Wie zwanghaft Zanders Suche nach Quellen und Vorbildern ist, zeigt sich auch an seiner Behandlung der Eurythmie. Auch hier postuliert er mitunter Vorbilder, die gar nicht existieren.

Auf S. 1208 schreibt Zander:

»Bei anderen Bezügen auf die Antike sind die Quellen bislang nicht aufgedeckt, etwa von einer Art Kriegertanz in einem Dionysostempel, den Steiner im ersten Eurythmiekurs 1912 ... beschrieb ...

Steiner beschrieb die hellseherisch geschaute Szene detailgetreu, wie in einem Augenzeugenbericht oder in einem historischen Roman. Die Vorlage ist unbekannt, könnte aber über die Theosophie vermittelt sein.162«

In Anmerkung 162 verweist er auf Annie Besants »Esoterisches Christentum«, in dem die Verwendung von Thyrsusstäben in den Mysterien erwähnt werde, muss aber bekennen: »Die Lautäußerungen fehlen allerdings bei Besant.«

Zander kann also keine Quelle für Steiners Beschreibung finden, von der er selbst sagt, sie sei hellseherisch geschaut. Besant ist als Vorlage untauglich, weil bei ihr weder Tänze noch die von Steiner beschrieben »Lautäußerungen« vorkommen.

Aber wenn Zander von hellseherischer Schau spricht, heißt dies nicht, dass er deren mögliche Existenz zugesteht. Deswegen postuliert er munter eine »Vorlage«, die existieren muss, auch wenn er sie nicht kennt. Dieser Zwang, Vorlagen für alles und jedes zu postulieren, was sich bei Steiner findet, verdankt sich der ideologischen Grundentscheidung Zanders, die Möglichkeit einer geistigen Schau als Quelle originärer Erkenntnis radikal zu negieren, die wiederum die Notwendigkeit nach sich zieht, sämtliche Inhalte der Anthroposophie aus bereits vorhandenen Inhalten des Diesseits abzuleiten.

Wie Zander die historischen Tatsachen zurechtbiegt, kann man sehr gut an seiner Paraphrase und Interpretation einer Episode sehen, die Lory Maier-Smits aus dem Bottminger Eurythmiekurs 1912 berichtet.

Auf. S. 1215 schreibt Zander:

»Im theosophischen Milieu war Fuller bekannt. Steiner frug im September 1912 Lory Smits, was ›Serpentin-Tänze‹ seien, worauf sie, ohne einen Namen zu nennen, auf ›eine Frau in Amerika‹ verwies, also eindeutig, wie die Serpentin-Terminologie belegt, Loïe Fuller im Hinterkopf hatte. Steiner aber bog diesen Bezug ›lachend‹ ab und meinte, die von ihm gemeinten ›uralten‹ Serpentin-Tänze stammten ›ursprünglich aus den griechischen Tempeln und Mysterien‹ oder aus ›noch älteren Tempeln‹ und seien ›sakrale Tänze‹ (GA 277a2,41).

Dieser Gesprächsfetzen ist für die historische Situierung Steiners vor [sic!] großer Bedeutung. Er dokumentiert, dass Steiner gerade dabei war, sich über den Bereich des neueren Tanzes zu informieren und vom Begriff der ›Serpentinen‹, den Fuller besetzt und auch patentiert hatte, keine Kenntnis besaß, im Gegensatz zu seinem Umfeld. Seine Reaktion war bezeichnend: Er kaschierte sein Unwissen mit der Konstruktion einer esoterischen Tradition und der Behauptung übersinnlicher Einsicht, mit der er Fullers Tanzfigur zu überbieten trachtete. Augenblicklich ist unklar, wie viel Steiner und die ersten Eurythmistinnen von Fuller wussten. Ob Steiner, um Ähnlichkeiten wissend oder sie ahnend, den Begriff der Serpentinen mit einem ›griechischen‹ Überbau neu besetzte, bleibt Spekulation.

Von der Lichtregie und den Gewandformen her hätte er jedenfalls allen Grund zu einer Abgrenzung gehabt. Diese Übereinstimmungen bleiben frappierend, ohne dass sich augenblicklich verlässliche Aussagen über nähere Beziehungen machen ließen.«

Im Original von Lory Maier-Smits liest sich diese Episode wie folgt:

»Am nächsten Tag fragte Dr. Steiner zuerst: ›Wissen Sie, was Serpentin-Tänze sind?‹ Etwas erstaunt, aber doch sehr eifrig – ich hatte mich ja in der Zwischenzeit möglichst unterrichtet über die verschiedensten Richtungen, auch des modernen Kunsttanzes – bejahte ich seine Frage. Es gäbe in Amerika eine Frau, deren Tänze so genannt würden. Sie sei in unendlich viele Schleier gehüllt, die sie unaufhörlich in serpentinartige, wogende Bewegungen versetze, und dazu noch von allen Seiten mit immer anderen Farben beleuchtet würde. Herr Doktor hörte meiner stolzen Erklärung immer erstaunter und amüsierter zu, lachte zum Schluss ganz laut und sagte: ›Die habe ich aber nicht gemeint!‹

Er wolle mir nun von ganz anderen Serpentin-Tänzen sprechen, von uralten, die ursprünglich aus den griechischen Tempeln und Mysterien stammten. Er zeichnete dann die erste große Serpentine auf, die wirken könne gegen den Egoismus bei vollblütigen Menschen, und die mit zwei verschiedenen Bewegungen dem Charakter des Gedichtes entsprechend enden könnte.

