Nähere Ausführungen zur Gestaltung des Rechtslebens im dreigliedrigen sozialen Organismus finden sich laut Zander in den »Kernpunkten der sozialen Frage« nicht. Diese Behauptung trifft nicht zu.

Auf S. 1308 schreibt Zander:

»Nur im Rechtsbereich besaßen demokratische Verfahren in Steiners Augen einen Ort. Nähere Ausführungen sucht man in den ›Kernpunkten‹ vergebens.«

Im Folgenden sind die Ausführungen Steiners zum Rechtsleben aus den »Kernpunkten« zusammengestellt.

»So kann der soziale Organismus in zwei selbständige Glieder zerfallen, die sich gerade dadurch gegenseitig tragen, dass jeder seine eigenartige Verwaltung hat, die aus seinen besonderen Kräften hervorgeht. Zwischen beiden aber muss sich ein Drittes ausleben. Es ist das eigentliche staatliche Glied des sozialen Organismus. In ihm macht sich alles das geltend, was von dem Urteil und der Empfindung eines jeden mündig gewordenen Menschen abhängig sein muss. In dem freien Geistesleben betätigt sich jeder nach seinen besonderen Fähigkeiten; im Wirtschaftsleben füllt jeder seinen Platz so aus, wie sich das aus seinem assoziativen Zusammenhang ergibt. Im politisch-rechtlichen Staatsleben kommt er zu seiner rein menschlichen Geltung, insoferne diese unabhängig ist von den Fähigkeiten, durch die er im freien Geistesleben wirken kann, und unabhängig davon, welchen Wert die von ihm erzeugten Güter durch das assoziative Wirtschaftsleben erhalten.

In diesem Buche wird gezeigt, wie Arbeit nach Zeit und Art eine Angelegenheit ist dieses politisch-rechtlichen Staatslebens. In diesem steht jeder dem andern als ein gleicher gegenüber, weil in ihm nur verhandelt und verwaltet wird auf den Gebieten, auf denen jeder Mensch gleich urteilsfähig ist. Rechte und Pflichten der Menschen finden in diesem Gliede des sozialen Organismus ihre Regelung.«

GA 23 (Dornach 1976), S. 20

»Als zweites Glied des sozialen Organismus ist zu betrachten das Leben des öffentlichen Rechtes, das eigentliche politische Leben. Zu ihm gehört dasjenige, das man im Sinne des alten Rechtsstaates als das eigentliche Staatsleben bezeichnen könnte. Während es das Wirtschaftsleben mit all dem zu tun hat, was der Mensch braucht aus der Natur und aus seiner eigenen Produktion heraus, mit Waren, Warenzirkulation und Warenkonsum, kann es dieses zweite Glied des sozialen Organismus nur zu tun haben mit all dem, was sich aus rein menschlichen Untergründen heraus auf das Verhältnis des Menschen zum Menschen bezieht. Es ist wesentlich für die Erkenntnis der Glieder des sozialen Organismus, daß man weiß, welcher Unterschied besteht zwischen dem System des öffentlichen Rechtes, das es nur zu tun haben kann aus menschlichen Untergründen heraus mit dem Verhältnis von Mensch zu Mensch, und dem Wirtschafts-System, das es nur zu tun hat mit Warenproduktion, Warenzirkulation, Warenkonsum. Man muß dieses im Leben empfindend unterscheiden, damit sich als Folge dieser Empfindung das Wirtschafts- von dem Rechtsleben scheidet, wie im menschlichen natürlichen Organismus die Tätigkeit der Lunge zur Verarbeitung der äußeren Luft sich abscheidet von den Vorgängen im Nerven-Sinnesleben.«

GA 23 (Dornach 1976), S. 62

»Obenan als notwendige Zielsetzung des öffentlichen Lebens muss gegenwärtig das Hinarbeiten auf eine durchgreifende Trennung des Wirtschaftslebens und der Rechtsorganisation stehen. Indem man sich in diese Trennung hineinlebt, werden die sich trennenden Organisationen aus ihren eigenen Grundlagen heraus die besten Arten für die Wahlen ihrer Gesetzgeber und Verwalter finden.«

GA 23 (Dornach 1976), S. 76-77

»Ein sozialer Organismus, der im Lichte der hier dargestellten Vorstellungsart sich gestaltet, wird durch eine Übereinkunft zwischen den Leitern des Rechtslebens und denen des Wirtschaftslebens die Abgaben regeln können, welche für das Rechtsleben notwendig sind. Und alles, was zum Unterhalte der geistigen Organisation nötig ist, wird dieser zufließen durch die aus freiem Verständnis für sie erfolgende Vergütung von seiten der Einzelpersonen, die am sozialen Organismus beteiligt sind. Diese geistige Organisation wird ihre gesunde Grundlage durch die in freier Konkurrenz sich geltend machende individuelle Initiative der zur geistigen Arbeit fähigen Einzelpersonen haben.

