Nach all seinen Mikroanalysen, in denen Zander Steiner aufgrund von »Informationsmängeln« historische Irrtümer über den Verlauf des Krieges, das politische Geschehen und anderes mehr vorwirft, zieht er ein Fazit aus der achtzigjährigen Forschungsgeschichte, das die wichtigsten Bereiche auflistet, von denen Steiner »nichts wissen konnte«. Ironischerweise finden sich aber so gut wie alle Einsichten, die Zander Steiner triumphierend als Wissensmängel vorwirft, in seinen Vorträgen und Veröffentlichungen zum I. Weltkrieg.

Auf S. 1269 schreibt Zander:

»In der Rückschau und mit Hilfe einer über achtzigjährigen Forschungsgeschichte ... treten Steiners historische Fehlurteile krass hervor ...

Die Forschung sieht inzwischen alle großen Mythen aller Seiten kritisch ... Die deutsche Schuld am Krieg wurde mit der durch Fritz Fischer 1961 ausgelösten Kontroverse (»Der Griff nach der Weltmacht «) zunehmend zum Thema einer von apologetischen Rechtfertigungen gelösten Debatte,

[1] wenngleich Fischers zentrale These einer langfristig und mit expansiven Zielen betriebenen Kriegspolitik heute wieder relativiert wird, ohne grundsätzlich die Schuld der deutschen Seite am Krieg zu leugnen.

[2] Auch die Kriegsziele der Entente-Mächte, die alle ihre je eigenen Absichten im Rahmen einer regionalen Großmachtpolitik verfolgten und damit die Verstrickung aller am Krieg beteiligten Staaten in den Ausbruch des Krieges dokumentieren ..., ist heute in einem Ausmaß sichtbar, das Steiner verborgen bleiben musste. Die Problemstellen der militärischen Planungen lassen sich heute klarer erkennen:

[3] die fatale Wirkung der Automatismen in den deutschen Mobilmachungs- und Kriegsführungsszenarien ...,

[4] das Wissen um die Unangemessenheit der strategischen Planungen im deutschen Generalstab bei gleichzeitiger Befürwortung des Krieges ... oder

[5] die prekäre und im Verlauf des Krieges zurückgehende Stellung der Politiker gegenüber den Generälen ..., wie sie insbesondere mit der dritten Obersten Heeresleitung von Hindenburg und Ludendorff unübersehbar wurde – um nur einige der zentralen und inzwischen gut erforschten Bereiche zu nennen, von denen Steiner wenig oder nichts wissen konnte.«

Die »Wissensmängel« Steiners im Einzelnen:

[1] Die »Relativierung der expansiven Kriegspolitik Deutschlands«:

»Was wäre geschehen, wenn sich das vollzogen hätte, was die deutsche Regierung gewollt hat: die Lokalisierung des Krieges zwischen Österreich und Serbien? – Denn das kann jedes Kind aus den Verhandlungen erkennen, dass dies das Ziel der deutschen Regierung war: den Krieg zwischen Österreich und Serbien zu lokalisieren ...«

GA 173, 11.12.1916 (Dornach 1978), S. 115

»Man sagt: Die Entente hat ihre Kriegsziele genannt, es sollten doch die Mittelmächte ihre Kriegsziele nennen, damit gleich für gleich spiele ... Aber warum sollte denn Mitteleuropa seine Kriegsziele nennen? Es hat nie welche gehabt! Es hat keine! Daher hat es sich selbstverständlich auf den Standpunkt gestellt: Wir werden verhandeln und gern verhandeln, denn dann wird sich herausstellen, was ihr eigentlich wollt, und dann lässt sich reden; aber von uns aus: Wir haben nichts Besonderes zu sagen, wir wollen nur leben ... Mitteleuropa will nichts anderes, als was es im Jahre 1913 und 1912 auch gewollt hat. Es hat damals keine Kriegsziele gehabt und hat auch heute keine.«

GA 174, 15.01.1917 (Dornach 1983), S. 184

»Ich habe mancherlei Gelegenheit gehabt, nach dieser Richtung hin zu fragen, nach dieser Richtung hin die Dinge kennenzulernen. So zum Beispiel habe ich wahrhaftig da, wo es möglich war, auf eine maßgebliche Antwort zu warten, nicht wenige Male die Frage gestellt innerhalb der Grenzen Deutschlands, auch an österreichische Menschen die Frage gestellt: Was ist eigentlich das wirkliche, von verantwortlichen Stellen ausgehende Ziel dieses sogenannten Krieges? – Ich habe nur ein einziges Mal von irgendeiner verantwortlichen Stelle eine sehr vage Antwort bekommen, und habe gesehen, dass eigentlich überall da, wo gefragt werden konnte innerhalb der deutschen Grenzen und auch der österreichischen Grenzen über ein sogenanntes Kriegsziel, man von einem Kriegsziel nichts wusste. Das einzige, was mir eben als vage Antwort einmal gegeben worden ist, das war, dass man wünschte die Freiheit der Meere. Das ist das einzige, was mir einmal geantwortet worden ist.

Nun weiß ich selbstverständlich, dass da geantwortet werden kann: Ja, aber die Alldeutschen, was haben die alles für ausgedehnteste Kriegsziele aufgestellt – und so weiter. Ja, man darf dabei nicht vergessen, dass eben natürlich in solchen Zeiten viele Leute vieles reden, dass Agitationen getrieben werden. Aber es gab nie eine Möglichkeit, dass dasjenige, was zum Beispiel von alldeutscher Seite gesagt worden ist, zu einem anderen Zwecke, als um aufzureizen und um Torheiten zu verbreiten, ernst genommen werden konnte. Das ist außerordentlich wichtig, dass man die Dinge wiegt, dass man zum Beispiel weiß, dass in Mitteleuropa, namentlich im Beginne des Krieges, ein wirkliches Kriegsziel nicht vorhanden war bei denjenigen, die in der Lage waren etwas beizutragen, in der Richtung des Krieges etwas zu unternehmen oder in der Richtung des Krieges etwas zu unterlassen. Das gibt schon dem Urteil eine Richtung, wenn man weiß: Die Leute haben gerade in den ersten Zeiten des Krieges absolut nicht gewusst, wofür sie eigentlich kämpfen. – Wer wäre in der Lage, sich vorzustellen, dass man sich vornehme, aus heiterem Himmel heraus einen Krieg zu entfesseln, wenn man überhaupt nicht weiß, was man mit diesem Kriege eigentlich anfangen soll! Denn selbst die vage Antwort, die ich bekommen habe, von der Freiheit der Meere, die ist eigentlich nur eine Notantwort gewesen, weil der Betreffende nichts anderes gewusst hat und dies etwas ist, was man wenigstens schandenhalber sagen konnte.«