Die erste – auswickelnde – Spirale von 1912 ↓

In der zweiten großen Serpentine, die von außen nach innen getanzt werden sollte und als starke Befestigung des Ich sehr gut für bleichsüchtige Personen sei, gab er zwei verschiedene Haltungen als Abschluss. Die erste: äu – mit in die Hüften gestemmten Händen – für eine heitere Serpentine. Unter Umständen kann man es noch mit einem kräftigen Sprung, auch äu, in die Mitte der Serpentine verbinden. Die Abschlussgebärde für die ernste, feierliche Art sollte das eu sein – mit am Herzen gelegten Händen. ›Aber, sehen Sie, solche ursprünglich tief bedeutsamen Bewegungen wie diese mit am Herzen gelegten Händen als Abschluss einer einwickelnden Serpentine, können Sie heute trivial verballhornisiert wiederfinden, wenn eine Balletteuse nach einem wilden Schlusswirbel – Serpentine! – plötzlich in der Mitte, möglichst auf einem Bein stehenbleibt mit am Mund gelegten Händen, um Kusshändchen ins Publikum zu werfen. Da ist eine richtige Bewegung an die falsche Stelle gerutscht!‹

In andern Zusammenhängen, also nicht als Abschluss einer Serpentine, könne eu auch heißen: den andern meinen, auf ihn zeigend. – Erst meinen, früher hieß es minnen, und dann zeigen.

Er sprach dann noch von den Serpentin-Tänzen, die aus griechischen und noch älteren Tempeln stammen, von ›sakralen Tänzen‹. Da sollte ein Einzelner oder ein Paar oder viele Paare – ganze Alleen von Serpentinen könnte man aufstellen – abwechselnd aus- und einwickelnde Serpentinen schreiten, verbunden mit Andachtsbewegungen der Hände.«

GA 277a, Dornach 1998, S. 41 (Achter Tag, 23. September 1912)

Wie unschwer zu erkennen, vertauscht Zander in seiner Paraphrase der von Maier-Smits berichteten Episode die Rollen. Er erweckt, entgegen der Darstellung der Erzählerin, den Eindruck, Steiner habe keine Ahnung gehabt, was Serpentinen-Tänze seien und habe sich bei jener über deren Bedeutung erkundigt.

Die Erzählung von Maier-Smits ist ein klassisches Beispiel einer Lehrerzählung, wie man sie in vielen religiösen und spirituellen Traditionen findet, nach dem Muster: Lehrer frägt, vorwitziger Schüler gibt sein eingebildetes oder angelesenes Wissen zum Besten, Lehrer belehrt über die wahre Bedeutung dieses Wissens.

Davon, dass Steiner sein »Unwissen kaschiert« habe, ist in Maier-Smits Schilderung natürlich nirgends die Rede. Es trifft auch nicht zu, dass »augenblicklich unklar« ist (eine Formel, die Zander gerne verwendet, um sein eigenes Unwissen oder ein vorgebliches Unwissen zu kaschieren), »wie viel Steiner und die ersten Eurythmistinnen von Fuller wussten«, denn ganz offensichtlich wusste Steiner von Fuller, sonst hätte er Maier-Smits ja wohl kaum gefragt: »Wissen Sie, was Serpentinen-Tänze sind?« (also nicht: »Können Sie mir erklären, was Serpentinen-Tänze sind?«)– und Lory Maier-Smits wusste ebenfalls von ihnen, sagt sie doch ausdrücklich, sie habe sich »in der Zwischenzeit möglichst unterrichtet über die verschiedensten Richtungen, auch des modernen Kunsttanzes.« Sie fährt fort: »Es gäbe in Amerika eine Frau, deren Tänze so genannt würden. Sie sei in unendlich viele Schleier gehüllt, die sie unaufhörlich in serpentinartige, wogende Bewegungen versetze, und dazu noch von allen Seiten mit immer anderen Farben beleuchtet würde.«

Damit verweist sie eindeutig auf Loïe Fuller, die mit diesen wenigen Worten treffend charakterisiert ist. Nun fährt sie fort: »Herr Doktor hörte meiner stolzen Erklärung immer erstaunter und amüsierter zu, lachte zum Schluss ganz laut und sagte: ›Die habe ich aber nicht gemeint!‹«, was nur so zu verstehen ist, dass Steiner Fuller ebenfalls kannte. Dass er mit seiner Frage in eine ganz andere Richtung zielte, ist ebenfalls offensichtlich. Er nutzte sie als Ausgangspunkt, um das choreografische Element der »einwickelnden« und »auswickelnden Spirale« einzuführen, die in der Eurythmie bis heute eine große Bedeutung haben.

Dass Spiralen uralte sakrale Tanzformen sind, darüber gibt es keinen Zweifel. Es hätte auf Seiten Zanders keiner umfangreichen Recherchen bedurft, um dies festzustellen. Aber Zander sucht ja grundsätzlich nicht nach einer möglichen Bestätigung irgendwelcher Behauptungen Steiners, sondern nur nach möglichen Widerlegungen. Was die ein- und auswickelnden Spiralen anbetrifft, so sind diese weltweit, vor allem in Europa und im Vorderen Orient verbreitet. Sie finden sich in der prähistorischen Welt von Westeuropa bis Russland, von Nordeuropa bis in den Mittelmeerraum. Seit dem 6. Jahrtausend vor Christus ist die Spirale in Mitteleuropa archäologisch nachgewiesen, doch das Symbol wird vermutlich seit der Eiszeit verwendet. Schon um 22.000 vor Christus taucht die Spirale in Felszeichnungen, Felsritzungen und an Statuetten auf. An Megalithsteinen des Neolithikums ist sie ebenso anzutreffen wie auf Kult- und Gebrauchsgegenständen der Bronzezeit, sowie in der kretischen und griechischen Antike. Die Spirale ist auf den Göttinnen-Tempeln auf Malta zu sehen. Auch in Catal Hüjük/Anatolien (um 9.000 vor Christus) wurde auf einem Gipsrelief eine Göttin mit aufgemalter Spirale auf ihrem Körper gefunden. Spiralen sind im außereuropäischen Kulturraum, in Asien, Ozeanien und Amerika ebenso verbreitet. Höchstwahrscheinlich bildet sie ursprünglich Bewegungen von Himmelskörpern oder des Astralleibes ab.

Ein- und auswickelnde Spiralen in Hagar Qim, Malta, 3600-3200 v.Chr. ↓

Zander behauptet, Steiner sei mit seiner Tätigkeit für die »Deutsche Wochenschrift« 1888 in ein »massiv deutschnationales Fahrwasser« geraten. Er habe einen »militanten Kulturimperialismus« gegenüber »nichtdeutschen Ethnien« vertreten.