Aber nur in dem hier gemeinten sozialen Organismus wird die Verwaltung des Rechtes das notwendige Verständnis finden für eine gerechte Güterverteilung. Ein Wirtschaftsorganismus, der nicht aus den Bedürfnissen der einzelnen Produktionszweige die Arbeit der Menschen in Anspruch nimmt, sondern der mit dem zu wirtschaften hat, was ihm das Recht möglich macht, wird den Wert der Güter nach dem bestimmen, was ihm die Menschen leisten. Er wird nicht die Menschen leisten lassen, was durch den unabhängig von Menschenwohlfahrt und Menschenwürde zustande gekommenen Güterwert bestimmt ist. Ein solcher Organismus wird Rechte sehen, die aus rein menschlichen Verhältnissen sich ergeben. Kinder werden das Recht auf Erziehung haben; der Familienvater wird als Arbeiter ein höheres Einkommen haben können als der Einzelnstehende. Das ›Mehr‹ wird ihm zufließen durch Einrichtungen, die durch Übereinkommen aller drei sozialen Organisationen begründet werden. Solche Einrichtungen können dem Rechte auf Erziehung dadurch entsprechen, dass nach den allgemeinen Wirtschaftsverhältnissen die Verwaltung der wirtschaftlichen Organisation die mögliche Höhe des Erziehungseinkommens bemisst und der Rechtsstaat die Rechte des einzelnen festsetzt nach den Gutachten der geistigen Organisation.«

GA 23 (Dornach 1976), S. 128-129

»Wie Kindern das Recht auf Erziehung, so steht Altgewordenen, Invaliden, Witwen, Kranken das Recht auf einen Lebensunterhalt zu, zu dem die Kapitalgrundlage in einer ähnlichen Art dem Kreislauf des sozialen Organismus zufließen muss wie der gekennzeichnete Kapitalbeitrag für die Erziehung der noch nicht selbst Leistungsfähigen. Das Wesentliche bei all diesem ist, dass die Feststellung desjenigen, was ein nicht selbst Verdienender als Einkommen bezieht, nicht aus dem Wirtschaftsleben sich ergeben soll, sondern dass umgekehrt das Wirtschaftsleben abhängig wird von dem, was in dieser Beziehung aus dem Rechtsbewusstsein sich ergibt. Die in einem Wirtschaftsorganismus [129] Arbeitenden werden von dem durch ihre Arbeit Geleisteten um so weniger haben, je mehr für die nicht Verdienenden abfließen muss. Aber das ›Weniger‹ wird von allen am sozialen Organismus Beteiligten gleichmäßig getragen, wenn die hier gemeinten sozialen Impulse ihre Verwirklichung finden werden. Durch den vom Wirtschaftsleben abgesonderten Rechtsstaat wird, was eine allgemeine Angelegenheit der Menschheit ist, Erziehung und Unterhalt nicht Arbeitsfähiger, auch wirklich zu einer solchen Angelegenheit gemacht, denn im Gebiete der Rechtsorganisation wirkt dasjenige, worinnen alle mündig gewordenen Menschen mitzusprechen haben.«

GA 23 (Dornach 1976), S. 129-130

»Der auf sich selbst gestellte Wirtschaftsorganismus im Verein mit dem Rechtsorganismus sondert die Geldverhältnisse ganz ab von den auf das Recht gestellten Arbeitsverhältnissen. Die Rechtsverhältnisse werden nicht unmittelbar auf die Geldverhältnisse einen Einfluss haben können. Denn die letzteren sind Ergebnis der Verwaltung des Wirtschaftsorganismus. Das Rechtsverhältnis zwischen Arbeitsleiter und Arbeiter wird einseitig gar nicht in dem Geldwert zum Ausdruck kommen können, denn dieser ist nach Beseitigung des Lohnes, der ein Tauschverhältnis von Ware und Arbeitskraft darstellt, lediglich der Maßstab für den gegenseitigen Wert der Waren (und Leistungen).«