GA 185a, 10.11.1918 (Dornach 1963) S. 37-38

[2] Die »Kriegsziele der Entente-Mächte«, die »Verstrickung aller am Krieg beteiligten Staaten in den Ausbruch des Krieges«:

Steiners Ausführungen über die Kriegsziele der Entente-Mächte durchziehen seine gesamten Vorträge zur Vorgeschichte des I. Weltkriegs. Immer wieder kommt er im Verlauf der Jahre auf die komplexe Gemengelage aus imperialem Expansionismus und europäischer Bündnispolitik, slawischen Emanzipationsbestrebungen und Einkreisung der Mittelmächte zu sprechen, die früher oder später zu einer Explosion führen musste. Eine zusammenfassende Darstellung vom Januar 1917 findet sich in den Quellen (»Konstellationen des I. Weltkriegs« | 1917).

[3] »Fatale Wirkung der Automatismen in den deutschen Mobilmachungs- und Kriegsführungsszenarien« sowie

[4] »Wissen um die Unangemessenheit der strategischen Planungen im deutschen Generalstab bei gleichzeitiger Befürwortung des Krieges«:

In einem Vortrag am 9. November 1918 führt Steiner folgendes aus:

»Nun darf man nicht vergessen: In Berlin eine Regierung, die eigentlich überhaupt nicht vorhanden war, die ganz und gar bar jeder Einsicht war in den Gang der Verhältnisse, die so schlechte Politik seit Jahren getrieben hat, als es nur irgendwie möglich ist, und die gerade in dem Jahre 1914 an dem Punkt angekommen war, dass sie überhaupt nicht regierte, dass sie geschehen ließ, was da kam. Eine furchtbare Situation war da; eine ganz furchtbare Situation war da. Eigentlich war nun die ganze Last der Ereignisse abgeladen auf die deutsche Heeresleitung. Das darf man nicht vergessen: Die ganze Last der Ereignisse und ganze Verantwortung der Ereignisse war abgeladen auf die deutsche Heeresleitung. Denn was auch immer geredet wird von irgendwelchen Konferenzvorschlägen und dergleichen, die von Seiten der Ententemächte gemacht worden sind, das alles ist ja Unsinn, das hätte niemals zu irgend etwas führen können, weil dasjenige, zu dem es hätte führen können, natürlich niemals von Seiten der Mittelmächte in ihrer damaligen Verfassung hätte angenommen werden können. Man kann selbstverständlich sehr leicht aus dem Verlauf dieser Konferenzvorschläge und so weiter beweisen, dass die Ententeregierungen unschuldig sind an dem Kriegsausbruch. Aber mit diesem Beweis ist nicht das Allergeringste getan. Das ist eine Trivialität, mit der man hausieren gehen kann, alles Mögliche behaupten kann, aber man bringt damit all die Fragen, um die es sich handelt, in absolut falsche Richtungen.

Man muss ganz genau, von Stunde zu Stunde, kennen, was in den letzten Tagen des Juli 1914 und vielleicht noch in den ersten Tagen des August in Berlin geschah. Und es wird schon einmal Gelegenheit kommen, vor der Welt zu sprechen über dasjenige, was von Stunde zu Stunde in Berlin geschah, und man wird sehen, dass dasjenige, was da geschehen ist, unter gar keinem anderen Impuls geschehen ist als unter dem: Was soll getan werden in dieser furchtbaren Situation, die heraufgekommen ist? – Wäre eine Regierung dagewesen, die die Dinge überschaut hätte, so wären selbstverständlich die Verhältnisse ganz anders gekommen. Wäre ein Monarch dagewesen, der das geringste getan hätte, der auch nur im allergeringsten teilgenommen hätte an dem Entschlüsse, der sich nicht ganz ferngehalten hätte von jeglicher Initiative, obwohl er dabei war, so wären natürlich alle Dinge anders gekommen. Aber alles schaltete sich von selber aus, was nicht Heeresleitung war, die natürlich die einzige Verpflichtung haben konnte, eben ihre Pflicht zu tun. So dass dasjenige, was gemacht worden ist, wenn normale Verhältnisse dagewesen wären, niemals hätte so aussehen können wie irgendeine Kriegserklärung.

Es ist in der letzten Zeit vielfach die Sache so ausgesprochen worden – aber es gibt sehr wenige Menschen, eigentlich wirklich furchtbar wenige Menschen, die die Verhältnisse genau kennen –, dass man in Berlin in den Krieg mehr hineingerutscht ist, als dass man ihn gewollt hat. Man ist auch wirklich mehr hineingerutscht. Man darf auch nicht vergessen, dass es in einer gewissen Beziehung ganz selbstverständlich war, dass die Heeresleitung in dem Augenblicke, wo die ganze Verantwortung auf ihr lastete, sich sagte: Jede Stunde verloren bedeutet Ungeheures verloren. Man muss in Betracht ziehen, dass das deutsche Heer in dieser Zeit, in der man den Mittelmächten zumutete, einen Präventivkrieg haben führen zu wollen, was doch wirklich ein bloßer Unsinn ist, noch keineswegs in einer Verfassung war, dass ein Sachverständiger großes Zutrauen haben konnte, dass es durchkommen werde bei dem, was doch hereinbrechen musste. Denn man wusste: In dem Augenblicke, wo der Bündnisfall geltend gemacht wird, geht alles übrige automatisch. – Es ist ja auch gegangen und es war ganz selbstverständlich, das es automatisch ging. Aber man darf nicht vergessen, dass gerade derjenige, der die Verhältnisse genau kannte, keine Stunde zu verlieren gedachte, zu verlieren denken durfte, aus dem einfachen Grunde, weil man ganz und gar nicht glauben konnte, dass dieses Heer nach dem, was in den verschiedenen vorangegangenen Jahren geschehen war, irgendwie gewachsen sein könnte der furchtbarsten Weltkoalition, die man heraufbeschwor, selbstverständlich, wenn man sich zum Kriege entschloss. Man darf nicht vergessen: Bereits Ende September hatte dieses Heer keine Munition mehr! – Zwei Tage vor der Kriegserklärung an Rußland war noch beim Kriegsministerium vom Auswärtigen Amt eine dringende Anforderung eingelaufen, die Munitionsbestellungen geringer zu machen. Das sind ja alles schließlich nicht Dinge, die man tut, wenn man sich einen Präventivkrieg vornimmt, nicht wahr. Und solche Dinge könnte man zu Hunderten und Tausenden aufzählen, wenn man nicht ohnedies wüsste, dass niemand dachte an einen Präventivkrieg.

