Angeblich strebte Steiner im ersten Theologenkurs 1921 eine eigene Kirchengründung an.

Auf S. 1620 schreibt Zander:

»Die hinter Steiners Äußerungen stehende scharf antikirchliche Haltung ... , die nur ein Verhältnis der Überbietung zu den großen Kirchen zuließ, führte konsequenterweise zur Propagierung einer eigenen Kirchengründung, die Steiner im Gegensatz zu manchen anwesenden Theologen sofort ins Auge fasste. »Dazu wird es notwendig sein, so viele Menschen, wie Sie können – nicht von der Kirche, aber von denjenigen Menschen, die noch nicht dazu sich entschließen können, aus der Kirche auszutreten, um mit Ihnen freie Gemeinden zu gründen –, herauszuretten aus der Kirche« (GA 342,65).«

Steiner strebte keineswegs die Gründung einer eigenen Kirche an. In diesem Zusammenhang ist auch die infame Formulierung Zanders zurückzuweisen, die Christengemeinschaft sei eine »anthroposophische Kirche«, die er in seinem Kapitel über die Christengemeinschaft immer wieder verwendet (z.B. S. 1611 und 1617). Ebensowenig wie die Waldorfschulen »Anthroposophenschulen« sind, ist die Christengemeinschaft eine »anthroposophische Kirche«. Sie ist, wie der Name schon sagt, eine Gemeinschaft von Christen, die von Priestern und angehenden Priestern aus der Anthroposophie heraus gegründet wurde, deswegen ist sie aber noch lange keine »anthroposophische Kirche«.

Bereits im ersten Theologenkurs machte Steiner deutlich:

»Sie müssen die religiöse Gemeindebildung für sich vornehmen und dann den Zusammenschluss mit der anthroposophischen Bewegung suchen. Die anthroposophische Bewegung – das kann ich ja durchaus sagen – wird niemals ermangeln, diesen Zusammenschluss zu fördern, selbstverständlich; aber es würde nicht gut sein, gewissermaßen aus den anthroposophischen ›Gemeinden‹ heraus kirchliche Gemeinden zu bilden.« (GA 342, 13. Juni 1921, Dornach 1993, S. 62)

»Die anthroposophische Bewegung als solche kann keine Begründerin von neuen religiösen Gemeinschaften und so weiter sein, sondern man muss irgendwie die religiöse Gemeinschaft aus sich heraus bilden, oder – soweit man kann – sie mit dem Menschenmaterial bilden, das heute rein aus Vorurteilen noch innerhalb der alten Kirche steht.« (GA 342, 13. Juni 1921, Dornach 1993, S. 66)

Diese Ablehnung einer »anthroposophischen Kirchengründung« brachte Steiner auch gleich zu Beginn des zweiten Theologenkurses im September 1921 zum Ausdruck:

»Anthroposophie, meine lieben Freunde, muss ja durchaus ehrlich auf dem Boden stehenbleiben, von dem ich oftmals gesprochen habe, indem ich sagte: Anthroposophie als solche kann nicht religionsbildend auftreten; Anthroposophie als solche muss sich die begrenzte Aufgabe stellen, als Geisteswissenschaft die gegenwärtige Kultur und Zivilisation zu befruchten, und es kann nicht in ihren Absichten liegen, selber religionsbildend aufzutreten. Eigentlich liegt es ihr ganz fern, in irgendeiner Weise in den Entwicklungsprozess des religiösen Lebens als solchen unmittelbar einzugreifen.« (GA 343, 26. September 1921, Dornach 1993, S. 13).

Zander behauptet, die Institutionalisierung der Christengemeinschaft habe bereits während des ersten Theologenkurses 1921 begonnen und er habe den Kandidaten die (Übersetzung der)Hauptteile der Weihehandlung übergeben.

Auf S. 1620 schreibt Zander:

»Man begann noch in diesem Kurs mit Schritten zur Institutionalisierung. Joachim Sydow unterzeichnete ›eine Art Verpflichtungsformular‹, Steiner übergab einigen (allen?) Kandidaten ›die meisten kultischen Texte, auch die vier Hauptteile der Weihehandlung‹ ...«.

