Zander behauptet, Steiner habe das Denken des Menschen nicht als dessen ureigenste Leistung betrachtet. (S. 484) Er habe das erkennende Subjekt aus dem Erkenntnisprozess »eliminiert«. (S. 484)

Steiner glaubte laut Zander angeblich, Gedankengebilde offenbarten sich dem Menschen ohne sein Zutun (S. 485). Er kenne keine »innovative Verfertigung« der Gedanken, das erkennende Subjekt »reproduziere« bloß die Wirklichkeit, aber »schaffe« sie nicht. Er wollte angeblich durch die »Sistierung der erkenntnisproduktiven Rolle des Subjekts die Objektivität des Erkannten« garantieren. (S. 485)

Dadurch sieht Zander »die Eigenständigkeit des Menschen bedroht«, weil Erkenntnis nur in der Reproduktion des Gegebenen liege. (S. 486)

Was schreibt und denkt Steiner wirklich? »Unmittelbar« bietet sich den Sinnen ein »zusammenhangsloses Weltbild« dar. Das »unmittelbar Gegebene« ist die Erfahrung. Diese ist aber noch keine Erkenntnis. Wie kommt der Mensch zur Erkenntnis? Indem er sich von der Sinneswelt in ihrer Unmittelbarkeit entfernt. (GA 1, Dornach 1973, S. 144)

Die »unmittelbare Gestalt der Welt«, ist noch nicht ihre wesentliche, diese kann sich erst durch den Prozess des Erkennens enthüllen. (GA 1, Dornach 1973, S. 144)

Der »ideelle Zusammenhang der Wahrnehmungsbilder« oder Wahrnehmungsakte ist »nicht durch die Sinne gegeben«, sondern wird »von unserem Geiste schlechterdings selbstständig erfasst«. (GA 1, Dornach 1973, S. 148)

Wie lässt sich diese schlechthinnige Selbstständigkeit des menschlichen Geistes mit der von Zander unterstellten Passivität des erkennenden Subjektes, seiner angeblichen »Sistierung« vereinbaren?

Der begriffliche, ideelle Zusammenhang der Wahrnehmungen wird nach Steiner »seiner substantiellen Beschaffenheit nach« im erkennenden »Bewusstsein produziert« (GA 1, Dornach 1973, S. 148) – das Bewusstsein produziert, es reproduziert nicht.

»Erkennen heißt, zu der halben Wirklichkeit der Sinneserfahrung die Wahrnehmung des Denkens hinzufügen, auf dass ihr Bild vollständig werde.« (GA 1, Dornach 1973, S. 150)

Wir müssen also die halbe Wirklichkeit, die uns gegeben ist, durch die andere Hälfte aktiv vervollständigen, wir müssen »unser Denken in Fluss bringen« (GA 1, Dornach 1973, S. 157), auf dass wir uns seiner ideellen Inhalte bemächtigen können.

Der Inhalt der Anschauung wird durch offene Sinne erfasst, der »ideelle Kern der Welt« dagegen, muss »im Geiste durch sein eigenes spontanes Verhalten entstehen«, wenn er »überhaupt zum Vorschein kommen soll«. (GA 1, Dornach 1973, S. 155)

Gäbe es keine denkenden Wesen, kämen die treibenden Prinzipien der Welt niemals zur Erscheinung, nur indem diese ihre Vernunft in Tätigkeit versetzen, können sie diese produzieren und anschauen. (GA 1, Dornach 1973, S. 156)

Während die Inhalte der Wahrnehmung uns als fertige, gegebene gegenübertreten, ohne dass wir an ihrem Zustandekommen Anteil haben, kommt der begriffliche Zusammenhang der Welt nur durch die Tätigkeit unseres Denkens zur Erscheinung. Das Denken ist »der einzige Prozess der Welt«, den wir selbst bewirken, bei dem wir als Tätige dabei sind, wenn er sich vollzieht. (GA 1, Dornach 1973, S. 162)

So verstanden, wird der Mensch zu einem »Vollender des Weltprozesses; er sieht, dass er berufen ist, das zu vollenden, was die andern Kräfte der Welt nicht vermögen, dass er der Schöpfung die Krone aufzusetzen hat« (GA 1, Dornach 1973, S. 166), die Krone seiner selbst erzeugten Erkenntnis nämlich.