Aber es kommt in Betracht, indem man es so für selbstverständlich fand in dieser furchtbaren Situation des mobilisierten Russischen Reiches mit dem verbündeten Frankreich, dass dieses deutsche Heer ja ein zweifelhaftes Instrument war. Denn man darf nicht vergessen: Durch viele Jahre ist unter der Ägide des Generals von Schließen die Schulung dieses Heeres in der unglaublichsten Weise getrieben worden. Die Sache wurde erst als Unfug verbessert, als Moltke Generalstabschef geworden ist. Denn dieses Heer wurde so gedrillt, dass der Kaiser stets auf den großen Manövern unter dem General Schliefen Abteilungen führte, ohne einen Schimmer von irgend etwas in der Kriegführung oder dergleichen zu haben. Die ganzen Anordnungen wurden so getroffen, dass selbstverständlich Majestät siegte. Also man soll sich nur vorstellen, wie man ein Heer schulen konnte, wenn man jene Theatercoups machen musste, dass jeder, der auf der Abteilung war, auf der nicht Majestät war, notwendigerweise die Sache so anordnen musste, dass er eine Niederlage kriegte, damit Majestät siegen konnte. Solche Dinge lassen sich in kurzer Zeit nicht verbessern, sondern das bedarf dann erst wiederum langer Arbeit. Das aber erzeugt selbstverständlich die Stimmung, dass man zugreifen muss, wenn man darauf angewiesen ist, ja etwas zu tun, wo die berufenen Instanzen gar nichts tun. So dass dasjenige, was in Berlin im Juli 1914 geschah, auch in den ersten Augusttagen des Jahres 1914 geschah, nicht im entferntesten dasjenige ist, was man etwa, wie Harden meint, als Schulfall eines Präventivkrieges ansehen kann, sondern es ist im eminentesten Sinne das, was man nennen muss: Es geschieht etwas durch Menschen, die unter ungeheuer schwierigen Verhältnissen in unmögliche Situationen hineingedrängt worden sind. Man mag verurteilen, wie man will: da in der Kriegführung der Erfolg entscheidet, wenn man siegt, so entscheidet selbstverständlich auch der Misserfolg wenn man geschlagen wird, wenn man mit irgendeiner militärischen Sache nicht dasjenige erreicht, was man sich verspricht. Es ist ganz selbstverständlich, dass von dem Augenblicke an – ich sage das ganz unbefangen, indem ich vielleicht auch mich der Gefahr aussetze, dass solch ein Urteil merkwürdig befunden wird –, wo durch den Einfall in Belgien nichts erreicht werden konnte, wo er durch die Tage der Marne-Schlacht kaputt gemacht worden ist, dieser Einfall ein Unrecht war.«

GA 185a, 9. November 1918 (Dornach 1963), S. 31-35

[5] »Prekäre, im Verlauf des Krieges zurückgehende Stellung der Politiker gegenüber den Generälen«:

Die vollständige Abdankung der Politik und die Übergabe der Verantwortung an das Militär konstatierte Steiner schon für den Kriegsbeginn:

»Ich habe gestern ausgeführt, dass die eigentliche Entscheidung über das, was Ende Juli und Anfang August in Deutschland zu tun oder zu unterlassen sei, durch die ja schon gestern charakterisierten Verhältnisse leider ganz allein bei der Heeresleitung lag, die nur nach strategischen Gesichtspunkten die Entscheidung, namentlich nach Maßgabe der Verhältnisse und der Sachlage, treffen konnte. So dass man nicht einmal nach einem Einzelwollen bei der deutschen Politik zum Beispiel Ende Juli und Anfang August und auch die vorhergehende Zeit sprechen kann. Weder von einem gesamten Wollen, noch von irgendeinem Einzelwollen, das irgendwie zusammenhinge mit dieser Katastrophe, kann man da sprechen. Man kann geradezu sagen: Ein politisches Ziel, ein politischer Gedanke, eine politische Idee war überhaupt in Mitteleuropa nicht vorhanden. Das ist ja gewiss eine merkwürdige Tatsache. Aber es ist eben die Tatsache, die als solche berücksichtigt werden muss. Es gab militärische Ideen, wie man den Krieg führen müsse, wenn er kommt. Nicht wahr, militärische Ideen beruhen in gesunden Verhältnissen immer auf sogenannten Konditionalsätzen: ›wenn er kommt‹, denn der Militär sollte nie zu entscheiden haben, ob irgend etwas bei Kriegsausgange zu unternehmen ist oder nicht. Gesundes Denken über das Verhältnis von Politik und Kriegführung, das ist überhaupt etwas, was in den vier letzten Jahren wahrhaftig nicht gezüchtet worden ist. Ich habe zum Beispiel zu meinem Jammer immer wieder hören müssen, dass auf dem Gebiete der mitteleuropäischen Staaten der Satz des Clausewitz wiederholt worden ist: Krieg ist die Fortsetzung der Politik mit andern Mitteln. Nun, es gibt keinen törichteren Satz als diesen, denn er ist aufgebaut nach dem logischen Muster des Satzes: Die Scheidung ist die Fortsetzung der Ehe mit andern Mitteln. Aber es wurde dieser Satz als gescheiter Satz überall zitiert ich meine den ersteren und als gescheiter Satz überall aufgefasst.