GA 23 (Dornach 1976), S. 136-137

»Eine derjenigen Wirkungen, durch welche die Dreigliederung des sozialen Organismus ihre Begründung im Wesenhaften des menschlichen Gesellschaftslebens zu erweisen haben wird, ist die Loslösung der richterlichen Tätigkeit von den staatlichen Einrichtungen. Den letzteren wird es obliegen, die Rechte festzulegen, welche zwischen Menschen oder Menschengruppen zu bestehen haben. Die Urteilsfindungen selbst aber liegen in Einrichtungen, die aus der geistigen Organisation heraus gebildet sind. Diese Urteilsfindung ist in hohem Maße abhängig von der Möglichkeit, daß der Richtende Sinn und Verständnis habe für die individuelle Lage eines zu Richtenden. Solcher Sinn und solches Verständnis werden nur vorhanden sein, wenn dieselben Vertrauensbande, durch welche die Menschen zu den Einrichtungen der geistigen Organisation sich hingezogen fühlen, auch maßgebend sind für die Einsetzung der Gerichte. Es ist möglich, daß die Verwaltung der geistigen Organisation die Richter aufstellt, die aus den verschiedensten geistigen Berufsklassen heraus genommen sein können, und die auch nach Ablauf einer gewissen Zeit wieder in ihre eigenen Berufe zurückkehren. In gewissen Grenzen hat dann jeder Mensch die Möglichkeit, sich die Persönlichkeit unter den Aufgestellten für fünf oder zehn Jahre zu wählen, zu der er so viel Vertrauen hat, dass er in dieser Zeit, wenn es dazu kommt, von ihr die Entscheidung in einem privaten oder strafrechtlichen Fall entgegennehmen will. Im Umkreis des Wohnortes jedes Menschen werden dann immer so viele Richtende sein, dass diese Wahl eine Bedeutung haben wird. Ein Kläger hat sich dann stets an den für einen Angeklagten zuständigen Richter zu wenden. - Man bedenke, was eine solche Einrichtung in den österreichisch-ungarischen Gegenden für eine einschneidende Bedeutung gehabt hätte. In gemischtsprachigen Gegenden hätte der Angehörige einer jeden Nationalität sich einen Richter seines Volkes erwählen können. Wer die österreichischen Verhältnisse kennt, der kann auch wissen, wieviel zum Ausgleich im Leben der Nationalitäten eine solche Einrichtung hätte beitragen können. – Aber außer der Nationalität gibt es weite Lebensgebiete, für deren gesunde Entfaltung eine solche Einrichtung im gedeihlichen Sinne wirken kann. – Für die engere Gesetzeskenntnis werden den in der geschilderten Art bestellten Richtern und Gerichtshöfen Beamte zur Seite stehen, deren Wahl auch von der Verwaltung des geistigen Organismus zu vollziehen ist, die aber nicht selbst zu richten haben. Ebenso werden Appellationsgerichte aus dieser Verwaltung heraus zu bilden sein. Es wird im Wesen desjenigen Lebens liegen, das sich durch die Verwirklichung solcher Voraussetzungen abspielt, dass ein Richter den Lebensgewohnheiten und der Empfindungsart der zu Richtenden nahestehen kann, dass er durch sein außerhalb des Richteramtes – dem er nur eine Zeitlang vorstehen wird – liegendes Leben mit den Lebenskreisen der zu Richtenden vertraut wird. Wie der gesunde soziale Organismus überall in seinen Einrichtungen das soziale Verständnis der an seinem Leben beteiligten Personen heranziehen wird, so auch bei der richterlichen Tätigkeit. Die Urteilsvollstreckung fällt dem Rechtsstaate zu.«

GA 23 (Dornach 1976), S. 139-140

Steiner soll laut Zander am 12. Februar 1919 das öffentliche Recht dem Rechtsleben, das Privat- und Strafrecht aber dem Geistesleben zugeordnet, damit einen »Systembruch« begangen und »demokratisch legitimierten Rechtsorganen die Durchsetzung von Gerechtigkeit« nicht zugetraut haben.

Auf S. 1308-1309 schreibt Zander:

»In welchem Ausmaß Steiner im Rechtsbereich von punktuellen Einsichten und namentlich von seinen österreichischen Erfahrungen abhängig war, dokumentiert eine relativ frühe Äußerung vom 12. Februar 1919, in der er das öffentliche Recht dem Rechtsleben, jedoch das private Recht und das Strafrecht dem Geistesleben zuordnete (GA 328,39). Diesen offenkundlichen Systembruch erläuterte er gut zwei Wochen später, als er erneut die Trennung »des praktischen Richtens von dem allgemeinen öffentlichen Rechtsleben« forderte (ebd., 134) ... Steiner traute, dies ist der Angelpunkt seiner Position, aufgrund dieser Erfahrungen demokratisch legitimierten Rechtsorganen keine Durchsetzung von Gerechtigkeit zu, die er nur im elitären Bereich des Geistigen garantiert sah.«

Zander findet Fehler und Inkonsistenzen in Steiners Denken, die in Wahrheit seinem begrenzten Verständnishorizont zuzuschreiben sind. Ein »offenkundlicher« Fehler liegt jedenfalls vor, wenn Zander die zitierten Äußerungen einem Vortrag vom 12. Februar zuordnet. In Wahrheit stehen die herangezogenen Äußerungen in einem Vortrag vom 5. Februar 1919 und das Thema wurde nicht gut zwei Wochen später, sondern drei Wochen später, am 25.2. in einer Diskussion im Anschluss an einen Vortrag aufgegriffen.

Die unterschiedlichen Zuordnungen stellen weder einen »Systembruch« dar, wie Zander behauptet, noch zeugen Steiners Äußerungen davon, dass er »demokratisch legitimierten Rechtsorganen keine Durchsetzung von Gerechtigkeit zutraute«.

Dass Richter nach Steiners Auffassung auf Zeit gewählt werden sollten, geht schon aus den »Kernpunkten« hervor: »Obenan als notwendige Zielsetzung des öffentlichen Lebens muss gegenwärtig das Hinarbeiten auf eine durchgreifende Trennung des Wirtschaftslebens und der Rechtsorganisation stehen. Indem man sich in diese Trennung hineinlebt, werden die sich trennenden Organisationen aus ihren eigenen Grundlagen heraus die besten Arten für die Wahlen ihrer Gesetzgeber und Verwalter finden.« (GA 23, Dornach 1976, S. 76-77)

Gewählt werden können die Richter des Zivil- und Strafrechts aber auch noch in einem anderen Sinn: Steiner plädiert hinsichtlich potentieller Delinquenten oder Rechtsstreitender für die freie Richterwahl: »In gewissen Grenzen hat dann jeder Mensch die Möglichkeit, sich die Persönlichkeit unter den Aufgestellten für fünf oder zehn Jahre zu wählen, zu der er so viel Vertrauen hat, dass er in dieser Zeit, wenn es dazu kommt, von ihr die Entscheidung in einem privaten oder strafrechtlichen Fall entgegennehmen will.« (GA 23, Dornach 1976, S. 140)