Zander schreibt auf S. 1243:

»Steiner geriet mit der Tätigkeit in der Deutschen Wochenschrift in ein massiv deutschnationales Fahrwasser. Offenbar hatte er mit der Zuweisung unter ›deutschnational‹ keine Probleme und äußerte sich entsprechend. So propagierte er ›die Kulturmission, die dem deutschen Volke in Österreich obliegt‹ (GA 31,112) und verband damit einen verbal militanten Kulturimperialismus gegenüber nichtdeutschen Ethnien:

›Wenn die Völker Österreichs wetteifern wollen mit den Deutschen, dann müssen sie vor allem den Entwicklungsprozess nachholen, den jene durchgemacht haben, sie müssen sich die deutsche Kultur in deutscher Sprache … aneignen« (ebd., 112 f.); ›die Feindseligkeit der slavischen Nationen gegenüber der deutschen Bildung‹ (ebd., 117) sei aufzugeben.

Steiner zeigte damit einen unter den Deutschen des Habsburgerreichs nicht seltenen Nationalismus.«

Leider versäumt es Zander, die sonst übliche Kontextualisierung vorzunehmen. Er hätte darauf hinweisen können, dass Steiner in der »Deutschen Wochenschrift« mitzuarbeiten begann, als der Kampf der Sprachnationen im habsburgischen Vielvölkerreich einem bis dahin nicht erlebten Höhepunkt zustrebte. Dieser Kampf der verschiedenen »Nationen« konzentrierte sich vor allem auf den Status der Sprachen und Bildungseinrichtungen in den jeweiligen Verwaltungsgebieten. In diese Auseinandersetzungen mischten sich klerikale und ständische Standpunkte. Das österreichische Parlament war ein Tummelplatz nationaler und sozialer Partikularinteressen, dessen Arbeit durch nicht endenwollende polemische Redeschlachten und Obstruktion (Verhinderung von Abstimmungen) gekennzeichnet war. Die politischen Positionen wurden teilweise auch handgreiflich auf den Straßen ausgetragen.

Angesichts dieser historischen Gegebenheiten müssten Steiners Äußerungen zu solchen anderer Politiker dieser Zeit ins Verhältnis gesetzt werden, um ihre spezifische Färbung innerhalb eines ganzen Spektrums politischer und polemischer Stile einschätzen zu können. Eine solche Kontextualisierung unterlässt Zander, vermutlich im Vertrauen darauf, dass solche Schlagworte wie »deutschnational« und »kulturimperialistisch« sowie aus dem Zusammenhang gerissene, verkürzte Zitate ihre Wirkung auf den Leser nicht verfehlen.

Zander verfehlt aber auch noch in einem anderen Sinn die nötige Kontextualisierung: jene mit Steiners eigenem Denken nämlich. Seine Auswahl aus den von Steiner veröffentlichten Artikeln aus dem Jahr 1888 ist höchst einseitig und greift nur jene Reizthemen heraus, die geeignet sind, Steiner in den Augen einer politisch korrekten Öffentlichkeit anzuschwärzen: Nationalismus, Kulturimperialismus, Antisemitismus.

Zander zitiert aus einem Aufsatz mit dem Titel »Die deutschnationale Sache in Österreich. Die parlamentarische Vertretung der Deutschen.«

Es ist der erste eigenständige Aufsatz, den Steiner für die Deutsche Wochenschrift verfasst hat. In diesem ersten Aufsatz übt Steiner eine fundamentale Kritik an den Parlamentariern der deutschnationalen Partei und wirft ihnen – also den Vertretern der »deutschen Sache« im Parlament – vor, sie hätten »die Kulturmission, die dem deutschen Volk in Österreich« obliege, »nie begriffen«, ihnen – also den Vertretern dieser Partei – fehle jegliches Verständnis für die kulturelle Aufgabe des deutschen Geistes innerhalb Österreichs. Steiner hat also seinen sogenannten Kulturimperialismus gegen die Vertreter der deutschnationalen Partei vorgebracht, denen er einen gänzlichen Ideenmangel und eine kleinliche Kirchturmpolitik vorhält.

Allein schon, wenn man die ganze Passage zur Kenntnis nimmt, die Zander nur verstümmelt zitiert, gewinnt man einen anderen Eindruck, als Zander ihn zu insinuieren sucht.

Sie lautet:

»Wir verkennen nicht, welche Summe von Geist in dieser Partei ruht, wir wissen ganz gut, dass die sachliche Arbeit des Parlaments zumeist von ihr besorgt wird; aber es kann kein Zweifel darüber bestehen, dass sie die Kulturmission, die dem deutschen Volke in Österreich obliegt, nie begriffen hat. Um nur eines anzuführen: wie kläglich ist es, wenn für die deutsche Staatssprache immer und immer wieder nichts anderes als reine Nützlichkeitsgründe (für den amtlichen Verkehr usw.) vorgebracht werden. Für den Umstand, dass die nicht-deutschen Völker Österreichs, um zu jener Bildungshöhe zu kommen, die eine notwendige Forderung der Neuzeit ist, das in sich aufnehmen müssen, was deutscher Geist und deutsche Arbeit geschaffen haben, und dass die Bildungshöhe eines Volkes in keiner andern als in der Sprache des betreffenden Volkes erreicht werden kann, dafür fehlt dieser Partei das Verständnis. Was keine Vergangenheit hat, hat auch keine Zukunft. Wenn die Völker Österreichs wetteifern wollen mit den Deutschen, dann müssen sie vor allem den Entwicklungsprozess nachholen, den jene durchgemacht haben, sie müssen sich die deutsche Kultur in deutscher Sprache ebenso aneignen, wie es die Römer mit der griechischen Bildung in griechischer, die Deutschen mit der lateinischen in lateinischer Sprache getan haben.«

(GA 31, Dornach 1989, S. 112-113 f.)