Es scheint mir gerade angesichts dieses Verhältnisses von Politik und Kriegführung in Mitteleuropa wichtig, dass der Welt gegenüber betont werde, was nun eigentlich die deutsche Heeresleitung wollte, wenn es zu einem Kriege komme. Nicht wahr, die deutsche Heeresleitung hatte ihre Voraussetzungen, die Voraussetzungen zu einer strategischen Unternehmung, wenn es zu einem Kriege kommen sollte, von folgenden Unterlagen zu nehmen. Die Unterlage für die Heeresleitung war diese: Wenn es durch irgendeine europäische Verwickelung zum Kriege kommt, so ist es durch die Bündnisverhältnisse so, dass zwei Bündnisgebiete einander gegenüberstehen werden, die sich automatisch zusammenschließen werden; dass gegenüberstehen werden die Mittelmächte zu denen man immer im Glauben, im törichten, aber ehrlichen Glauben Italien gerechnet hat auf der einen Seite, und auf der anderen Seite Rußland-Frankreich-England. Man hat nicht anders denken können nach den verschiedenen Bündnisverhältnissen, soweit sie bekannt waren. Danach musste gewissermaßen der strategische Plan formuliert werden. Und wohin ging dieser strategische Plan? Das ist wichtig, dass man darinnen die Tatsache ins Auge fasst: Was wollte die Heeresleitung? Die Heeresleitung wollte das Folgende: sie wollte durch Belgien in Frankreich so weit eindringen, als notwendig war, um das russisch-französische Bündnis unwirksam zu machen. – Die Heeresleitung wollte nicht mehr tun, als Frankreich veranlassen, vom Bündnis mit Rußland in bezug auf die Kriegsführung abzusehen. An irgend etwas anderes als an einen rein strategisch gedachten Durchzug durch Belgien, der dazu führen müsse, dass selbstverständlich Belgien voll entschädigt wird für diesen Durchmarsch, und an etwas anderes als einen ebenfalls, insoweit es Zerstörungen herbeiführt, zu entschädigenden Einbruch in Frankreich, etwa an irgend etwas wie Annexionen französischen Gebietes und dergleichen, konnte nach der ganzen Verfassung des deutschen Heereswesens, die ich schon gestern zum Teil charakterisierte, nicht gedacht werden. Es handelte sich lediglich gewissermaßen darum, Frankreich davon abzuhalten, an einem eventuellen Zweifrontenkrieg sich dauernd zu beteiligen. Mehr sollte strategisch nach dem Westen hin nicht erreicht werden.

Das war selbstverständlich nur so lange durchzuführen, als es keine wirksame Verbindung gab zwischen Frankreich und England. In dieser Beziehung gaben sich die verantwortlichen deutschen Menschen dem allerdings unverantwortlichen Gedanken hin, dass es ihnen gelingen werde, England abzuhalten von irgendeiner Verbindung mit Frankreich. In dem Augenblicke, in dem diese Verbindung da war, war natürlich der ganze Feldzugsplan nach Westen hin eigentlich über den Haufen geworfen. Dies das eine, was durchaus berücksichtigt werden muss. Und man muss dabei berücksichtigen, dass dieses bei jemandem, der überhaupt sich irgendeiner Verantwortlichkeit unterzog, das einzig Maßgebende war. Nach dem Osten hinüber, nach der anderen Seite, handelte es sich auch nicht um Annexionen, sondern um die Aufrechterhaltung desjenigen, was man so philiströs den Status quo ante nannte. So dass – es kann das nun angefochten werden oder nicht – in der ersten Zeit nach dem Ausbruch dieser katastrophalen kriegerischen Verwickelung tatsächlich in der Mitte Europas niemand anders dachte, als dass man es zu tun habe mit einem Verteidigungskriege. Dann sind verschiedene Ereignisse geschehen, welche, ich mochte sagen, das Urteil völlig getrübt haben.«

GA 185a, 1. November 1918, (Dornach 1963), S. 39-41

Aber Steiner wusste sogar noch mehr, er wusste, dass auf den I. Weltkrieg ein noch viel fürchterlicher, zweiter folgen werde:

»Dabei braucht man heute kaum mehr ein Okkultist zu sein, um zu wissen, dass, wenn dieser Krieg in Europa einmal aufgehört haben wird, nur eine geringe Anzahl von Jahren vergehen wird, und es wird ein viel wütenderer, viel verheerenderer Krieg außerhalb Europas die Welt durchzittern.«

GA 173, 4.12.1916 (Dornach 1978), S. 43

Über Steiners Schriftchen »Gedanken währen der Zeit des Krieges. Für Deutsche und diejenigen, die nicht glauben, sie hassen zu müssen« aus dem Jahr 1915, weiß Zander zu vermelden, in ihm münde Steiners »politische Operationalisierung der völkerpsychologischen Versatzstücke in die Rechtfertigung der deutschen Kriegspolitik«.

Auf S. 1274 schreibt Zander:

»In diesem kleinen Buch ... mündete die politische Operationalisierung der völkerpsychologischen Versatzstücke in die Rechtfertigung der deutschen Kriegspolitik.«

Begründet wird diese Behauptung von Zander mit folgendem Zitat aus Steiners Schrift:

»Man wird bei den Deutschen vergeblich nach solchen Triebfedern suchen, die zu dem gegenwärtigen Kriege in ähnlicher Art führen mussten wie die von Solowieff bei den Russen gekennzeichneten, von Renan für die Franzosen vorausverkündeten. Die Deutschen konnten voraussehen, dass man diesen Krieg einmal gegen sie führen werde. Es war ihre Pflicht, sich für ihn zu rüsten. Was sie zur Erfüllung dieser Pflicht getan haben, nennt man bei ihren Gegnern die Pflege ihres Militarismus.«

Zanders Behauptung wird nicht einmal durch sein – aus seiner Perspektive sicherlich gut gewähltes – Zitat abgedeckt. Denn von »völkerpsychologischen Versatzstücken« ist darin nichts zu finden, von einer »Rechtfertigung der deutschen Kriegspolitik« auch nicht. Steiner weist lediglich darauf hin, dass Deutschland sich für einen voraussehbaren Zweifrontenkrieg rüsten musste und weist die Kennzeichnung dieser Rüstung als »Militarismus« zurück. Enthielte Steiners Schrift »völkerpsychologische« Versatzstücke, dann stammten diese von anderen Autoren, denn Steiner lässt in ihr u.a. Solowieff über »die Russen«, Renan über »die Franzosen« und Emerson über »die Deutschen« sprechen.