Die Urteilsfindung obliegt dem einzelnen Richter und ist eine geistige Leistung, die als solche dem Geistesleben zuzurechnen ist. »Die Urteilsvollstreckung fällt« dagegen »dem Rechtsstaate zu.« (GA 23, Dornach 1976, S. 140)

Zander verwechselt hier das »Rechtsleben« als selbstständiges Glied des sozialen Organismus, in dem alle Verhältnisse von Mensch zu Mensch, insofern die Menschen gleich sind, nach demokratischen Prinzipien geregelt werden sollen, mit der Rechtsfindung oder Urteilsfindung als kreativer, individueller geistiger Leistung, die – auch wenn der Richter dem Rechtsleben – angehört, innerhalb des Rechtslebens dem Geistesleben zuzurechnen ist. Die Durchdringung der Sphären in der Urteilsfindung, bei der ein Akt des Geisteslebens im Rechtsleben stattfindet, was die Zugehörigkeit des Richters zum Rechtsleben als sozialer Sphäre nicht verhindert, ist jener anderen vergleichbar, bei der eine Schöpfung des Geisteslebens, die an sich kein Wirtschaftsgut ist, mittels ihrer Aufnahme in den Wirtschaftskreislauf zur Ware wird.

Angeblich ist laut Zander das Geistesleben im dreigliedrigen sozialen Organismus den anderen Gliedern übergeordnet und die Dreigliederung in Wahrheit eine Hierarchisierung zugunsten des autoritär waltenden Geisteslebens.

Auf S. 1309 schreibt Zander:

»Aber zum anderen war das Geistesleben den anderen Bereichen übergeordnet: »Im geistigen Gebiet waltet eine über das materielle Außenleben hinausgehende Wirklichkeit, die ihren Inhalt in sich selber trägt.« (ebd. [=GA 23] 82) Dahinter stand eine Hierarchisierung, die der gleichberechtigten Koexistenz der drei Funktionsbereiche der Dreigliederung zuwiderläuft und die Frage nach deren Zuordungsverhältnis [sic!] scharf aufwarf ...«

Aus dem angeführten Zitat, das mit einer unterstellten Überordnung nichts zu tun hat, will Zander einen Beweis für eben diese Überordnung des geistigen Lebens über die anderen gesellschaftlichen Bereiche und eine damit verbundene Aushebelung der Demokratie ableiten. Wenn man die Begründung des Theologen und Historikers Zander zu Ende denkt, wäre jeder ein Gegner der demokratischen Grundordnung, der der Auffassung ist, in der kirchlichen Messe gehe es um eine über das Materielle hinausgehende Wirklichkeit oder ein Beethovensches Streichquartett habe einen über diese hinausgehenden künstlerischen Wert, weil er damit den demokratischen Rechtsstaat dem Geistesleben unterordnen würde.

Liest man das von Zander herangezogene Zitat im Kontext, handelt es von etwas ganz anderem. Es handelt von der Notwendigkeit eines von staatlicher Gängelung und wirtschaftlicher Bevormundung freien Geisteslebens. Dieses Geistesleben ruht allein auf freier Produktivität der Einzelnen und freier Empfänglichkeit für die von ihnen erbrachten Leistungen und wird vom Prinzip des Wettbewerbs beherrscht. Es ist das Gebiet der sozialen Freiheit schlechthin. Wie Zanders Unterstellung, dem Geistesleben komme bei Steiner eine autoritäre Stellung zu, mit dem Prinzip der freien Empfänglichkeit oder dem freien Seelenbedürfnis vereinbar ist, das bei der Aufnahme der Produktionen dieses Geisteslebens walten soll, ist völlig schleierhaft.

»In alles, was durch das Wirtschaftsleben und das Rechtsbewusstsein in der Organisation des sozialen Lebens hervorgebracht wird, wirkt hinein, was aus einer dritten Quelle stammt: aus den individuellen Fähigkeiten des einzelnen Menschen. Dieses Gebiet umfasst alles von den höchsten geistigen Leistungen bis zu dem, was in Menschenwerke einfließt durch die bessere oder weniger gute körperliche Eignung des Menschen für Leistungen, die dem sozialen Organismus dienen. Was aus dieser Quelle stammt, muss in den gesunden sozialen Organismus auf ganz andere Art einfließen, als dasjenige, was im Warenaustausch lebt, und was aus dem Staatsleben fließen kann.

Es gibt keine andere Möglichkeit, diese Aufnahme in gesunder Art zu bewirken, als sie von der freien Empfänglichkeit der Menschen und von den Impulsen, die aus den individuellen Fähigkeiten selbst kommen, abhängig sein zu lassen. Werden die durch solche Fähigkeiten erstehenden Menschenleistungen vom Wirtschaftsleben oder von der Staatsorganisation künstlich beeinflusst, so wird ihnen die wahre Grundlage ihres eigenen Lebens zum größten Teile entzogen.