Konsequenterweise kann Steiner in Kapitel X der »Einleitungen ...« schreiben: »Im Erkennen erfahren wir, welches die ideellen Bedingungen der Sinneserfahrung sind; wir bringen die Ideenwelt, die in der Wirklichkeit schon liegt, zum Vorschein; wir schließen also den Weltprozess in der Hinsicht ab, dass wir den Produzenten, der ewig die Produkte hervorgehen lässt, aber ohne unser Denken ewig in ihnen verborgen bliebe, zur Erscheinung rufen.« (GA 1, Dornach 1973, S. 196.)

Wie ist vor diesem Hintergrund die Aussage Steiners zu verstehen, das Denken sei der Idee gegenüber »Organ der Auffassung«, wie das Licht dem Auge gegenüber? (GA 1, Dornach 1973, S. 126)

Das Denken ist tätiges Organ der Auffassung, ein Organ, das selbst produziert, was es wahrnimmt. Die »Grundlinien ...« erklären: »Wir müssen uns zweierlei vorstellen: einmal, dass wir die ideelle Welt tätig zur Erscheinung bringen, und zugleich, dass das, was wir tätig ins Dasein rufen, auf seinen eigenen Gesetzen beruht.« »So ungewohnt die Vorstellung sein mag, dass wir selbst ein Objektives zur Erscheinung bringen, dass wir mit anderen Wor­ten eine Erscheinung nicht bloß wahrnehmen, sondern zugleich produzieren: sie ist keine unstatthafte«. (GA 2, Dornach 1979, S. 52)

Mit ästhetischen Fragen hat sich Steiner laut Zander »nur sporadisch« befasst.

Auf S. 489 schreibt Zander:

»Vermutlich hat er [Steiner] die Ästhetik nur nebenbei und in unterschiedlichen Anlässen mit unterschiedlichen Zielen traktiert ...«

Zander beschränkt sich in seiner Beurteilung von Steiners Ästhetik auf die Wiederholung der Ergebnisse von Wolfgang Raub, der in seiner Dissertation von 1964 »Rudolf Steiner und Goethe. Literatur und Wissenschaftstheorie im Werk Steiners« keinen stringenten Zusammenhang zwischen Steiners Positionen und Goethes Aussagen zur Kunst finden konnte. Zanders ebenfalls von Raub übernommene Erklärung für diese ungeprüft übernommenen Ergebnisse, Steiner habe sich nur sporadisch mit dem Thema befasst, erscheint nicht nur angesichts von Steiners Publikationsplänen Ende der 1880er Jahre unangemessen, sondern auch angesichts der Fülle an späteren Vorträgen zur Ästhetik bis in seine letzten Lebensjahre hinein.

Wie aus Steiners Korrespondenz mit Eduard von Hartmann hervorgeht, den er Ende der 1880er Jahre in Berlin persönlich kennenlernte, hatte Steiner zu dieser Zeit geplant, eine philosophische Ästhetik zu schreiben, von der sich das Fragment eines Kapitels über das Komische erhalten hat (»Über das Komische und seinen Zusammenhang mit Kunst und Leben«, in GA 271, Dornach 1985).

Vgl. hiezu besonders den Vortrag in Dornach vom 9. April 1921 (in GA 271, Dornach 1985), in welchem der damals bereits sechzigjährige Steiner seine lebenslange Beschäftigung mit ästhetischen Fragen sogar in verschiedene Epochen gliederte. (Den Vortrag finden Sie in den Quellen).