Er selbst sagt über »die Deutschen« im unmittelbaren Anschluss an die von Zander zitierten Sätze:

»Was die Deutschen um ihrer selbst willen und, um die ihnen durch weitgeschichtliche Notwendigkeiten auferlegten Aufgaben zu erfüllen, zu leisten haben, wäre ihnen ohne diesen Krieg zu leisten möglich gewesen, wenn diese Leistungen andern ebenso genehm wie ihnen notwendig wären. Es hing eben durchaus nicht von den Deutschen ab, wie die andern Völker die Erfüllung der weltgeschichtlichen Aufgaben aufnahmen, die den Deutschen auf materiellem Kulturgebiete in der neueren Zeit sich zu ihren früher vorhandenen hinzufügten. Die Deutschen konnten in die nur aus sich heraus wirksame Kraft, die ihren materiellen Kulturleistungen Geltung verschafft, das Vertrauen haben, das sie gewinnen mochten aus der Art, wie ihre Geistesarbeit von den Völkern aufgenommen worden ist. Wenn man nämlich auf deutsche Art blickt, so gewahrt man, dass in derselben nichts liegt, was den Deutschen notwendig gemacht hätte, das von ihm an gegenwärtiger Arbeit zu leistende in anderer Weise zur Geltung in der Welt zu bringen, als es bei seinen rein geistigen Leistungen geschehen ist.«

GA 24 (Dornach 1982), S. 321

Steiner ging es also auch in dieser Schrift, wie stets, um die Charakterisierung des »mitteleuropäischen Geistes« und seiner spirituellen Mission und nicht darum, irgendwelche Kriegspolitiken zu rechtfertigen.

Zander entblödet sich nicht, Steiners »Erstem Memorandum« von 1917 eine Nähe zu den expansiv ausgelegten Kriegszielen Deutschlands zu unterstellen.

Auf S. 1276 schreibt Zander:

»Steiner, der 1917 verstärkt über eine Neuordnung Deutschlands nachdachte, setzte sich gegen die Forderung nach Selbstbestimmung der Völker einschließlich staatlicher Selbständigkeit und für den Fortbestand der Habsburgermonarchie ein, unter Einschluss annexionistischer Erweiterungen.138

Anmerkung 138:

Im Memorandum für die deutsche Regierung schrieb Steiner jedenfalls, im politischen Bereich könne sich ein ›gesunder Konservatismus entwickeln, der nie auf die Zerstückelung Österreichs, sondern höchstens auf seine Ausdehnung bedacht sein kann‹ (GA 24,353). Steiner stand mit derartigen Äußerungen nahe bei den expansiv ausgelegten Kriegszielen für Mitteleuropa von deutscher Seite ...«

Steiner legte in seinem »Ersten Memorandum« den ersten Entwurf seiner Dreigliederungsidee vor. Diese beruht auf der Trennung der drei Gebiete Politik, Recht und Wirtschaft, die von eigenständigen Parlamenten verwaltet werden, die untereinander wie souveräne Regierungen verhandeln können sollen. Diese Idee setzt eine funktionelle Auflösung des zentralistischen Machtstaates voraus, der gegenüber die herkömmlichen nationalen Staatsgrenzen ohnehin obsolet geworden wären. Dass Steiner in diesem Rahmen an den »Fortbestand der Habsburgermonarchie« gedacht hat, darf bezweifelt werden. Steiner spricht in der von Zander zitierten Passage auch nicht von der »Habsburgermonarchie«, sondern von »Österreich«, – was genau er darunter verstand, lässt sich aus dem Text nicht herauslesen. Der Absatz, der sich gegen die »Zertrümmerung« Österreichs richtet, ist als Einwand gegen die Vorstellungen Wilsons zu verstehen, das österreichische Vielvölkerreich in eine nicht näher bestimmte Zahl von Nationalstaaten aufzuteilen, in denen jeweils ein Staatsvolk über eine Vielzahl nationaler Minderheiten bestimmen sollte, mit all den katastrophalen Implikationen, die diese völkerrechtliche Neugliederung nach sich ziehen würde. Auf das von Steiner Gemeinte deutet die Passage: »Im Anfange wird dies wohl durch die territorialen Grenzen beschränkt werden müssen, doch trägt es die Möglichkeit in sich, auf friedlichem Wege die nationalen Gegensätze – auch andere – auszugleichen«, der sich auf die »juristischen, pädagogischen und geistigen Angelegenheiten« bezieht. Da Steiner im Folgenden von Triest spricht, das damals noch zum »Österreichischen Küstengebiet« gehörte, zugleich aber auch ein Nest des italienischen Irredentismus war, könnte ihm die Schaffung einer zusammenhängenden Wirtschaftszone einschließlich Triest vorgeschwebt sein. Die Allierten hatten, um es zum Kriegseintritt gegen die Mittelmächte zu bewegen, Italien im Geheimvertrag von London 1915 das Trentino, Südtirol bis zum Brenner, die Stadt Triest und ihr Umland, die Grafschaft Görz und Gradisca, ganz Istrien, sowie die istrischen und einige kleinere Inseln versprochen. Die Behauptung des Trentino und des Küstenlandes mit Triest und Fiume gegen die Annexionswünsche Italiens gehörte zu den »negativen« Kriegszielen der Habsburgermonarchie. Da es im Falle des Küstenlandes lediglich um den Erhalt des Bestandes ging, ist auch in dieser Hinsicht der Begriff des »Expansionismus« unangebracht. Im übrigen wurde der Absatz: »Die politischen Gebilde Europas könnten sich so auf Grundlage eines gesunden Konservativismus entwickeln, der nie auf Zerstückelung Österreichs, sondern höchstens auf seine Ausdehnung bedacht sein kann« erst in das zweite, für den Habsburgerkaiser Karl verfasste Memorandum eingefügt; es könnte sich auch um eine taktische Bemerkung handeln, um ihm die Annahme des Memorandums zu erleichtern.