Diese Grundlage kann nur in der Kraft bestehen, welche die Menschenleistungen aus sich selbst entwickeln müssen. Wird die Entgegennahme solcher Leistungen vom Wirtschaftsleben unmittelbar bedingt, oder vom Staate organisiert, so wird die freie Empfänglichkeit für sie gelähmt. Sie ist aber allein geeignet, sie in gesunder Form in den sozialen Organismus einfließen zu lassen. Für das Geistesleben, mit dem auch die Entwickelung der anderen individuellen Fähigkeiten im Menschenleben durch unübersehbar viele Fäden zusammenhängt, ergibt sich nur eine gesunde Entwickelungsmöglichkeit, wenn es in der Hervorbringung auf seine eigenen Impulse gestellt ist, und wenn es in verständnisvollem Zusammenhange mit den Menschen steht, die seine Leistungen empfangen ...

Man spricht ja wohl von ›Freiheit der Wissenschaft und des Lehrens‹. Aber man betrachtet es als selbstverständlich, dass der politische Staat die ›freie Wissenschaft‹ und das ›freie Lehren‹ verwaltet. Man entwickelt keine Empfindung dafür, wie dieser Staat dadurch das Geistesleben von seinen staatlichen Bedürfnissen abhängig macht. Man denkt, der Staat schafft die Stellen, an denen gelehrt wird; dann können diejenigen, welche diese Stellen einnehmen, das Geistesleben ›frei‹ entfalten.

Man beachtet, indem man sich an eine solche Meinung gewöhnt, nicht, wie eng verbunden der Inhalt des geistigen Lebens ist mit dem innersten Wesen des Menschen, in dem er sich entfaltet. Wie diese Entfaltung nur dann eine freie sein kann, wenn sie durch keine andern Impulse in den sozialen Organismus hineingestellt ist als allein durch solche, die aus dem Geistesleben selbst kommen. Durch die Verschmelzung mit dem Staatsleben hat eben nicht nur die Verwaltung der Wissenschaft und des Teiles des Geisteslebens, der mit ihr zusammenhängt, in den letzten Jahrhunderten das Gepräge erhalten, sondern auch der Inhalt selbst. Gewiss, was in Mathematik oder Physik produziert wird, kann nicht unmittelbar vom Staate beeinflusst werden. Aber man denke an die Geschichte, an die andern Kulturwissenschaften. Sind sie nicht ein Spiegelbild dessen geworden, was sich aus dem Zusammenhang ihrer Träger mit dem Staatsleben ergeben hat, aus den Bedürfnissen dieses Lebens heraus? Gerade durch diesen ihnen aufgeprägten Charakter haben die gegenwärtigen wissenschaftlich orientierten, das Geistesleben beherrschenden Vorstellungen auf das Proletariat als Ideologie gewirkt. Dieses bemerkte, wie ein gewisser Charakter den Menschengedanken aufgeprägt wird durch die Bedürfnisse des Staatslebens, in welchem den Interessen der leitenden Klassen entsprochen wird. Ein Spiegelbild der materiellen Interessen und Interessenkämpfe sah der proletarisch Denkende. Das erzeugte in ihm die Empfindung, alles Geistesleben sei Ideologie, sei Spiegelung der ökonomischen Organisation.

Eine solche, das geistige Leben des Menschen verödende Anschauung hört auf, wenn die Empfindung entstehen kann: Im geistigen Gebiet waltet eine über das materielle Außenleben hinausgehende Wirklichkeit, die ihren Inhalt in sich selber trägt. Es ist unmöglich, dass eine solche Empfindung ersteht, wenn das Geistesleben nicht aus seinen eigenen Impulsen heraus sich innerhalb des sozialen Organismus frei entfaltet und verwaltet. Nur solche Träger des Geisteslebens, die innerhalb einer derartigen Entfaltung und Verwaltung stehen, haben die Kraft, diesem Leben das ihm gebührende Gewicht im sozialen Organismus zu verschaffen. Kunst, Wissenschaft, Weltanschauung und alles, was damit zusammenhängt, bedarf einer solchen selbständigen Stellung in der menschlichen Gesellschaft.

Denn im geistigen Leben hängt alles zusammen. Die Freiheit des einen kann nicht ohne die Freiheit des andern gedeihen Wenn auch Mathematik und Physik in ihrem Inhalt nicht von den Bedürfnissen des Staates unmittelbar zu beeinflussen sind: Was man von ihnen entwickelt, wie die Menschen über ihren Wert denken, welche Wirkung ihre Pflege auf das ganze übrige Geistesleben haben kann, und vieles andere wird durch diese Bedürfnisse bedingt, wenn der Staat Zweige des Geisteslebens verwaltet. Es ist ein anderes, wenn der die niederste Schulstufe versorgende Lehrer den Impulsen des Staatslebens folgt; ein anderes, wenn er diese Impulse erhält aus einem Geistesleben heraus, das auf sich selbst gestellt ist.