Manche Autoren vertreten auch die begründete Auffassung, die von Steiner konzipierte »Universalästhetik« (Herbert Witzenmann) habe die Gestalt der »Philosophie der Freiheit« angenommen.

Vgl. zu Steiner als Ästhetiker: Roland Halfen, »Was sie gemacht hat, habe ich gemacht. Rudolf Steiner und die bildenden Künste« in »Anthroposophie in Geschichte und Gegenwart«, S. 387-421.

Erst in »Goethes Weltanschauung« von 1897 soll der Mensch laut Zander vom »Rezipienten« der Idee zu deren »Produzenten« aufgestiegen sein und zwar im Zusammenhang mit Steiners Reflexionen über die menschliche Sittlichkeit.

Steiner, schreibt Zander auf S. 494, habe 1897 ziemlich exakt das Gegenteil seiner eigenen Positionen aus den 1880er Jahren vertreten:

»Gegenüber der Idee war der Mensch vom Rezipienten zum Produzenten geworden. Im Kontext von Überlegungen zur »sittlichen Weltordnung« hieß es bei Steiner: ›Wer aber Ideen in ihrer eigensten Wesenheit anzuschauen vermag, der wird bei den sittlichen gewahr, dass nichts Äusseres ihnen entspricht, dass sie unmittelbar als Ideen produziert werden. Ihm ist klar, dass weder ein göttlicher Wille, noch eine sittliche Weltordnung wirksam sind, um solche Ideen zu erzeugen.«
Der Konnex der Idee zur Anschauung, zum Äußeren, war gelöst, die Identifizierung mit dem Göttlichen dekonstruiert. Dies ist ziemlich exakt das Gegenteil seiner Position der 1880er Jahre.«

Diese Behauptung ist unzutreffend.

In den »Grundlinien« schreibt Steiner 1886: »Der Mensch soll ... sich den Zweck, das Ziel seines Daseins, seiner Tätigkeit selbst vorsetzen. Wenn seine Handlungen Ergebnisse von Gesetzen sind, so müssen diese Ge­setze solche sein, die er sich selbst gibt. Was er an sich selbst, was er unter seinesgleichen, was er in Staat und Geschichte ist, das darf er nicht durch äußerliche Bestimmung sein. Er muss es durch sich selbst sein«. (GA 2, Dornach 1979, S. 116-117.)

»Nicht indem der Mensch irgendwelchen Geboten des Weltenlenkers nachforscht, handelt er nach dessen Absichten, sondern indem er nach seinen eigenen Einsichten handelt. Denn in ihnen lebt sich jener Weltenlenker dar. Er lebt nicht als Wille irgendwo außerhalb des Menschen; er hat sich jedes Eigenwillens begeben, um alles von des Menschen Willen abhängig zu machen. Auf dass der Mensch sein eigener Gesetzgeber sein könne, müssen alle Gedanken auf außermenschliche Weltbestimmungen aufgegeben werden.« (GA 2, Dornach 1979, S. 125.)

Im zweiten Band der »Einleitungen« 1887: »Indem unsere Erkenntnistheorie zu dem Schluss gekommen ist, dass der Inhalt unseres Bewussteins nicht bloß ein Mittel sei, sich von dem Weltengrund ein Abbild zu machen, sondern dass dieser Weltengrund selbst in seiner ureigenen Gestalt in unserem Denken zutage tritt, so können wir nicht anders, als im menschlichen Handeln auch unmittelbar das unbedingte Handeln jenes Urgrundes selbst erkennen. ... Der Weltenlenker hat sich seiner Macht begeben, hat alles an den Menschen abgegeben, mit Vernichtung seines Sonderdaseins und dem Menschen die Aufgabe zuerteilt: wirke weiter«. (GA 1, Dornach 1973, S. 200.)