Die Behauptungen, Joachim Sydow habe »eine Art Verpflichtungsformular« unterschrieben und den Teilnehmern des Kurses seien »die meisten kultischen Texte, auch die vier Hauptteile der Weihehandlung« übergeben worden, treffen nicht zu. Joachim Sydow, auf dessen Erinnerungen Zander sich bezieht, spricht vom zweiten Theologen-Kurs im September/Oktober 1921. Im Juni hatte Rudolf Steiner noch nicht alle vier Teile der lateinischen Messe für die altkatholischen Priester übertragen. Dies geht auch aus dem ersten Theologen-Kurs hervor, den Zander nach eigenem Bekunden gelesen hat. Dort heißt es auf S. 135-136:

»Emil Bock: Wir haben davon gehört, dass es schon Rituale gibt, die bei Gelegenheit einmal ausgegeben worden sind, ein Taufritual und ein Beerdigungsritual und ein Stück einer umgearbeiteten Messe. Ich möchte nun einmal fragen, ob es die Möglichkeit gibt, dass wir zum Hineinleben solche Stücke kennenlernen könnten?

Rudolf Steiner: Gewiss, diese Dinge würden als Ausgangspunkte in Betracht kommen. Das Beerdigungsritual ist dadurch entstanden, dass ein Mitglied unserer Bewegung ein solches Beerdigungsritual haben wollte. Natürlich musste man anknüpfen an die gewöhnlichen Beerdigungsrituale, aber dadurch, dass man das gewöhnliche Ritual übersetzt hat, natürlich nicht lexikographisch, sondern richtig, ist etwas wesentlich anderes herausgekommen. Diese Dinge würde ich einmal zurückerbitten und würde sie sehr gerne zugrundelegen unserer Kursbetrachtung. Ich werde einfach unseren Freund bitten, dass er sie abschreibt und dann vielleicht hierher schickt; das ist durchaus möglich. Beim Messopfer habe ich zunächst auch nur eine Übersetzung des [katholischen] Messopfers gegeben, aber es ist eigentlich etwas Neues geworden. Aber ich bin mit der Übersetzung nur bis zum Offertorium gekommen, sie ist noch nicht fertig.« (GA 342, 14. Juni 1921, Dornach 1993, S. 135-136)

Angeblich fand der zweite Theologenkurs in einer konfliktgeladenen Atmosphäre statt, die besonders Friedrich Rittelmeyer zum Ausdruck gebracht habe.

Auf S. 1622 schreibt Zander:

»Rittelmeyer, der aus Krankheitsgründen nicht teilnehmen konnte, legte in einem offenen Brief die Probleme auf den Tisch, die Steiner sonst, meist von treuen Anhängern umgeben, in dieser Deutlichkeit wohl nicht oft zu hören bekam: Anthroposophie erzeuge ein Gefühl der ›Hilflosigkeit‹ angesichts ›der Fülle von Behauptungen auf allen möglichen Gebieten‹ (GA 343,50). Sie sei zudem hierarchisch strukturiert, weil sie zwar die subjektive Autonomie der Erkenntnis aller behaupte, aber zugleich ›Einzelne ihnen an Tiefeneinsichten weit voraus sein sollen‹. So fühlten sich viele Teilnehmer ›zu Menschen niederer Klasse herabgedrückt‹ (ebd., 51).«

