den naturgemäßen weltgesetzlichen Bewegungen des ätherischen Menschenleibes zusammenhängenden Ausdrucksformen, die zu Tanzbewegungen werden, als ein gesundendes Element in die menschliche Kultur einströmen.

Man erlebt so viele Sehnsuchten in unserer Zeit. Was alles wird in unserer Zeit gemacht von allerlei gymnastischen Tanz- und Sprachübungen bis zu einer aussichtslosen Erneuerung der Olympischen Spiele und so weiter, alles hervorgehend aus der Unmöglichkeit des menschlichen Denkens, etwas Neues zu schaffen. Sehen wir aber in alledem die Sehnsucht nach einem lebendigen Beweise dessen, was der Mensch aus den Quellen der Ewigkeit in sich hat. Mögen unsere Anthroposophen es in rechter Stunde einsehen, dass sie hier etwas haben, was sie wirklich hinaustragen können ins Leben, was gesundend wirken wird. Schon im frühesten Kindesalter wird durch die entsprechenden Übungen der kindliche Organismus so in die naturgemäßen Bewegungen des Ätherleibes sich hineinfinden, dass er Gesundheit und gesundende Kraft für sein ganzes Leben hinüberträgt. Aber nicht nur im physischen Sinne gilt das, sondern es werden sich Menschen, die später auf die Sache zurückblicken werden, sagen müssen, dass nicht nur physische, sondern auch moralische Kräfte gewonnen werden für das Leben.

Wichtig ist es, dass die hohen und erhabenen Gedanken von früh auf in den menschlichen Ätherleib hineinstrahlen, dass der Mensch eins wird damit; dann wird sein ganzes Wesen schon vom Ätherleibe aus durchdrungen mit gesundem moralischem Fühlen und moralischem Denken. Und von dem, wie sich der Leib bewegen wird, wird ein Abdruck werden in der Zukunft dasjenige, was der Mensch mit seinem Kehlkopf sprechen wird, denn nur aus den gesund gemachten Leibern werden auch wieder schöne, gesunde Stimmen hervorgehen, und nicht mehr werden wir genötigt sein zu demjenigen, wozu wir heute gezwungen sind, zu unserem jämmerlichen Gekrächze, mit dem wir die erhabenen Wahrheiten mit verstimmten Stimmen mitteilen müssen. Endlich wird die Zeit kommen, in welcher dasjenige, was aus den ewigen Gesetzen des Äthers herausgewellt ist, übergehen wird bis in das hinein, wo es heute so wenig vorhanden ist, dass einer, der in dem heute charakterisierten Sinne es erfasst, nur zu der Aussicht auf den Freitod aller Erkenntnis kommen konnte!

Ja, auch in dieses Gebiet hinein wird sich das erstrecken, was wir suchen, in das hinein, was man den menschlichen Gedanken nennt, so dass zuletzt auch unsere Gedanken lernen, künstlerisch sich zu bewegen. Dann wird die Erlösung der Menschheit auf diesem einen Gebiet vor uns stehen. Oh, wenn uns in diesen Tagen öfters vorgeworfen worden ist, wir schlössen uns nicht in richtiger Weise dem Geiste an, der aus der tiefsten Erkenntnisohnmacht unserer Zeit bis zur Krankhaftigkeit das unendlich Traurige, das Erstarrte alles Denkens und Empfindens unserer Zeit gegenüber aller Philosophie und Weltanschauung in sich selber erlebt hat, dass wir nicht richtig im Nietzscheschen Sinne Nietzsche verständen, Nietzsche, von dem wir vor allen Dingen lernen wollen, nicht wie man es erreichen kann, sondern wie man verzweifeln kann, krank werden kann an Philosophie und Weltanschauung der Gegenwart, bis zu dem Grade, bis zu dem Nietzsche krank wurde -, dann wollen wir aber auch hinschauen auf ihn, nicht da, wo seine Gedanken ihre ja noch von der Gegenwart infizierte Form angenommen haben, sondern hinschauen auf das, was er hinzustellen versuchte aus seiner unklaren Sehnsucht heraus, die zugleich aber doch auch die Sehnsucht der Zeit ist. Demjenigen in unserer Zeit, was zu dem furchtbaren Bild des  Freitodes kommt, versuchte er gegenüberzustellen in seinem «Also sprach Zarathustra » sein Ideal. Nietzsche versuchte hinzustellen abgesehen von allen Gedanken, die darin stehen das  Bestreben, sich in den Rhythmus,  in  die  Bewegungen  des  Zarathustra  zu  versetzen, in den ganzen künstlerischen Bewegungsklang und -sang. In all das, was darinnen harmonisierend und melodisierend ist, versuchen Sie nun, sich hinein zu versetzen, und dann zu fühlen, was in Nietzsche lebte, als er das eine Wort empfand, das in ihm lebte, in dem, was er nicht konnte, in dem, was er wollte, wonach er bis zur Krankheit sich sehnte und was sich ihm auspresste in der Empfindung : Zarathustra. Ihn stellt er als Ideal des Erkennenden hin, ihn, der in solch musikalisch-tanzhafter Weise versuchte, die menschlichen Begriffe und Ideen und Vorstellungen wieder zu beleben. Und dann atmete er das aus, was da in seiner starken Sehnsucht lebte: Zarathustra ist ein Tänzer.

Vielleicht ist das auch ein Verständnis, das man diesem Geiste entgegenbringt, wenn man versucht, unsere Weltanschauung so ins Leben einzuführen, wie wir versuchen wollen mit demjenigen, was heute den Beginn unserer Auseinandersetzungen ausmacht.«

GA 277a, Dornach 1998, S. 53 f.