»Soll das Handeln des Menschen nichts anderes sein als die Verwirklichung seines eigenen Ideengehaltes, dann ist es natürlich, dass solcher Gehalt in ihm liegen muss. Sein Geist muss produktiv wirken. ... [Diese Produktivität bezieht sich auf die Hervorbringung sittlicher Ideen. Über die sittliche Idee, den Antrieb des freien Handelns heißt es weiter:] ... Diese Idee wird sich umso fruchtbarer erweisen, in je bestimmteren Umrissen, mit je deutlicherem Inhalt sie im Geiste auftritt. ... Die Antriebe für unser Handeln müssen daher immer in Form individueller Intentionen auftreten.« (GA 1, Dornach 1973, S. 203.)

1897 schreibt Steiner: »Wer aber Ideen in ihrer eigensten Wesenheit anzuschauen vermag, der wird bei den sittlichen gewahr, dass nichts Äußeres ihnen entspricht, dass sie unmittelbar als Ideen produziert werden. Ihm ist klar, dass weder ein göttlicher Wille, noch eine sittliche Weltordnung wirksam sind, um solche Ideen zu erzeugen«. Diese von Zander zitierten Sätze stellen nicht das »exakte Gegenteil« der Positionen der 1880er Jahre dar, sie zeigen vielmehr, wie sehr Steiner sich in seinen philosophischen Auffassungen treu blieb.

Steiner hat sich laut Zander erst seit 1886 mit philosophischen Fragen beschäftigt.

Zander schreibt auf S. 502:

»Mit philosophischen Fragen könnte sich Steiner außerhalb seiner Beschäftigung mit Goethe seit 1886 befaßt haben.«

Diese Annahme ist unzutreffend. Sie stimmt weder mit Zanders eigenen Befunden, noch mit der Sachlage überein.

Wie Zander selbst im Kapitel über Goethe und Steiner darlegte, begann die Beschäftigung Steiners mit Kant bereits 1877, in seinem 16. Lebensjahr. Mit Fichte befaßte sich Steiner seit seinem 18. Lebensjahr, mit Schelling mindestens seit seinem 19. Lebensjahr, wovon sein Brief an Josef Köck vom Januar 1881 zeugt. Andere Briefe aus dem Jahr 1881 dokumentieren eine umfangreiche, engagierte Beschäftigung mit den führenden Autoren des zeitgenössischen philosophischen Materialismus wie Dühring und Büchner, aber auch mit Hegel und Hegelianern wie Carriere und Rosenkranz, mit Herder, Schiller, Lessing, Plato usw.

Am 13. Januar 1881, kurz vor seinem 20. Geburtstag, schreibt Steiner an Josef Köck:

»Es war die Nacht vom 10. auf den 11. Januar, in der ich keinen Augenblick schlief. Ich hatte mich bis 1/2 1 Uhr mitternachts mit einzelnen philosophischen Problemen beschäftigt, und da warf ich mich endlich auf mein Lager; mein Bestreben war voriges Jahr, zu erforschen, ob es denn wahr wäre, was Schelling sagt: ›Uns allen wohnt ein geheimes, wunderbares Vermögen bei, uns aus dem Wechsel der Zeit in unser innerstes, von allem, was von außen hinzukam, entkleidetes Selbst zurückzuziehen und da unter der Form der Unwandelbarkeit das Ewige in uns anzuschauen.‹ Ich glaubte und glaube nun noch, jenes innerste Vermögen ganz klar an mir entdeckt zu haben – geahnt habe ich es ja schon längst –; die ganze idealistische Philosophie steht nun in einer wesentlich modifizierten Gestalt vor mir; was ist eine schlaflose Nacht gegen solch einen Fund! Und der Morgen kam heran – ein eisig kalter ... da war ich denn schnell reisefertig und stand zur Abfahrt bereit – an mich ein Brief war da; daß er von Dir war, entdeckte ich ja gar bald an der Adresse. Ich war im Waggon, und bei einer erbärmlichen Lampe las ich ––– meine augenblicklichen Gefühle zu schildern, ist heute schon ganz unmöglich; ich war außer mir ––– ungeheuer bewegt; was war zu tun, um beruhigt zu werden ––– offenbar nichts! Ich war den ganzen Tag nicht derselbe des vorigen Tages – natürlich materialiter gemeint, nicht formaliter – ...