Steiner fährt in seinem Aufsatz damit fort, die führenden Vertreter der deutschnationalen Partei zu kritisieren, um mit folgenden Überlegungen zu schließen:

»Wir haben heute Herbstianer, Plenerianer, Sturmianer, Steinwendianer, Schönerianer usw., die alle wohl wissen, was sie trennt, die aber gar nicht beachten, was sie eint. Das kommt daher, weil man es durchaus nicht versteht, die persönlichen den sachlichen Interessen unterzuordnen. Man weiß nicht, dass man ein Staatsmann nicht wird durch die Aufstellung von rein subjektiven, willkürlichen Ansichten, sondern dadurch, dass man sich in den Dienst einer großen Idee stellt, die wohl geeignet ist, die Zeit zu beherrschen. Der Mann hat der Idee, nicht die Idee dem Manne zu dienen. Sonst wird man einfach von der geschichtlichen Entwicklung als eine Null hinweggefegt, denn zuletzt erweisen sich die Ideen doch immer stärker als die Menschen. Der deutschen Partei fehlt jener große Zug, der allein auf den Gegner die rechte Wirkung ausüben könnte.«

(GA 31, Dornach 1989, S. 115 f.)

Steiner nimmt also als Redakteur der Deutschen Wochenschrift die erste Gelegenheit – den ersten eigenständigen Aufsatz, den er in ihr veröffentlicht – wahr, um die deutsche »nationale« Sache von einer nationalen in eine Kulturaufgabe umzudefinieren und den politischen Vertretern der deutschen Interessen – von denen er namentlich die »Herbstianer, Plenerianer, Sturmianer, Steinwendianer, Schönerianer« erwähnt – zu attestieren, sie stellten persönliche Vorlieben über die große Idee, um die es bei der »Kulturmission« der Deutschen in Österreich gehe.

Und er benutzt die zweite Gelegenheit – den zweiten Aufsatz, den er in der Deutschen Wochenschrift publiziert – um für die Umgestaltung des Erziehungs- und Unterrichtswesens im österreichischen Kaiserreich im Sinne eines ethischen Individualismus zu plädieren, der alles auf die freie Einzelpersönlichkeit abstellt und nichts von einer obrigkeitsstaatlichen Bürokratie erwartet . (Im Aufsatz »Das deutsche Unterrichtswesen [in Österreich] und Herr von Gautsch«, der in der zweiten von ihm redigierten Nummer der Deutschen Wochenschrift erschienen ist, in: Deutsche Wochenschrift, 1888, VI. Jg., Nr. 23, abgedruckt in GA 31, Dornach 1989, S. 121 f.)

Die Umbildung der Lehrerbildungsanstalten »in methodische Drill-Institute«, so Steiner in diesem Aufsatz, mache die Ausbildung der Individualität schlicht unmöglich, wo doch das Gedeihen des Unterrichtswesens allein von der »Pflege der Individualitäten« abhänge. Deswegen lobt er auch den klerikalen (sic!) Unterrichtsminister Thun, der eben diese Individualität – selbst entgegen  seinem klerikalen Parteiinteresse – durch seine Berufungspolitik gefördert habe, auch wenn er die Bildung des Volkes zugunsten der höheren Lehranstalten vernachlässigt habe.

Der künftige Lehrer solle, so Steiner in diesem Aufsatz, die »Ziele der Kulturentwicklung seines Volkes« kennen. Er bedürfe zu diesem Zweck der historischen und ästhetischen Bildung. Er solle in die »Geistesentwicklung der Menschheit« eingeführt werden, an der er mitzuarbeiten habe. »Mechanische Wirksamkeit« nach ministeriellen Verordnungen sei der »Tod« aller Pädagogik. Der Lehrer könne nur auf die »nötige Geisteshöhe« gebracht werden, wenn er sich an die Wissenschaften anschließe und mit der Kunst bekannt mache, denn dadurch lerne er die verschiedenen Richtungen und Entwicklungsmöglichkeiten des menschlichen Geistes kennen.

In sein Zitat fügt Zander ein Zitat-Fragment aus einem anderen Artikel Steiners ein, das eine »Feindseligkeit der slavischen Nationen gegenüber der deutschen Bildung« erwähnt.

Dieser Artikel stellt den zweiten Teil des Aufsatzes »Die deutschnationale Sache in Österreich« dar und trägt den Untertitel »Die deutschen Klerikalen und ihre Freunde«. In diesem polemisiert Steiner, wie Zander richtig bemerkt, gegen das Ministerium Taaffe (Die deutschnationale Sache in Österreich mit dem Untertitel Die deutschen Klerikalen und ihre Freunde, in: Deutsche Wochenschrift, 1888, VI. Jg., Nr. 25, abgedruckt in GA 31, Dornach 1989, S. 116 f.), aber nicht, weil ihm dieses zu wenig national gewesen wäre, sondern weil es sich durch seine Ideenlosigkeit auszeichne und unter Politik bloß machiavellistische Machtarithmetik und Diplomatie um des Machterhalts willen verstehe. Es ist vielleicht hilfreich, hier Urteile dritter Historiker über Taaffe zur Kenntnis zu nehmen.

Der amerikanische Historiker Robert A. Kann schreibt über Taaffe: »Er nannte seine Politik eine Politik des ›Forstwurstelns‹, ein ungemein anschaulicher Ausdruck, der ein Fortschleppen von einem Tag zum andern, den Abschluss von Kompromissen über alles und jedes und eine Haltung bezeichnet, die dieses Gleichgewicht niemals durch erzwungene, weitreichende Reformpläne stören will. Diese Politik  des ›Forstwurstelns‹, die mit dem anderen Grundprinzip der österreichischen Regierungspolitik übereinstimmte, dass provisorische Regelungen die dauerhaftesten sind, trägt zu der Erklärung bei, wieso sich das Taaffesche Regime volle vierzehn Jahre halten konnte.« (Robert A. Kann, Das Nationalitätenproblem der Habsburgermonarchie. Band 1. Das Reich und die Völker, Graz-Köln 1964,  S. 98).