Die Sozialdemokratie hat auch auf diesem Gebiete nur die Erbschaft aus den Denkgewohnheiten und Gepflogenheiten der leitenden Kreise übernommen. Sie betrachtet es als ihr Ideal, das geistige Leben in den auf das Wirtschaftsleben gebauten Gesellschaftskörper einzubeziehen. Sie könnte, wenn sie dieses von ihr gesetzte Ziel erreichte, damit den Weg nur fortsetzen, auf dem das Geistesleben seine Entwertung gefunden hat. Sie hat eine richtige Empfindung einseitig entwickelt mit ihrer Forderung: Religion müsse Privatsache sein. Denn im gesunden sozialen Organismus muss alles Geistesleben dem Staate und der Wirtschaft gegenüber in dem hier angedeuteten Sinn ›Privatsache‹ sein. Aber die Sozialdemokratie geht bei der Überweisung der Religion auf das Privatgebiet nicht von der Meinung aus, dass einem geistigen Gute dadurch eine Stellung innerhalb des sozialen Organismus geschaffen werde, durch die es zu einer wünschenswerteren, höheren Entwickelung kommen werde als unter dem Einfluss des Staates. Sie ist der Meinung, dass der soziale Organismus durch seine Mittel nur pflegen dürfe, was ihm Lebensbedürfnis ist. Und ein solches sei das religiöse Geistesgut nicht. In dieser Art, einseitig aus dem öffentlichen Leben herausgestellt, kann ein Zweig des Geisteslebens nicht gedeihen, wenn das andere Geistesgut gefesselt ist. Das religiöse Leben der neueren Menschheit wird in Verbindung mit allem befreiten Geistesleben seine für diese Menschheit seelentragende Kraft entwickeln.

Nicht nur die Hervorbringung, sondern auch die Aufnahme dieses Geisteslebens durch die Menschheit muss auf dem freien Seelenbedürfnis beruhen.

Lehrer, Künstler und so weiter, die in ihrer sozialen Stellung nur im unmittelbaren Zusammenhange sind mit einer Gesetzgebung und Verwaltung, die aus dem Geistesleben selbst sich ergeben und die nur von dessen Impulsen getragen sind, werden durch die Art ihres Wirkens die Empfänglichkeit für ihre Leistungen entwickeln können bei Menschen, welche durch den aus sich wirkenden politischen Staat davor behütet werden, nur dem Zwang zur Arbeit zu unterliegen, sondern denen das Recht auch die Muße gibt, welche das Verständnis für geistige Güter weckt. Den Menschen, die sich ›Lebenspraktiker‹ dünken, mag bei solchen Gedanken der Glaube aufsteigen: Die Menschen werden ihre Mußezeit vertrinken, und man werde in den Analphabetismus zurückfallen, wenn der Staat für solche Muße sorgt, und wenn der Besuch der Schule in das freie Verständnis der Menschen gestellt ist. Möchten solche ›Pessimisten‹ doch abwarten, was wird, wenn die Welt nicht mehr unter ihrem Einfluss steht. Dieser ist nur allzu oft von einem gewissen Gefühle bestimmt, das ihnen leise zuflüstert, wie sie ihre Muße verwenden, und was sie nötig hatten, um sich ein wenig ›Bildung‹ anzueignen. Mit der zündenden Kraft, die ein wirklich auf sich selbst gestelltes Geistesleben im sozialen Organismus hat, können sie ja nicht rechnen, denn das gefesselte, das sie kennen, hat auf sie nie eine solch zündende Kraft ausüben können.«

GA 23 (Dornach 1976), S. 80-85

Wenn Zander von einem »Geständnis« oder »Zugeständnis« Steiners spricht, kann man in der Regel davon ausgehen, dass es sich um eine tendenziöse Lesart oder eine Projektion in den Text handelt, die sich aus der inquisitorischen Perspektive Zanders gegenüber Steiner ergibt.

Auf S. 1310 schreibt Zander:

»Als er tags darauf vor den Arbeiterausschüssen der großen Betriebe Stuttgarts sprach, gestand er, nicht viel gelesen, sondern sich ›aus dem Leben heraus‹ ein ›Bild‹ gemacht zu haben (ebd. [=GA 331], 26) und namentlich hinsichtlich der Betriebsräte ›nicht ein fertiges Programm‹ zu besitzen (ebd., 30).«

In Wahrheit sagt Steiner, er habe sich »viel Mühe gemacht«, nicht aus dem, was über das behandelte Thema geschrieben worden sei, sondern aus dem Leben heraus ein Bild von der Problematik zu entwickeln:

»Ich habe mir viel Mühe gemacht, mir nicht aus dem, was über die Dinge geschrieben worden ist – denn daraus ist in Wahrheit sehr wenig zu entnehmen –, sondern gerade aus dem Leben heraus ein entsprechendes Bild zu machen. Ich möchte diese Dinge heute nur kurz referieren, damit wir zu konkreten Fragen kommen können. Ich habe es in meinem Buch ja ausführlich begründet: Solange der Glaube herrscht, dass man das, was Arbeitszeit, was Maß und Art der Arbeit sein muss, innerhalb des Wirtschaftskörpers selbst regeln will, so lange kann der Arbeiter nicht zu seinem Recht kommen.« (GA 331, Dornach 1989, S. 26)

Steiner »gesteht« auch nicht »zu«, kein Programm zu haben. Vielmehr betont er, »aus der Wirklichkeit heraus zu denken« und deswegen kein fertiges Programm zu haben, das der sozialen Wirklichkeit übergestülpt werden soll, – die sachgemäßen Einrichtungen sollen aus den konkreten Situationen und Bedürfnissen der Beteiligten heraus von diesen selbst entwickelt – und nicht von ihm (Steiner) offenbart – werden.