Nun ist es schon zwei Tage. Nachdem ich nun zwei Tage als Mensch die Sache betrachtet habe, ist es meine Aufgabe, Deine Natur als Philosoph zu betrachten, und da, sage ich Dir ganz offen, bist Du mir die unbegreiflichste der Unbegreiflichkeiten. Kehre vor allem in Dein Innerstes ein und betrachte es als Deine Pflicht, zu erforschen, ob Dein Liebesverhältnis ganz frei war von Selbstsucht – ganz bis aufs Äußerste frei –, denn was Du da vom Verzichten als einem unedlen Handeln sagst, das gestehe ich offen, daß ich's nicht verstehe; noch weniger, warum es besser gewesen, Du hättest nicht verzichtet. – War es ganz frei davon, dann, guter Freund, brauchst Du weiter nichts, Du hast genug, hast Cyane in Dein Herz aufgenommen; da lebt sie drinnen fort, ihr Bild genügt Dir und das kannst Du mit dem Freunde sogar teilen; das ist echte Liebe, wo man mit dem Bilde zufrieden ist und das Fleisch nicht braucht, ja es unterdrückt. Da gibt's kein Grämen, keinen Kummer. Sage das auch dem Freunde! –  ...

Du hast doch auch Plato studiert! Und wahrscheinlich auch seinen ›Staat‹! Studiere ihn gelegentlich noch einmal; vielleicht bekommst Du andere Ansichten. ...« (GA 38, Dornach 1985, S. 13-16)

Am 27. Juli 1881 schreibt Steiner an Rudolf Ronsperger (der Brief ist auch deswegen bemerkenswert, weil er dokumentiert, dass Steiner schon damals die Absicht hegte, eine Philosophie der Freiheit zu verfassen):

»...

Sie fragen nach den Prolegomena. Es tut mir leid, daß Sie so lange nichts zu sehen bekommen, doch die Sache ist eben gerade kein Kinderspiel. Sie entschuldigen mal meine Aufrichtigkeit, doch ich muß gestehen, daß mir Ihre Worte, ob ich mein System nicht gar fallen gelassen habe, tatsächlich sonderbar vorkommen. Die Philosophie ist bei mir ein inneres Bedürfnis, ohne die mir das Leben ein leeres Nichts ist; dies Bedürfnis zu befriedigen hat eben mein von Ihnen sogenanntes System. Dies Bedürfnis könnte doch wohl nur mit dem Tode verschwinden. Von einem Fallenlassen kann also doch – wie Sie es ja ohnedies nur tun – nur im Scherze gesprochen werden.

Der August wird mir hoffentlich die nötige Ruhe gewähren, einen großen Teil meiner lieben Freiheitsphilosophie zu Papier zu bringen. Ich werde nicht ermangeln, Ihnen von den Fortschritten Mitteilung zu machen. Ich werde mich jeder weiteren Exkursion, allen Vergnügungen zeitraubender Art entziehen und mich bloß dieser Arbeit widmen. Über die Form bin ich ja auch nicht mehr im geringsten im Zweifel; es wird ein schlichter Prosastil; nicht Brief- und nicht Dialogform; ohne viel Paragraphenteilung, ohne die üblichen gelehrten Zitate und schulmäßigen Schnörkeleien.