Etwas weniger freundlich – von einem konservativen Standpunkt aus – beurteilt Viktor Bibl 1924 die Wirkungen der Taaffeschen Politik: »Er [Taaffe] hatte geglaubt, durch das gegenseitige Ausspielen der Nationalitäten alle in der Hand zu haben, indes erging es ihm wie dem Zauberlehrling, der die Geister, die er rief, nicht mehr zu bannen vermochte. Für jeden halbwegs gereiften Politiker musste es klar sein, dass die Tschechen in ihrem nationalen Größenwahn und Fanatismus mit dem Erreichten sich nicht zufrieden geben würden. Sie wollten die volle staatliche Selbständigkeit Böhmens, und wenn sie diese erlangt hätten, die Personalunion, die bekanntlich, wie Plener sagt, gewöhnlich zur völligen Trennung führt. Es war ihnen nicht um die Gleichberechtigung mit den Deutschen zu tun, sondern um die volle Herrschaft ...« (Viktor Bibl, Der Zerfall Österreichs, Bd. II, Von Revolution zu Revolution, Wien 1924, S. 377.)

Nicht weniger schmeichelhaft ist das Fazit, das Bibl zieht: »Die traurige Hinterlassenschaft der vierzehnjährigen Ära Taaffe war eine Verschärfung des Völkerstreits, war die völlige Zerrüttung des Staatswesens. Minister kommen und gehen, das Chaos bleibt ... Wäre Graf Taaffe nicht bald nach seinem Sturz verschieden, so hätte er die Genugtuung gehabt, zu sehen, wie sein System des ›Fortwurstelns‹ das einzige Bleibende in der Erscheinungen Flucht darstellte. Das Hauptrequisit seiner Regierungskunst, die Slawisierung Österreichs, das gegenseitige Ausspielen der Nationen und sein Gedanke einer Wahlreform verschwanden nicht mehr aus dem Gesichtskreis seiner Nachfolger.« (Ebenda, S. 380)

Kehren wir zu Steiners Aufsatz zurück. Den Deutschen in Österreich, so führt Steiner aus, dürfe es nicht um ihr »liebes nationales Ich« gehen, sie hätten nicht einen leeren Namen, sondern einen Inhalt zu verteidigen, nämlich die gegenwärtig erreichte Bildungshöhe der Humanität. Nicht auf das, was sie durch Geburt, also durch Vererbung und damit Rasse, geworden seien, komme es an, sondern allein auf den geistigen Inhalt des nationalen Selbstes, der in der Bildungshöhe der Zeit bestehe.

Steiner fordert also von den Vertretern der deutschen Sache in Österreich erneut, sie sollten sich auf die Bildungshöhe der Zeit heben und diese vertreten. Worin diese Bildungshöhe seiner Ansicht nach bestand, hatte er im zuvor erschienenen Aufsatz über das Unterrichtswesen dargelegt.

Steiner distanziert sich mit solchen Äußerungen von einem emotional aufgeladenen Nationalismus, den er in der »Feindseligkeit der slavischen Nationen gegenüber der deutschen Bildung« wirksam sieht. Gleichzeitig grenzt er sich auch vom deutschen Nationalismus ab, wenn er das »Wesen der deutschen Nation« in deren Interesse für die »Errungenschaften unserer europäischen [nicht deutschen] Kultur der letzten Jahrhunderte« setzt (S. 117), diese Kultur als das Ergebnis einer langen Entwicklungsgeschichte des Geistes charakterisiert und den Vertretern der »deutschen Sache« die Aufgabe zuweist, diese Kultur überhaupt erst einmal zu verstehen und produktiv fortzubilden. Im slavischen Nationalismus sieht Steiner 1888 dagegen dieselbe Feindseligkeit gegen den deutschen Geist wirksam, wie im Katholizismus, dessen freiheits- und individualitätsfeindlichen Autoritarismus er ebenfalls ablehnt.

Gänzlich ignoriert Zander einen weiteren werkimmanenten Kontext. Bereits 1886 hatte Steiner in seinen »Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung« verdeutlicht, dass er in der Freiheit die schlechthin höchste Idee sah, zu der es die Geistesentwicklung der Menschheit bisher gebracht hatte.

In einem weiteren Aufsatz, der am 13. Juli 1888, in der Deutschen Wochenschrift abgedruckt wurde, erklärt er nun das »Verständnis« dieser Freiheit zum alleinigen Maßstab des kulturellen Fortschritts.

In diesem Aufsatz mit dem Titel »Papsttum und Liberalismus« schreibt Steiner:

»Das Barometer des Fortschritts in der Entwicklung der Menschheit ist nämlich in der Tat die Auffassung, die man von der Freiheit hat, und die praktische Realisierung dieser Auffassung«.

Damit spricht Steiner seine Grundorientierung aus, die unmittelbar an Hegels Auffassung vom Wesen der Menschheitsgeschichte anklingt. Für Hegel war die »Weltgeschichte der Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit«, und der Endzweck dieser Geschichte nicht nur das Bewusstsein, sondern die Wirklichkeit der Freiheit des Geistes (Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Philosophie der Geschichte, Stuttgart 1961, S. 61.).

In Steiners Artikel findet sich ein unzweideutiges Bekenntnis »zum liberalen Prinzip als dem Kernpunkt der modernen Kultur überhaupt.« Steiner schreibt im Anschluss an den eben zitierten Satz:

»Unserer Überzeugung nach hat die neueste Zeit in dieser Auffassung [von der Freiheit] einen Fortschritt zu verzeichnen, der ebenso bedeutsam ist, wie jener war, den die Lehren Christi bewirkten: ›es sei nicht Jude, noch Grieche, noch Barbar, noch Skythe, sondern alle seien Brüder in Christo‹. Wie damals die Gleichwertigkeit aller Menschen vor Gott und ihresgleichen anerkannt wurde, so bemächtigte sich in dem letzten Jahrhundert immer mehr die Überzeugung der Menschen, dass nicht in der Unterwerfung unter die Gebote einer äußeren Autorität unsere Aufgabe bestehen könne, dass alles, was wir glauben, dass die Richtschnur unseres Handelns lediglich aus dem Lichte der Vernunft in unserem eigenen Innern entstammen solle. Nur das für wahr halten, wozu uns unser eigenes Denken zwingt, nur in solchen gesellschaftlichen und staatlichen Formen sich bewegen, die wir uns selbst geben, das ist der große Grundsatz der Zeit.« (GA 31, Gesammelte Aufsätze zur Kultur- und Zeitgeschichte, S. 134-139)

Diese Fundstelle ist kaum zu übertreffen, denn sie vereinigt

– ein Plädoyer für das Christentum, dessen Wesen nach Steiners Auffassung in der Überwindung des Rassenprinzips zugunsten des Prinzips von der Gleichwertigkeit aller Menschen vor Gott und ihresgleichen besteht,

– mit der Würdigung der sittlichen Autonomie als des höchsten Grades der Moralentwicklung

– und erhebt zugleich das Prinzip der Demokratie auf die gleiche Bedeutungs- und Geltungshöhe wie die christliche Revolution.