Im Kontext lauten die Vorschläge Steiners:

»Deshalb kann nur ein mitteleuropäisches Programm das Wilsonische schlagen, das real ist, das heißt nicht das oder jenes Wünschenswerte betont, sondern das einfach eine Umschreibung dessen ist, was Mitteleuropa tun kann, weil es zu diesem Tun die Kräfte in sich hat. Dazu gehört:

1. Dass man einsehe: Gegenstand einer demokratischen Volksvertretung können nur die rein politischen, die militärischen und die polizeilichen Angelegenheiten sein. Diese sind nur möglich auf Grund des historisch gebildeten Untergrundes. Werden sie vertreten für sich in einer Volksvertretung und verwaltet von einer dieser Volksvertretung verantwortlichen Beamtenschaft, so entwickeln sie sich notwendig konservativ. Ein äußerer Beweis dafür ist, dass seit dem Kriegsausbruche selbst die Sozialdemokratie in diesen Dingen konservativ geworden ist. Und sie wird es noch mehr werden, je mehr sie gezwungen wird, sinn- und sachgemäß dadurch zu denken, dass in den Volksvertretungen wirklich nur politische, militärische und polizeiliche Angelegenheiten der Gegenstand sein können. Innerhalb einer solchen Einrichtung kann sich auch der deutsche Individualismus entfalten mit seinem bundesstaatlichen System, das nicht eine zufällige Sache ist, sondern das im deutschen Volkscharakter enthalten ist.

2. Alle wirtschaftlichen Angelegenheiten werden geordnet in einem besonderen Wirtschaftsparlamente. Wenn dieses entlastet ist von allem Politischen und Militärischen, so wird es seine Angelegenheiten rein so entfalten, wie es diesen einzig und allein angemessen ist, nämlich opportunistisch. Die Verwaltungsbeamtenschaft dieser wirtschaftlichen Angelegenheiten, innerhalb deren Gebiet auch die gesamte Zollgesetzgebung liegt, ist unmittelbar nur dem Wirtschaftsparlamente verantwortlich.

3. Alle juristischen, pädagogischen und geistigen Angelegenheiten werden in die Freiheit der Personen gegeben. Auf diesem Gebiete hat der Staat nur das Polizeirecht, nicht die Initiative. Es ist, was hier gemeint ist, nur scheinbar radikal. In Wirklichkeit kann sich nur derjenige an dem hier gemeinten stoßen, der den Tatsachen nicht unbefangen ins Auge sehen will. Der Staat überlässt es den sach-, berufs- und völkermäßigen Korporationen, ihre Gerichte, ihre Schulen, ihre Kirchen und so weiter zu errichten, und er überlässt es dem einzelnen, sich seine Schule, seine Kirche, seinen Richter zu bestimmen. Natürlich nicht etwa von Fall zu Fall, sondern auf eine gewisse Zeit. Im Anfange wird dies wohl durch die territorialen Grenzen beschränkt werden müssen, doch trägt es die Möglichkeit in sich, auf friedlichem Wege die nationalen Gegensätze – auch andere – auszugleichen. Es trägt sogar die Möglichkeit in sich, etwas Wirkliches zu schaffen an Stelle des schattenhaften Staaten-Schiedsgerichts. Nationalen oder anderweitigen Agitatoren werden dadurch ihre Kräfte ganz genommen. Kein Italiener in Triest fände Anhänger in dieser Stadt, wenn jedermann seine nationalen Kräfte in ihr entfalten könnte, trotzdem aus selbstverständlichen opportunistischen Gründen seine wirtschaftlichen Interessen in Wien geordnet werden, und trotzdem sein Gendarm von Wien aus bezahlt wird.

Die politischen Gebilde Europas könnten sich so auf Grundlage eines gesunden Konservativismus entwickeln, der nie auf Zerstückelung Österreichs, sondern höchstens auf seine Ausdehnung bedacht sein kann.

Die wirtschaftlichen Gebilde würden sich opportunistisch gesund entwickeln; denn niemand kann Triest in einem Wirtschaftsgebilde haben wollen, in dem es wirtschaftlich zugrunde gehen muss, wenn ihn das Wirtschaftsgebilde nicht hindert, kirchlich, national und so weiter zu tun, was er will.

Die Kulturangelegenheiten werden von dem Drucke befreit, den auf sie die wirtschaftlichen und politischen Dinge ausüben, und sie hören auf, auf diese einen Druck auszuüben. Alle diese Kulturangelegenheiten werden fortdauernd in gesunder Bewegung erhalten. Eine Art Senat, gewählt aus den drei Körperschaften, welchen die Ordnung der politisch-militärischen, wirtschaftlichen und juristisch-pädagogischen Angelegenheiten obliegt, versieht die gemeinsamen Angelegenheiten, wozu auch zum Beispiel die gemeinsamen Finanzen gehören.«

GA 24 (Dornach 1982), S. 351-354

Das Memorandum finden Sie in den Quellen

Zander behauptet, Steiner habe in seinem Ersten Memorandum seine antidemokratischen Einstellungen« gegen Wilson »mobilisiert«. Statt von antidemokratischen Einstellungen sollte man besser von einer »inneren Differenzierung« der Demokratie sprechen. Als Frucht dieses Steiner unterstellten Antidemokratismus sieht Zander auch seine Analyse der tieferen geopolitischen Zielsetzungen des Wilsonschen Programms.

Auf S. 1276 schreibt Zander:

»Steiner kritisierte nicht nur die für multiethnische Staaten in der Tat problematischen Folgen von Wilsons Konzept, sondern mobilisierte in diesem Zusammenhang auch seine antidemokratischen Einstellungen ... ›Parlamentarismus‹ ... und der ›sogenannte Demokratismus ... seien nicht in der Lage, die Probleme eines Vielvölkerstaates zu lösen  und zielten ... auf die Weltherrschaft der ›anglo-amerikanischen Rasse‹ ...«

Steiners Memorandum eröffnet mit der Formulierung einer der Hauptaufgaben Österreich-Ungarns, der »Befreiung der Westslaven«:

»Diese Befreiung kann«, so Steiner, »nur unter dem Gesichtspunkte der Autonomisierung aller Zweige des Volkslebens vor sich gehen, welche das nationale Dasein und alles, was damit zusammenhängt, betreffen. Man darf eben nicht zurückschrecken vor der völligen Freiheit im Sinne der Autonomisierung und Föderalisierung des Volkslebens. Diese Föderalisierung ist vorgebildet im deutschen bundesstaatlichen Leben, das gewissermaßen das von der Geschichte vorgebildete Modell ist für dasjenige, was in Mitteleuropa fortgebildet werden muss bis zur völligen föderalistisch-freiheitlichen Gestaltung aller derjenigen Lebensverhältnisse, die ihren Impuls in dem Menschen selber haben, also nicht unmittelbar, wie die militärisch-politischen, von den geographischen, und, wie die wirtschaftlichen, von den geographisch-opportunistischen Verhältnissen abhängig sind. Die Gestaltung dieser Verhältnisse wird nur dann in gesunder Weise erfolgen, wenn das Nationale aus der Freiheit, nicht die Freiheit aus dem Nationalen entbunden wird.«

(S. 340-341)

Weiter unten heißt es:

»Deshalb kann nur ein mitteleuropäisches Programm das Wilsonische schlagen, das real ist, das heißt nicht das oder jenes Wünschenswerte betont, sondern das einfach eine Umschreibung dessen ist, was Mitteleuropa tun kann, weil es zu diesem Tun die Kräfte in sich hat. Dazu gehört:

1. Dass man einsehe: Gegenstand einer demokratischen Volksvertretung können nur die rein politischen, die militärischen und die polizeilichen Angelegenheiten sein ...