Sehen Sie sich Schillers Aufsatz ›Über naive und sentimentalische Dichtung‹ an und denken Sie sich solche Aufsätze aneinandergereiht, so haben Sie die Form der Freiheitsphilosophie, die auch schon durch ihre Form ankündigen soll, daß sie nicht zimmermannisch aussehen will. Ganz ungezwungen geschriebene, die Liebe zur Sache bekundende, aneinandergereihte Aufsätze zusammenhängenden Inhaltes lesen sich eben angenehmer als Bücher, die nichts als ein auseinandergetriebenes Inhaltsverzeichnis sind.

Die Systematik darf natürlich dennoch nicht fehlen; nur muß sie eben nicht im Sinne der ›Formalästhetik‹ den Leser fortwährend belästigen. Ich würde mich freuen, wenn es dahin käme, durch die Form den Inhalt so nahe zu bringen, daß man philosophische Gedanken wie einen unterhaltenden und lehrreichen Roman liest. Ich glaube wohl, daß es möglich ist. Um was ich Sie bezüglich der ganzen Sache nur bitten möchte, ist das, doch ja nicht ― auch nicht scherzweise – anzunehmen, daß ich meine Philosophie aus der Luft gegriffen habe und deshalb auch wieder jeden Augenblick von mir werfen könne. Man kann dies mit einem Werke tun, nicht aber mit einer Welt- und Lebensanschauung. Wo ich hinblicke, sehe ich nur neue Bestätigungen meiner Ansichten und sie überzeugen mich von Tag zu Tag mehr.

Ich bedauere, daß Sie zu dem Abschreiben Ihres Stückes nicht kommen können; ich würde mich herzlich freuen, wenn ich, wenn wir uns zu meiner gewiß großen Freude wieder sehen, von dem Stücke ebensoviel sehen könnte, als Sie mal ganz gewiß von der ›Freiheitslehre‹ werden zu sehen bekommen.

Daß Sie Dr. Büchner lesen, erfreut mich gerade nicht sehr. Sie scheinen mich auch bezüglich dieses reaktionären und fortschrittsfeindlichen Menschen total mißzuverstehen. Ich habe doch nie behauptet, daß, was in dem Buche ›Kraft und Stoff‹ steht, etwa unwahr wäre, doch es ist auch wahr, daß zweimal zwei vier ist, ohne daß jemand gerade die Albernheit besitzen wird, darüber ein dickes Buch zu schreiben. Solch selbstverständliche, triviale, abgeschmackte und auf dem Tagesmarkt überall feile Wahrheiten werden eben dem Leser hier kredenzt und es verlohnte sich wahrscheinlich nicht der Mühe über solche Kleinlichkeiten, Beschränktheiten irgendwelche Worte zu verlieren, wenn nicht diese Sorte von Wissenschaftlern und in einer versteckten Art ultramontanen Finsterlinge anderen Schlages seichte Köpfe erzeugen würden, die für höhere Wahrheiten dann ebenso unempfänglich sind wie ein Kotzebuesches Publikum für ein klassisches Drama. Diese Finsterlinge untergeordneten Ranges, diese Nicolais des neunzehnten Jahrhunderts muß man eben nur deshalb bekämpfen, weil sie Ware feil bieten, die nach dem Mittagstische oder im Kaffeehaus gleich den Schriften Saphirs recht gut schmeckt ― sie kostet ja eben keinen Splitter geistiger Anstrengung und nicht das geringste Talent –, und die Aufmerksamkeit für alles Höhere gründlich hinwegfegt. Darf ich Ihnen deshalb einen wohlgemeinten, freundschaftlichen Rat geben, so rate ich: werfen Sie dieses reaktionäre, lichtfeindliche Buch keck in die Ecke. – Als jungen Poeten wird es Ihnen nur Schaden bringen. Was Sie bis jetzt gelesen, brauchen Sie nicht zu vergessen, denn es ist aus diesem Buche eben nichts zu lernen. Sie werden ja eben als Poet auch einmal in die Lage kommen gegen derlei rückschrittliche, undeutsche und moralisch tief stehende Verirrungen zu kämpfen. Also es ist alles wahr, was da gesagt wird, aber äußerst selbstverständlich, fade und wohl albern sogar.