Dass sich aber in Steiners Verständnis der politischen Freiheit, deren Idee er als die größte Errungenschaft der Neuzeit betrachtet, wiederum sein individualistischer Anarchismus verbirgt, dürfte nicht überraschen. Immerhin ist es Steiner gelungen, sich in dieser kurzen Passage seiner angeblich deutschnationalen, volkstümelnden Beiträge zur Wochenschrift zu den Ideen Rousseaus und Montesquieus von der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit und zum Antirassismus zu bekennen.

Die Zeitung wurde am selben Tag wegen kritischer Äußerungen des späteren Sozialdemokraten Pernerstorfer über das österreichische Schulwesen und die Unterrichtsverwaltung von den Behörden konfisziert. Pernerstorfer hatte gegenüber dem völkisch-deutschnationalen Schönerer bereits 1883 erklärt, dass dessen Antisemitismus für ihn inakzeptabel sei: »Ich fühle mich verpflichtet, zum wiederholten Mal zu erklären, dass der Antisemitismus als Teil des Partei-Programms für mich inakzeptabel ist. Dieser Kampf ... verspricht nur, die politische Atmosphäre zu vergiften.« (Zitiert nach: Andrew G. Whiteside, Georg Ritter von Schönerer, Alldeutschland und sein Prophet, Graz 1981, S. 94, Titel des amerikanischen Originals: The Socialism of Fools. Georg Ritter von Schönerer and Austrian Pan-Germanism, Berkeley 1975.)

Ebenso vergiftend auf die politische Atmosphäre wirkte Karl Lueger, der ehemalige Mitarbeiter Schönerers, der Führer der Christlichsozialen Partei und langjährige Bürgermeister Wiens, der zwar kein Rassenantisemit, aber ein militanter Antisemit war. Über ihn schreibt Brigitte Hamann: »Der Antisemitismus, den Lueger über Jahrzehnte als hypnotischer Redner in die ihn verehrenden Volksmassen brachte, die ordinären Entgleisungen seiner Parteigenossen und geistlichen Freunde, die er unwidersprochen ließ, vergifteten die Atmosphäre. Auch wenn keine Juden ermordet wurden, verrohten die Menschen, die von ihrem verehrten Idol in alten Vorurteilen bestätigt wurden.« (Hamann, Hitlers Wien, S. 418.)

Angesichts all dieser Kontexte ist es angebracht, Steiner nicht wie Zander dies tut, als deutschen Nationalisten, Kulturimperialisten oder Antisemiten zu charakterisieren, sondern als Liberalen, der inmitten aufgepeitschter nationaler Emotionen die Fahne des Kulturfortschritts und der Freiheit hochhielt.

Als Verfälschung durch Untertreibung kann man auch die Behandlung bezeichnen, die Zander dem Thema »individualistischer Anarchismus« angedeihen lässt.

Auf S. 1245 schreibt Zander:

»Nach Steiners Ausstieg aus der Goethephilologie finden sich in seinen »wilden« Berliner Jahren kurz vor 1900 konfessorische Aussagen zum Anarchismus ... Dabei kritisierte er 1898 ›den Staat‹, der dem ›völlig freien Konkurrenzkampfe‹ der ›Individuen‹ im Wege stehe, distanzierte sich aber von der gewaltsamen Durchsetzung der Anarchie (GA 39,371; vgl. auch 193). Steiners anarchistische Phase blieb eine literarische Übung, die aber einmal mehr sein Unverhältnis gegenüber politischen Institution [sic!] durchblicken läßt. In manchen Schärfen war sie jedoch auch Ausdruck seiner midlife-crisis.«

Steiner veröffentlichte im »Magazin für Literatur« 1898 einen offenen Brief an John Henry Mackay, in dem er dokumentierte, dass er sich zumindest zwischen 1892 und 1898 als individualistischen Anarchisten verstand und dass seine »Philosophie der Freiheit«, nach seiner eigenen Aussage die philosophische »Grundlegung der Anthroposophie«, ein Werk des »individualistischen Anarchismus« war. Demgegenüber von einer »literarischen Übung« zu sprechen, ist eine maßlose Untertreibung.

»Lieber Herr Mackay!

Vor vier Jahren, nach dem Erscheinen meiner ›Philosophie der Freiheit‹, haben Sie mir Ihre Zustimmung zu meiner Ideenrichtung ausgesprochen. Ich gestehe offen, dass mir dies innige Freude gemacht hat. Denn ich habe die Überzeugung, dass wir in bezug auf unsere Anschauungen so weit übereinstimmen, wie zwei voneinander völlig unabhängige Naturen nur übereinstimmen können. Wir haben gleiche Ziele, obwohl wir uns auf ganz verschiedenen Wegen zu unserer Gedankenwelt durchgearbeitet haben. Auch Sie fühlen dies. Ein Beweis dafür ist die Tatsache, dass Sie den vorstehenden Brief gerade an mich gerichtet haben. Ich lege Wert darauf, von Ihnen als Gesinnungsgenosse angesprochen zu werden.

Ich habe es bisher immer vermieden, selbst das Wort ›individualistischer‹ oder ›theoretischer Anarchismus‹ auf meine Weltanschauung anzuwenden. Denn ich halte sehr wenig von solchen Bezeichnungen. Wenn man in seinen Schriften klar und positiv seine Ansichten ausspricht: wozu ist es dann noch nötig, diese Ansichten mit einem gangbaren Worte zu bezeichnen? Mit einem solchen Worte verbindet jedermann doch ganz bestimmte traditionelle Vorstellungen, die dasjenige nur ungenau wiedergeben, was die einzelne Persönlichkeit zu sagen hat. Ich spreche meine Gedanken aus; ich bezeichne meine Ziele. Ich selbst habe kein Bedürfnis, meine Denkungsart mit einem gebräuchlichen Worte zu benennen.