»Nehmen wir als eine heute aktuell werdende Frage, von der ich hoffe, dass wir nachher darauf näher eingehen werden, die Frage der Betriebsräte. Sehen Sie, meine Vorschläge sind aus der Wirklichkeit heraus gedacht und daher nicht ein fertiges Programm, sondern etwas, was in Angriff genommen werden soll und was nach und nach, nicht langsam, sondern eben vielleicht auch schnell nach und nach, das werden die Zeitverhältnisse notwendig machen, entstehen soll. Es entsteht durch das, was ich als dreigliedrigen Impuls für eine wirkliche Sozialisierung hinzustellen versuchte, die Möglichkeit, wirklich vorwärtszukommen.« (GA 331, Dornach 1989, S. 30)

Zanders Kritik an Steiners »Programmlosigkeit« ist ein Beispiel für seine willkürliche Wahl der ideellen Standpunkte, von denen aus er Steiner anzuschwärzen sucht. Letztlich ist es gleichgültig, wie Steiner sich verhält: bietet er kein Programm oder keine Lösung an, sondern ermutigt die Beteiligten völlig unelitär und basisorientiert, selbst nach diesen Lösungen zu suchen, wird ihm eben diese Zurückhaltung vorgeworfen, bietet er eine Lösung an, wird ihm dies als elitär und autoritär vorgeworfen.

Angeblich förderte auch eine Nachfrage bei Steiner nichts Besonderes zur Frage der Betriebsräte zutage. Zander insinuiert, Steiner sei »einfach nicht informiert gewesen«, als er über dieses Thema sprach. 

Auf S. 1311 schreibt Zander:

» ... und auch auf eine Nachfrage hin äußerte sich Steiner am 8. nicht detailliert: Die Regierung solle dafür sorgen, ›dass die Betriebsräte ordentlich arbeiten können‹ und ›nicht über sie herrschen‹ (GA 331,36). Möglicherweise war Steiner über diesen Gegenstand schlicht nicht im Detail informiert.«

Einmal mehr skandalös ist es, wie schnoddrig Zander mit einem von ihm zitierten Text umgeht. Aus dem langen Diskussionsvotum Steiners zieht er nichts Detailliertes, allein die Bemerkung, die Regierung solle dafür sorgen, »dass die Betriebsräte ordentlich arbeiten können«, was die Lesart nahelegt, Steiner habe die Regierung für die Arbeit der Betriebsräte verantwortlich gemacht, wo er doch genau das Gegenteil forderte.

Noch viel bemerkenswerter aber ist, dass Steiners Diskussionsvotum einige höchste sprechende Äußerungen enthält, die sein Demokratieverständnis betreffen. Plädiert er doch unter Berufung auf Karl Marx dafür, eine Regierung dürfe »nicht herrschen, sondern nur regieren«. »Denn herrschen muss« so Steiner, »in der Zukunft nicht eine Regierung, sondern die ganze breite Masse des Volkes. Die Regierung muss regieren und lernen, wie man regiert, wenn tatsächlich die ganze breite Masse des Volkes herrscht.« Ob Zander aus diesen Aussagen auch ein gestörtes Verhältnis Steiners zur Demokratie herauslesen würde?

»Ich möchte dazu gleich einiges sagen, weil wir vielleicht am besten vorwärtskommen, indem wir auf die einzelnen Fragen eingehen.

Sehen Sie, im Grunde genommen widerspricht der Sache nach dasjenige, was der verehrte Vorredner eben gesagt hat, dem, was ich vorgebracht habe, eigentlich nicht, nur versuchte ich die Sache nicht theoretisch, sondern so praktisch anzufassen, dass wirklich zu einem Ziel zu kommen ist. Man sollte, wenn man etwas Praktisches erreichen will, sich nicht die Sache gar zu sehr dadurch verderben, dass man nicht irgendwo konkret den Anfang machen will. Irgendwo muss immer bei etwas Praktischem der Anfang schon gemacht werden, und es ist doch immerhin, bevor wir hierher gekommen sind, da unten in einem kleinen Zimmer eine Sitzung gewesen, wo lauter Betriebsräte, die schon vorhanden sind, versammelt waren. Also immerhin, ein Anfang ist gemacht. Es würde sich nur darum handeln – man kann natürlich über diesen Anfang denken, wie man will, man kann ja einen anderen machen –, dass von einem solchen Anfang etwas Praktisches ausgeht. Dabei will ich daran erinnern, dass ich auch gestern davon gesprochen habe, dass zur praktischen Durchführung der Dreigliederung selbstverständlich zunächst notwendig ist, dass eine Art Liquidierungsregierung entsteht. Ich denke durchaus nicht, dass man heute beschließen kann, bis morgen die Dreigliederung einzuführen!