Mehr und sogar ungemein erfreulich ist mir Ihre eingehende Beschäftigung mit dem mittlerweile auch mir – freilich auch bloß in den letzteren Teilen – näher bekannt gewordenen Gervinus. Die vorzügliche Charakteristik der Hauptaufgaben unserer Zeit gereicht mir zur wirklichen Befriedigung. Die Würdigung Schillers ist zwar keine durchgreifende, aber mit Liebe zur Sache geschrieben und von einer gewissen moralischen Nähe getragen. Ich weiß nicht, ob Sie wissen, daß ich Deinhardts ›Über Schillers ästhetische Briefe‹ gelesen habe. Wenn Sie sich diese Schrift einmal ansehen können, so sehen Sie die Schrift, den Stil und den moralischen Standpunkt eines wahren Philosophen.

Ich habe Dührings dickes Buch ›Kursus der Philosophie‹ eben am Tische; auch zum größeren Teile schon durchgelesen. Ich habe mein Urteil über Dühring vollständig abgeschlossen. Seine Philosophie ist der ärgste Ausbund aller philosophischen Rückläufigkeiten. Seine Anschauungen sind durchaus barbarisch und kulturfeindlich, zuweilen sogar roh. Seine Schriften über die Juden und über Lessing sind die strengsten Konsequenzen seiner beschränkten egoistischen Philosophie. Damit ist genug gesagt. Seine materielle Lage ist zum Erbarmen. Er hat sich in der Jugend ein gewisses Quantum des roheren Wissens angeeignet, welches er nun in verschiedener Weise dem Publikum auftischt. Er muß aus Leibeskräften Bücher schreiben, denn dies ist sein einziger Erwerb, er kann zu seinem Wissen nichts mehr dazulernen, denn er hat wohl nicht die Mittel, während dieser Zeit sich und seine Familie zu erhalten. Dazu kommen die tatsächlichen Verfolgungen, die Schmähungen, die er erlitten hat und noch erleidet; nun dies ist wohl eine traurige Lage. Ich für meine Person habe nun mit Dühring in der Philosophie wohl abgeschlossen; die Zeit, die ich auf ihn verwendet habe, ist wohl rein verloren. ―

Sie schreiben auch über Talent und Genie. Sie wissen, ich nehme an, daß der menschliche Geist aus mehreren Teilen besteht, aus Talent, Gedächtnis etc. und auch Genie. Dieses letztere hat nun ein jeder wesentlich, doch die verschiedenen Bestandteile des Geistes bei den verschiedenen Individuen sind mehr oder weniger ausgebildet. Wo das Genie besonders stark ausgebildet ist, dort nennt man den Menschen eben bloß Genie; doch hat auch das bloße Talent ein wenig Genie, und wird zugegeben, daß dieses spezielle Anlage ist, so stellt uns eine solche eben auch jedes gewöhnliche Talent dar. Die äußeren Einflüsse sind ohne inneres Korrelat ein leeres Nichts.

›Wär nicht das Auge sonnenhaft,
Wie könnten wir das Licht erblicken.
Läg nicht in uns des Gottes eigene Kraft,
Wie könnt uns Göttliches entzücken.‹

Darum charakterisiert sich Goethes Anschauungsweise weit besser als in dem von Ihnen angeführten Zitate.

So gerne ich auch weiterschreiben würde, muß ich es doch für heute aufgeben, entschuldigen Sie das, lieber Freund; ich fahre morgen nach Wiener Neustadt und es ist bereits spät in der Nacht.

Ich bin erfreut von jeder von Ihnen an mich geschriebenen Zeile, bescheren Sie mir diese Freude wieder bald und sind Sie herzlich versichert, daß Ihre Zeilen aufnehmen wird wie der edelste der Freunde:

Rudolf Steiner« (GA 38, Dornach 1985, S. 18-22)

In seiner Behandlung von »Wahrheit und Wissenschaft« ignoriert Zander die wesentlichen systematischen Positionen dieses Werkes.