2. Alle wirtschaftlichen Angelegenheiten werden geordnet in einem besonderen Wirtschaftsparlamente. Wenn dieses entlastet ist von allem Politischen und Militärischen, so wird es seine Angelegenheiten rein so entfalten, wie es diesen einzig und allein angemessen ist, nämlich opportunistisch ...

3. Alle juristischen, pädagogischen und geistigen Angelegenheiten werden in die Freiheit der Personen gegeben. Auf diesem Gebiete hat der Staat nur das Polizeirecht, nicht die Initiative. Es ist, was hier gemeint ist, nur scheinbar radikal. In Wirklichkeit kann sich nur derjenige an dem hier gemeinten stoßen, der den Tatsachen nicht unbefangen ins Auge sehen will. Der Staat überlässt es den sach-, berufs- und völkermäßigen Korporationen, ihre Gerichte, ihre Schulen, ihre Kirchen und so weiter zu errichten, und er überlässt es dem einzelnen, sich seine Schule, seine Kirche, seinen Richter zu bestimmen.«

GA 24 (Dornach 1982), S. 351-353

Was die Behauptung Steiners anbetrifft, Wilsons Programm der »Völkerbefreiung« ziele in Wahrheit auf die »angloamerikanische Weltherrschaft«, so bezieht sich diese (implizit) auf politische Lehren, die in esoterischen Kreisen der angelsächsischen Eliten tatsächlich verbreitet und in C.G. Harrisons Buch »Das transzendentale Weltall« 1893 angedeutet worden waren. Steiner gibt hier also nicht seine eigenen Meinungen wieder, die aus »antidemokratischen Einstellungen« entsprungen wären, sondern referiert Harrison. (C. G. Harrison: Das transzendentale Weltall. Sechs Vorträge über Geheimwissen, Theosophie und den katholischen Glauben, gehalten vor der »Berean Society« 1893, deutsche Übersetzung 1897.)

Steiners Referat dieses politischen Programms lautet wie folgt:

»Man muss eben in Mitteleuropa ohne Illusion dem ins Auge schauen, was diejenigen Persönlichkeiten seit vielen Jahren als ihren Glauben haben, den sie von ihrem Gesichtspunkte aus als das Gesetz der Weltentwickelung betrachten: dass der anglo-amerikanischen Rasse die Zukunft der Weltentwickelung gehört, und dass sie das Erbe der lateinisch-romanischen Rasse und die Erziehung des Russentumes zu übernehmen hat. Bei der Anführung dieser weltpolitischen Formel durch einen sich eingeweiht dünkenden Engländer oder Amerikaner wird stets bemerklich gemacht, dass das deutsche Element bei der Ordnung der Welt nicht mitzusprechen hat wegen seiner Unbedeutendheit in weltpolitischen Dingen, dass das romanische Element nicht berücksichtigt zu werden braucht, weil es ohnedies im Aussterben ist, und dass das russische Element derjenige hat, der sich zu seinem weithistorischen Erzieher macht.«

GA 24 (Dornach 1982) S. 358-359

Harrison, der der englischen Hochkirche nahestand, schrieb 1893 (zitiert nach der deutschen Übersetzung 1897):

»Wenn wir die zwei unbewussten Perioden ... bei Seite legen, finden wir dieselben Erscheinungen von Geburt, Wachstum und Tod in größerem Maßstabe wiederholt im nationalen Leben, ebenso verschieden von jene der Individuen, aus welchen die Nation zusammengesetzt ist.

Nehmen wir Europa der Neuzeit als Beispiel dafür. Mit Ausnahme der slavischen Völkerschaften, von welchen wir bald sprechen werden, und einem kleinen turanischen Elemente, welches zu unbedeutend ist, um uns mit ihm zu beschäftigen, stellen die Nationen des jetzigen Europas und ihr amerikanischer und kolonialer Nachwuchs die fünfte Unter-Rasse der großen arischen Wurzel-Rasse dar. Zur Zeit des römischen Reiches waren diese Nationen in ihrer Kindheit. Vor der römischen Eroberung waren Gallier, Britannier und Germanen noch keine Nationen; sie hatten nur die Existenz von Volksstämmen. Ihre Besiegung und Einverleibung in das Römische Reich bezeichnete die Zeit ihres Säuglingsalters. Das römische Gesetz war ihre Amme und ihr Beschützer. Der Amme folgte der Vormund. Die Zerstörung des römischen Reiches und die Erhebung des Papsttumes bezeichneten die Periode der Kindheit oder den Beginn ihres intellektuellen Lebens. Die Jugendzeit mit ihren erweiterten Interessen und ausgedehnteren Reihe von Erscheinungen begann mit der Renaissance und endete mit der Reformation. Das Mannesalter des neuen Europas leitet sich vom 16. Jahrhundert her. Wir könnten die Analogie weiter verfolgen, doch bringt uns der nächste Zeitabschnitt, die französische Revolution der Neuzeit zu nahe, um es auf der jetzigen Stufe unserer Untersuchungen rätlich zu machen, in Betreff ihrer Bedeutung zu dogmatisieren. Wenden wir uns dem slavischen Volke zu, welches der sechsten arischen Unter-Rasse angehört, und was finden wir? Ein mächtiges Reich, welches unter einer despotischen Regierung eine Anzahl örtlicher Gemeinden zusammenhält – Rußland. Die Überbleibsel eines Königreichs – Polens, dessen einzige Kraft des Zusammenhanges in seiner Religion liegt und welches trotz derselben schließlich wieder in das russische Reich einbezogen werden wird. Eine Reihe von Volksstämmen, von den fremden Türken unterdrückt haben das Joch abgeschüttelt und sind künstlich zu kleinen Staaten befestigt worden, deren Unabhängigkeit bis zum nächsten großen europäischen Kriege und nicht länger dauern wird. Was sind diese Alle anders, als Kennzeichen einer Unterrasse im Säuglingsalter? Die westlichen Europäer pflegen von deren Barbarei zu sprechen und haben in einem gewissen Sinne Recht. Unsere Civilisation ist ein bloßes Furnier auf den oberen Klassen und so gut ein fremdes Gewächs, als die römische Civilisation es in Britannien war. Ihre Bestimmung ist, in Zukunft aus sich selbst eine höhere Civilisation zu entwickeln. Das russische Reich muss sterben, damit das russische Volk leben kann, und die Verwirklichung der Träume der Panslawisten wird anzeigen, dass die sechste arische Unter-Rasse begonnen hat, ihr eigenes intellektuelles Leben zu leben und nicht länger mehr in ihrer Säuglings-Periode steht. Wir brauchen den Gegenstand nicht weiter zu verfolgen, als dass wir es aussprechen, der National-Charakter werde sie befähigen, sozialistische Experimente durchzuführen, politische und ökonomische, welche im westlichen Europa unzählige Schwierigkeiten bereiten würden.« (S. 45-46)