Wenn ich aber in dem Sinne, in dem solche Dinge entschieden werden können, sagen sollte, ob das Wort ›individualistischer Anarchist‹ auf mich anwendbar ist, so müsste ich mit einem bedingungslosen ›Ja‹ antworten. Und weil ich diese Bezeichnung für mich in Anspruch nehme, möchte auch ich gerade in diesem Augenblicke mit wenigen Worten genau sagen, wodurch ›wir‹, die ›individualistischen Anarchisten‹, uns unterscheiden von denjenigen, welche der sogenannten ›Propaganda der Tat‹ huldigen. Ich weiß zwar, dass ich für verständige Menschen nichts Neues sagen werde. Aber ich bin nicht so optimistisch wie Sie, lieber Herr Mackay, der Sie einfach sagen: ›Keine Regierung ist so blind und töricht, gegen einen Menschen vorzugehen, der sich einzig und allein durch seine Schriften, und zwar im Sinne einer unblutigen Umgestaltung der Verhältnisse, am öffentlichen Leben beteiligt.‹ Sie haben, nehmen Sie mir diese meine einzige Einwendung nicht übel, nicht bedacht, mit wie wenig Verstand die Welt regiert wird.

Ich möchte also doch einmal deutlich reden. Der ›individualistische Anarchist‹ will, dass kein Mensch durch irgend etwas gehindert werde, die Fähigkeiten und Kräfte zur Entfaltung bringen zu können, die in ihm liegen. Die Individuen sollen in völlig freiem Konkurrenzkampfe sich zur Geltung bringen. Der gegenwärtige Staat hat keinen Sinn für diesen Konkurrenzkampf. Er hindert das Individuum auf Schritt und Tritt an der Entfaltung seiner Fähigkeiten. Er hasst das Individuum. Er sagt: Ich kann nur einen Menschen gebrauchen, der sich so und so verhält. Wer anders ist, den zwinge ich, dass er werde, wie ich will. Nun glaubt der Staat, die Menschen können sich nur vertragen, wenn man ihnen sagt: so müsst ihr sein. Und seid ihr nicht so, dann müsst ihr eben – doch so sein. Der individualistische Anarchist dagegen meint, der beste Zustand käme dann heraus, wenn man den Menschen freie Bahn ließe. Er hat das Vertrauen, dass sie sich selbst zurechtfänden. Er glaubt natürlich nicht, dass es übermorgen keine Taschendiebe mehr gäbe, wenn man morgen den Staat abschaffen würde. Aber er weiß, dass man nicht durch Autorität und Gewalt die Menschen zur Freiheit erziehen kann. Er weiß dies eine: man macht den unabhängigsten Menschen dadurch den Weg frei, dass man jegliche Gewalt und Autorität aufhebt.

Auf die Gewalt und die Autorität aber sind die gegenwärtigen Staaten gegründet. Der individualistische Anarchist steht ihnen feindlich gegenüber, weil sie die Freiheit unterdrücken. Er will nichts als die freie, ungehinderte Entfaltung der Kräfte. Er will die Gewalt, welche die freie Entfaltung niederdrückt, beseitigen. Er weiß, dass der Staat im letzten Augenblicke, wenn die Sozialdemokratie ihre Konsequenzen ziehen wird, seine Kanonen wirken lassen wird. Der individualistische Anarchist weiß, dass die Autoritätsvertreter immer zuletzt zu Gewaltmaßregeln greifen werden. Aber er ist der Überzeugung, dass alles Gewaltsame die Freiheit unterdrückt. Deshalb bekämpft er den Staat, der auf der Gewalt beruht – und deshalb bekämpft er ebenso energisch die ›Propaganda der Tat‹, die nicht minder auf Gewaltmaßregeln beruht. Wenn ein Staat einen Menschen wegen seiner Überzeugung köpfen oder einsperren lässt – man kann das nennen, wie man will –, so erscheint das dem individualistischen Anarchisten als verwerflich. Es erscheint ihm natürlich nicht minder verwerflich, wenn ein Luccheni eine Frau ersticht, die zufällig die Kaiserin von Österreich ist. Es gehört zu den allerersten Grundsätzen des individualistischen Anarchismus, derlei Dinge zu bekämpfen. Wollte er dergleichen billigen, so müsste er zugeben, dass er nicht wisse, warum er den Staat bekämpft. Er bekämpft die Gewalt, welche die Freiheit unterdrückt, und er bekämpft sie ebenso, wenn der Staat einen Idealisten der Freiheitsidee vergewaltigt, wie wenn ein blödsinniger eitler Bursche die sympathische Schwärmerin auf dem österreichischen Kaiserthrone meuchlings hinmordet.

Unsern Gegnern kann es nicht deutlich genug gesagt werden, dass die ›individualistischen Anarchisten‹ energisch die sogenannte ›Propaganda der Tat‹ bekämpfen. Es gibt außer den Gewaltmaßregeln der Staaten vielleicht nichts, was diesen Anarchisten so ekelhaft ist wie diese Caserios und Lucchenis. Aber ich bin doch nicht so optimistisch wie Sie, lieber Herr Mackay. Denn ich kann das Teilchen Verstand, das zu so groben Unterscheidungen wie zwischen ›Individualistischem Anarchismus‹ und ›Propaganda der Tat‹ nun doch einmal gehört, meist nicht finden, wo ich es suchen möchte.

In freundschaftlicher Neigung Ihr

Rudolf Steiner«

Zander tut die Frage, ob Steiner sich als Proletarier verstand oder über proletarische Erfahrungen verfügte, mit einer rotzigen Bemerkung ab. In Steiners Hinweisen auf seine Kindheit in einem Proletarierhaushalt kann er nur eine projektive »Erhöhung«, eine Anbiederung sehen. Auch Steiners Tätigkeit an der Arbeiterbildungsschule zwischen 1899 und 1905 kann Zander nur ideologisch umdeuten.