Zander meint, Steiner habe eine »nicht nur akzidentelle«, sondern »konstitutive subjektive Prägung des Denkens« verneint. (S. 505.)

Die Auseinandersetzung Steiners mit Fichtes Wissenschaftslehre zielt darauf ab, die Erkenntnis als kreative Urleistung des Ich, des Subjektes, nachzuweisen, Steiner will damit der Fichteschen »Tathandlung« einen substantiellen Inhalt geben.

Begriffe und Ideen werden laut Steiner vom Ich im Erkenntnisakt hervorgebracht (GA 3, Dornach 1980, S. 60. ), »niemand wird glauben«, dass die eigenen Begriffe »ohne eigene Denkarbeit gegeben« sind. (GA 3, S. 59. )

Für Begriffe und Ideen gilt: »Wir müssen sie hervorbringen, wenn wir sie erleben wollen.« (GA 3, S. 60.)

Eine Fülle von Hinweisen auf die konstitutive Bedeutung des Erkenntnissubjekts – des Ich – für das Erscheinen des ideellen Weltinhaltes und damit das Zustandekommen der Erkenntnis, übergeht Zander. Wie könnte er sonst behaupten, das Erkenntnissubjekt wirke nur akzidentell beim Denken mit? In Wahrheit ist die Bedeutung des Erkenntnissubjekts, das Steiner als Ich bezeichnet, substantiell und essenziell für die Realisation der Kategorie des Erkennens, denn ohne dessen Tätigkeit gäbe es gar kein Erkennen: »Das Ich setzt das Erkennen«! Begriffe und Ideen sind in der Form der »intellektuellen Anschauung« hervorgebracht-gegeben, in der mit der Denkform zugleich der Inhalt (hervorgebracht-) mitgegeben ist. (GA 3, S. 60.)

»Ursachlichkeit als Gedankenform« »müssen wir selbst hervorbringen.« (GA 3, S. 60.)

»Das Denken ist ein Tun, das einen eigenen Inhalt im Momente des Erkennens hervorbringt«, ein Satz, der an die Sätze der »Grundlinien« anknüpft, wonach die Tätigkeit des Denkens zugleich die Erscheinung eines Inhaltes ist, der auf seiner eigenen Gesetzmäßigkeit beruht. Der Erkenntnisakt, die Leistung des erkennenden Ich, besteht darin, das von ihm Hervorgebrachte und dadurch Gegebene mit dem von ihm Empfangenen, dem wahrgenommenen Weltinhalt, zu vereinigen. (GA 3, S. 70.)

Die Erkenntnis und damit die Wirklichkeit wird durch die synthetischen Akte des Ich im Erkennen erst geschaffen. (GA 3, S. 70.)

»Die Idee des Erkennens kann mit dem ihr entsprechenden Gegebenen nur durch die Tätigkeit des Bewusstseins vereinigt werden. Ein wirkliches Bewusstsein existiert nur, wenn es sich selbst verwirklicht.« (GA 3, S. 72.)

»Das Ich setzt das Erkennen«, darin besteht seine ursprüngliche Tathandlung. (GA 3, S. 79.)

Die Selbstbeobachtung zeigt, wie das Ich das Weltbild als Synthese von Gegebenem und Begriff aufbaut. (GA 3, S. 62.)

»Der Umstand, dass das Ich durch Freiheit sich in Tätigkeit versetzen kann, macht es ihm möglich, aus sich heraus durch Selbstbestimmung die Kategorie des Erkennens zu realisieren ...«. (GA 3, S. 83.)

Schließlich: »Was als Wesen der Welt vom Ich gesetzt wird, das wird nicht ohne das Ich, sondern durch dasselbe gesetzt.« (GA 3, S. 85.)