»Die fünfte Unterrasse kann im Allgemeinen als die englisch sprechenden Völker bezeichnet werden. Natürlich enthält sie Elemente der vierten, ja selbst der dritten Unterrasse, aber es wird Wenige geben, welche leugnen, dass der religiöse Gedanke seinen Schwerpunkt in der Neuzeit verschoben hat, und dass wir im englischen Christentum viel mehr als im lateinischen Christentum die fernere Entwicklung des Gottesbegriffes suchen müssen. Die Entwicklungs-Flutwelle ist von der vierten Unterrasse zurückgegangen und die lateinischen Nationen des modernen Europas weisen einen starken Hang zum wissenschaftlichen Materialismus auf, gegen welchen die ihrer früheren Macht und des Einflusses beraubte Kirche nur schwache Einsprache tun kann. Der Materialismus in England hat eben seine Kraft erschöpft. Die Flut schreitet vorwärts und hat bereits dem Flusse der rückgängigen Strömung Einhalt getan. Die Tendenz zum Materialismus, welche vor 10 bis 15 Jahren die englische Wissenschaft in der Persönlichkeit ihrer höchsten Vertreter kennzeichnete, ist jetzt ein Ding der Vergangenheit.« (S. 63)

Das Memorandum finden Sie in den Quellen

Mitunter entdeckt Zander nicht nur bei Steiner, sondern auch bei ihm nahestehenden Zeitzeugen retrospektive Geschichtsfälschungen. Ein Beispiel ist Otto Graf Lerchenfeld, der Zander dazu bewegte, das Erste Memorandum auszuarbeiten.

Auf S. 1279 schreibt Zander über Otto Graf Lerchenfeld und Rudolf Steiner:

»Mit seinen Memoranden suchte Steiner auf die ›große Politik‹ einzuwirken, indem sie hohen Entscheidungsträgern zugeleitet wurden ... So aktivierte er seine Beziehungen zu Otto Graf Lerchenfeld (1868–1938)155, Mitglied der Anthroposophischen Gesellschaft seit 1907, Reichsrat der bayerischen Krone und Neffe des bayerischen Gesandten und Bundesratsvertreters in Berlin (Hugo Graf Lerchenfeld). Folgt man seiner Selbstdarstellung, suchte er nach einer Lösung der Kriegskrise, die nur ›einer‹, wie er in seiner demokratiekritischen [sic! – die Demokratiefeindlichkeit lauert bei Zander überall] Haltung schrieb, ein großer Mann, Rudolf Steiner eben, bieten könne156. Um den 20. Juni 1917 herum ... habe Steiner seine Dreigliederungsvorstellungen während eines Nachmittagsgesprächs auf Lerchenfelds Fragen hin entwickelt, doch bleiben die Inhalte in Lerchenfelds Darstellung völlig unklar158.

Anmerkung 158:

Lerchenfeld: Die Memoranden, 58. Lerchenfeld benutzte in den retrospektiven Aufzeichnungen die Formulierung ›Dreigliederung des sozialen Organismus‹, gekennzeichnet als ›Sätze aus meinen Erinnerungen‹. Da Steiner aber 1917 diese Terminologie noch nicht verwandte – stattdessen sprach er allenfalls von ›Dreigliedrigkeit‹ (GA 24,372), auch das spätere Dreigliederungskonzept gab es noch nicht – könnten Lerchenfelds Erinnerungen retrospektiv verfälscht sein.«

Zander sucht den Eindruck zu erwecken, als sei die initiative von Steiner ausgegangen, als habe er Einfluss auf die große Politik gesucht. Die Wahrheit ist – zumindest, wenn man dem Zeitzeugen Otto Graf Lerchenfeld glauben will, dem hier eine Fälschung zu unterstellen keinerlei Anlass besteht, und man dem Versuch einer Unterminierung, den Zander in Anmerkung 158 unternimmt, nicht zum Opfer fällt –, dass sich der Graf, der in Berlin die Kopflosigkeit und Desorientierung der führenden Politiker hautnah miterlebte, mit der Frage an Steiner wandte, was zu tun sei. Diese Frage stellte Lerchenfeld Ende Mai 1917 an Steiner. Die längere Begegnung, bei der es zur Ausarbeitung des Ersten Memorandums kam, fand Mitte Juni 1917 in Berlin statt.

Außerdem scheint Zander schon wieder vergessen zu haben, was er im Ersten Memorandum gelesen hat oder er hat es nicht gelesen, was aber unwahrscheinlich ist, da er daraus zitiert. Denn im Ersten Memorandum ist eindeutig von der Dreigliederung des sozialen Organismus die Rede, auch wenn der Terminus »Dreigliederung des sozialen Organismus« nicht auftaucht. Die bereits mehrfach zitierte Passage, in der die Grundidee dieser Dreigliederung skizziert wird, findet sich in GA 24, S. 351-353.

Das Memorandum finden Sie in den Quellen