Da wir nun einmal in den Denkgewohnheiten der Menschen leben, die sich bisher nur im Einheitsstaat eine Regierung vorstellen konnten, müssen wir unter allen Umständen, nicht deshalb, weil wir irgendeine Regierung lieben, sondern weil die Menschen bisher zusammen im Staat gelebt haben, für die verschiedensten Dinge eine Regierung haben, von der ich, im Gegensatz zu dem, was der Vorredner ausgeführt hat, aber sagen muss: Ob es die eine oder die andere Regierung ist, ist mir nicht gleich. Also es kommt mir sehr darauf an, dass es sich um eine Regierung handelt, die im Sinne einer wirklichen Sozialisierung Vorschläge macht. Also das empfinde ich nicht als einen richtigen Ausspruch: ›Es kommt mir nicht darauf an, ob es die eine oder andere Regierung ist.‹ Denn gerade wenn eine Regierung da ist, welche wird einsehen müssen, dass sie sich zukünftig nur auf den Rechtsboden zu stellen hat und zu liquidieren hat einerseits das Geistesleben, andererseits das Wirtschaftsleben, dann wird in Gestalt einer solchen Liquidierungsregierung die richtige Instanz da sein, um jene Übergangszeit zu schaffen, und zwar mit vernünftigen Maßregeln. Diese bilden dann die Grundlagen, auf denen die Betriebsräte aufgebaut werden können, welche in der Tat, statt manch anderer Dinge, die heute von verschiedenen Regierungen getan werden, ihre Macht dazu verwenden könnten, die widerspenstigen Unternehmer – verzeihen Sie den Ausdruck – irgendwie zu veranlassen, auf vernünftige Sozialisierungsgedanken einzugehen. Das würde in der Übergangszeit die Aufgabe einer vernünftigen Regierung sein.

Diese Grundlagen, die heute noch von der Liquidierungsregierung geschaffen werden müssen, die könnten schon da sein. Aber dabei müsste gerade diese Liquidierungsregierung durchaus durchdrungen sein von der Erkenntnis, dass durch Regierungsgesetze niemals die Entstehung eines gesunden Wirtschaftslebens gestört werden darf, damit dieses Wirtschaftsleben sich wirklich aus sich heraus aufbauen kann. Daher ist es notwendig, dass die Liquidierungsregierung dafür sorgt, dass Betriebsräte entstehen können. Sie darf sich aber nicht hineinmischen in deren ganze Konstituierung. Diese muss aus der Betriebsräteschaft selber heraus geschehen.

Die Regierung hat keine andere Aufgabe, als dafür zu sorgen, dass die Betriebsräte sich über ihre wirtschaftlichen Territorien hinaus, das heißt aus wirtschaftlichen Notwendigkeiten heraus, konstituieren können. Das wird die beste Grundlage sein, wenn die Regierung dafür sorgt, dass die Betriebsräte ordentlich arbeiten können. Die Betriebsräte können sich dadurch konstituieren, dass die Regierung eine Grundlage schafft und nicht über sie herrschen will.

Heute kennt man den eigentlichen Unterschied zwischen herrschen und regieren nicht, und man kann eigentlich sehr verwundert sein darüber, dass durch die Novemberereignisse die Menschen bezüglich dieser Unterscheidung so wenig gelernt haben. Es gibt – diese Unterscheidung ist nicht von mir, sondern von Karl Marx – einen ganz beträchtlichen Unterschied zwischen regieren und herrschen. Und wenn eine Regierung lernt zu regieren und nicht mehr glaubt, sie sei nur eine Regierung, wenn sie herrschen kann, dann wird selbst das möglich sein, was die breitesten Massen sich unter Sozialisierung vorstellen können. Denn herrschen muss in der Zukunft nicht eine Regierung, sondern die ganze breite Masse des Volkes. Die Regierung muss regieren und lernen, wie man regiert, wenn tatsächlich die ganze breite Masse des Volkes herrscht. Die Leute haben sich noch nicht abgewöhnt, mit dem Ausdruck Herrscher eine einzelne Persönlichkeit oder Körperschaft zu verbinden. Das ist etwas, was gründlich aus den Denkgewohnheiten der Leute heraus muss. Bei der Inangriffnahme einer im Sozialisierungssinne gedachten Körperschaft – und sie muss so gedacht sein wie die Betriebsräte –, da muss vor allen Dingen der Unterschied zwischen regieren und herrschen in die Köpfe hinein. Aus der breiten Masse heraus muss sich alles das bilden, was zu den Befugnissen der Betriebsräte gehört, und das Regieren wird nur darin bestehen, dass eine reale Grundlage, nicht eine Gesetzesunterlage geschaffen wird, damit sich die Betriebsräteschaft frei, rein aus wirtschaftlichen Notwendigkeiten, aus Erkenntnis und Einsicht bilden kann.

Sehen Sie, das ist das Eigentümliche meiner Vorschläge zur Dreigliederung, dass ich nicht Programme aufstelle, sondern dass ich versuche, aus der Wirklichkeit heraus solche Anregungen zu geben, damit etwas Vernünftiges entstehen kann. Ich sage Ihnen offen: Dadurch unterscheiden sich meine Impulse der Dreigliederung von allen übrigen. Gestern ist hier gesagt worden, sie enthielten nichts Neues. Sie enthalten grundsätzlich Neues. Die Leute, die früher von Sozialisierung und überhaupt von irgendwelchen Erneuerungen gesprochen haben, die waren gescheit und wussten bis ins einzelne hinein, was getan werden soll. Ich bilde mir nicht ein, gescheiter zu sein als die anderen, aber ich glaube fest, dass solche Zustände herbeigeführt werden können, durch welche diejenigen, die etwas wissen von den Dingen, zu ihrem Recht kommen können. Ich will nicht den Weg zu dem zeigen, was die Betriebsräte tun sollen, sondern dazu, wie sie sich bilden können. Dann werden sie selbst erkennen, was sie zu tun haben. Ich will die Menschen in der richtigen Weise an ihren Platz stellen. Ich bilde mir nicht ein, etwas Neues zu wissen, aber ich will, dass das Neue entsteht.«

GA 331 (Dornach 1989), S. 34-36