Auf S. 1245-1246 schreibt Zander:

»Seit 1899 war Steiner als Lehrer an von der von [sic!] Karl Liebknecht gegründeten Arbeiterbildungsschule in Berlin sowie an derjenigen in Spandau tätig ... Dabei glaubte er zwar, sein ›Proletarier-Bewusstsein bewiesen‹ zu haben, stellte sich aber gegen die marxistische Fraktion und bestritt den historischen Materialismus ...

Als politische Lehrjahre fallen die Jahre an der Arbeiterbildungsschule im Großen und Ganzen aus. 1919 hat Steiner seine Zeit an der Arbeiterbildungsschule allerdings in eine prägende Phase überhöht:

›... Ich habe gelernt, den Proletarier dadurch zu verstehen, dass ich selbst mit ihnen, mit den Proletariern gelebt habe, dass ich herausgewachsen bin aus dem Proletariat, mit dem Proletariat auch hungern lernte und musste. Aus diesen Untergründen heraus spürte man schon dazumal, das ich nicht aus der Theorie, sondern aus einer ganz gehörigen Praxis heraus zu sprechen in der Lage bin.‹ (GA 331,167)«

Diese kurzen Passagen bieten wieder eine Fundgrube an Zanderschen »Wahrheiten«.

Zunächst scheint es Zander nur möglich, dem Proletariat anzugehören, wenn man zugleich Marxist ist und an den historischen Materialismus glaubt, was natürlich ein Unsinn ist. Dann bleibt die Frage völlig offen, warum Steiners Jahre an der Arbeiterbildungsschule »als politische Lehrjahre« ausfallen sollen. Immerhin war Steiner 6 Jahre an der Arbeiterbildungsschule tätig und schon oberflächlichem Nachdenken fällt auf, dass drei grundlegende Aufsätze Steiners zu sozial- und gesellschaftspolitischen Fragen die Zeit seiner Tätigkeit an dieser Arbeiterbildungsschule gleichsam umrahmen: die beiden Artikel »Die soziale Frage« und »Freiheit und Gesellschaft« aus dem Jahr 1898 sowie »Geisteswissenschaft und soziale Frage« aus den Jahren 1905-06.

Schließlich zitiert Zander, um seine Behauptung zu belegen, Steiner habe seine Tätigkeit an der Arbeiterbildungsschule später »überhöht«, aus einem Vortrag von 1919. Diesen Vortrag zitiert Zander nicht nur falsch, er verweist auch noch auf eine falsche Fundstelle und versteht die Äußerungen Steiners außerdem falsch.

Die von Zander zitierte Passage findet sich nicht in GA 331, sondern in GA 328, auf S. 166-167 (Dornach 1977), in der Diskussion nach einem öffentlichen Vortrag mit dem Titel »Welchen Sinn hat die Arbeit des modernen Proletariers?«, den Steiner am 8. März in Zürich gehalten hat.

Hier der Wortlaut (Zanders Zitat und Einfügungen, sowie seine nicht gekennzeichneten Auslassungen sind durch Unterstreichungen und [...] kenntlich gemacht):

»Wer darf sich denn eigentlich zu den Proletariern rechnen? Derjenige der mit den Proletariern, zu den Proletariern reden darf dadurch, dass er durch sein Schicksal und durch eigene Kraft sich dazu durchgerungen hat, so zu reden, wie ich es heute aber auch nur als freier Redner kann. Denn in den Kreisen, mit denen mir vorgeworfen worden ist, Gemeinschaft zu haben, ja, da bin ich vielleicht schon genau ebenso, vielleicht noch viel übler behandelt worden, als ich heute abend hier behandelt worden bin. Es ist doch etwas anderes, wenn man sich, wie ich, ja auch entsprechend durchgerungen hat; ich werde es auch weiter in dem kurzen Leben, das mir noch zur Verfügung steht. Ich habe mich aber jahrelang durchgerungen dadurch, dass ich mit den Proletariern gesprochen, mit den Proletariern gearbeitet, mit dem Proletariat mitgehungert habe. Ich habe nicht «Postbeamte gefragt, wie viel sie haben, um dabei verhungern zu können», sondern ich habe selbst mithungern müssen. Denn diejenige Familie, aus der ich herausgewachsen bin, war in einer viel übleren Lage, als vielleicht jene «Postbeamten» alle, die man heute fragen kann. Ich habe nicht allein gelernt, den Proletarier [dadurch] zu verstehen dadurch, dass ich über ihn denken lernte, sondern ich habe gelernt, den Proletarier dadurch zu verstehen, dass ich selber mit ihnen, mit den Proletariern gelebt habe, dass ich herausgewachsen bin aus dem Proletariat, mit dem Proletariat auch hungern lernte und musste. Aus diesen Untergründen heraus spürte man schon dazumal, als ich jahrelang mit Arbeitern zusammenarbeiten konnte, dass ich nicht aus der Theorie, sondern aus einer ganz gehörigen Praxis heraus zu sprechen in der Lage bin. Ich glaube, das kann auch eine Grundlage dazu abgeben, ob man ein gewisses Recht hat, zu Proletariern zu sprechen oder nicht.«

(GA 328, Dornach 1977, S. 166-167)

Die Äußerungen Steiners über seine Herkunft aus dem Proletariat beziehen sich auf seine Kindheit (»diejenige Familie, aus der ich herausgewachsen bin, war in einer viel übleren Lage«), in dieser hat er mithungern müssen, im Hinblick auf diese Kindheit spricht Steiner davon, dass er aus dem Proletariat »herausgewachsen« sei (im Sinne von »darin aufgewachsen«), dass er »mit dem Proletariat hungern lernte« und hungern »musste«. Steiners Argumentation verläuft über den Dreischritt: proletarische Kindheit, Zusammenarbeit mit Proletariern (in Berlin), Reden über Proletarier (in Zürich). Davon, dass Steiner seine Zeit an der Arbeiterbildungsschule »überhöht« hätte, kann natürlich keine Rede sein.