Zanders steile These stellt wieder einmal ein Musterbeispiel seiner Verfälschungstechnik dar. Zander erdreistet sich sogar, die Ausführungen Rittelmeyers auf die Teilnehmer des Theologenkurses zu beziehen. In Wahrheit spricht Rittelmeyer in seinem offenen Brief an Rudolf Steiner, der vor den Teilnehmern des Theologenkurses verlesen wurde, gar nicht von sich und den Teilnehmern dieses Kurses, sondern von den Zeitgenossen, die – trotz ihrer großen Sehnsucht nach der Anthroposophie – dieser ablehnend, ja sogar feindselig gegenüberstehen. Über diese Zeitgenossen sagt er: »Als einer, der sonst in diesen Kreisen, wo er nur konnte, für das Verständnis Ihres Werkes eingetreten ist, möchte ich hier einmal ganz der Sprecher dieser Kreise Ihnen gegenüber werden. Auf diese Weise hoffe ich, Sie zu veranlassen, etwas Zusammenhängendes und Zusammenfassendes für die Stimmung dieser Menschen zu sagen, was ihnen hilft, das anthroposophische Denken und Handeln besser zu verstehen. Denn so lebhaft ich auf der einen Seite mitempfinde, wie fremd, ja abstoßend vielen dieser Menschen die Anthroposophie zunächst erscheint, so sicher ist auf der anderen Seite meine Erfahrung, dass eine Erfüllung des großen, tiefen Sehnens unserer Zeit gerade durch die rechte Erkenntnis der anthroposophischen Lebenserrungenschaften gewonnen wird. ... Lassen Sie mich noch für unverständige Leser – die sonst sagen könnten, man habe den deutlichen Eindruck, dass ich selbst schon wieder an der Anthroposophie irre geworden sei –, wenigstens andeuten, dass ich glaube, recht wohl zu wissen, was auf alle diese Einwände zu antworten ist, und dass ich es fast tägliche tue.« (GA 343, 27. September 1921, Dornach 1993, S. 49 ff.)

Zander phantasiert in den zweiten Theologenkurs Auseinandersetzungen hinein, die gar nicht stattgefunden haben.

Auf S. 1623 schreibt er:

»Ähnlich verhielt er [Steiner] sich angesichts des Vorwurfs, ›ihr [Anthroposophen] legt nicht aus, ihr legt unter‹. ›Aber, meine lieben Freunde, wenn man sich eben hineinlebt in die Evangelien, so kann man nicht anders, als diese Dinge so empfinden‹ (ebd., 201). Die mögliche Befreiung von einer erstarrten theologischen Tradition durch den lebensphilosophischen Ansatz mündete im Getto der Autorität einer ›Empfindung‹ und bestätigte so ungewollt das Gefühl der autoritär induzierten Hilflosigkeit, das Rittelmeyer benannt hatte.«

Diese Behauptungen des »hard-core-Historikers« Zander haben rein gar nichts mehr mit der historischen Realität zu tun. Niemand unter den Teilnehmern erhob gegen Steiner den »Vorwurf«, er lege die Evangelien nicht aus, sondern lege ihnen etwas unter. Vielmehr formulierte Steiner diesen Einwand im Verlauf eines Vortrages selbst und gab die von Zander zitierte Erwiderung darauf. Im übrigen hat das, was während dieses Theologenkurses geschah auch nicht im entferntesten etwas mit »Lebensphilosophie« zu tun. Auch von einem »Getto der Autorität einer Empfindung« und »autoritär induzierter Hilflosigkeit« von denen Zander faselt, kann keine Rede sein. An der betreffenden Stelle in seinem Vortrag nimmt nämlich Steiner gar keine Deutung der Evangelien vor, sondern weist lediglich auf die »wunderbare Komposition« des 13. Kapitels des Matthäus-Evangeliums hin und spricht davon, dass man diese, wenn man es verständig lese, gar nicht anders als wunderbar empfinden könne.

Wörtlich heißt es:

»Nun, wenn wir von solchem Fühlen und Empfinden aus gerade an das 13. Kapitel des Matthäus-Evangeliums herantreten, meine lieben Freunde, dann kommt man vor allen Dingen – nehmen Sie die Worte, wenn sie ausgesprochen werden, jetzt durchaus so, dass sie nach ihrem Empfindungsgehalt nicht das sind, als was sie sich gegenüber dem heutigen Zeitbewusstsein leicht ausnehmen –, man kommt vor allen Dingen in eine hohe Bewunderung hinein gegenüber der ganzen Komposition des 13. Kapitels des Matthäus-Evangeliums. Die ganze Komposition ist etwas, was sich nur bewundern lässt. Wir haben zuerst vor uns das Gleichnis vom Sämann. Nach diesem Gleichnis vom Sämann haben wir drei andere Gleichnisse, das vom Aussäen des Krautes und des Unkrautes, die da wachsen sollen bis zur Ernte, wir haben das Senfkorn-Gleichnis und das Sauerteig-Gleichnis. Zwischen diesen Gleichnissen haben wir eine gewisse Unterweisung der Jünger, die anders zuhören sollen, als das Volk zuhört. Wir haben dann die Entlassung des Volkes, und dann die weiteren Gleichnisse, die nur den Jüngern gesagt werden. Wir werden im Verlaufe des Kapitels geführt zu Gleichnissen, die dem Volke gesagt werden, und zu Unterweisungen, die den Jüngern gegeben werden über diese Gleichnisse, die dem Volke gesagt wurden. Wir haben dann das Hereinnehmen der Jünger, ich möchte sagen, in die Heimlichkeit, Gleichnisse, die nur den Jüngern gesagt werden, und dann die Frage: Habt ihr diese Gleichnisse verstanden? – und die Antwort: Ja, Herr. – Dies ist eine wunderbare Komposition, und sie wird noch wunderbarer, wenn wir auf die Einzelheiten eingehen. Wir haben erst das Gleichnis vom Sämann einfach hingestellt. Nachdem die einleitenden Worte gesprochen sind, wird von dem Sämann erzählt, der da aussät; [es wird erzählt], dass auch die Vögel das Ausgesäte fressen, dass anderes auf steinigen Boden fällt, dort nur schwache Wurzeln fassen und zuwenig innere Kraft bekommen kann, anderes auf gutes Land fällt. Wir haben das einfach hingestellt; und nachdem dieses hingestellt ist, beginnen die folgenden Gleichnisse schon damit, dass gesagt wird: ›Das Himmelreich gleichet ...‹. Die folgenden Gleichnisse werden mit diesem Anfang eingeleitet: ›Das Himmelreich gleichet...‹, auch vor dem Volke. Das Volk wird also so sorgfältig vorbereitet, indem erst bloß Tatsachen hingestellt werden, dann wird es sanft dazu hingeleitet, dass dasjenige, was da als Tatsache gesagt wird, auf das Wirken der Himmelreiche hinzielt. Mehr wird dem Volke nicht gesagt; dann wird es entlassen. Die folgenden Gleichnisse werden den Jüngern beigebracht: das Gleichnis vom Schatz im Acker, das Gleichnis von der kostbaren Perle, und das Gleichnis von den Fischen, die im Netz gefangen werden; viele werden verworfen, und die brauchbaren werden gesammelt als Nahrung. Diese Gleichnisse werden nur den Jüngern selber gesagt, und sie werden gefragt, ob sie sie verstehen. Sie antworten mit einem ›Ja‹, das aber in diesem Evangelium-Zusammenhang dasselbe bedeutet, wie wenn wir heute, wenn wir überhaupt noch dabei das Richtige fühlen, sagen: Ja, Amen. – Darin liegt eine wunderbare Komposition, die aber nicht gesucht ist, denn sie ergibt sich eben auf naturgemäße Art.

Der Skeptiker kann ja sagen: Ihr legt nicht aus, ihr legt unter. Aber, meine lieben Freunde, wenn man sich eben hineinlebt in die Evangelien, so kann man nicht anders, als diese Dinge so empfinden; und es wird schon seine Gründe haben, dass man so empfinden muss, dass man in diese wunderbare Komposition sich einleben muss, dass man wirklich nötig hat, auf alle Einzelheiten des Evangeliums zu schauen. Sie sind eine wunderbare Komposition.« (GA 343, 1. Oktober 1921, Dornach 1993, S. 199 ff.)

Tiefgehende Kommunikationsprobleme erfindet Zander zwischen Steiner und den angehenden Priestern der Christengemeinschaft im zweiten Theologenkurs und findet wieder einmal ein »Zugeständnis« Steiners.

Auf S. 1623 schreibt Zander:

»Wie tief gleichwohl die Kommunikationsprobleme reichten, wird an den Stellen deutlich, wo Steiner sich gezwungen sah, sein Unverständnis einzugestehen: Beispielsweise reagierte er auf die Kritik am Erkenntnismonopol der ›Einzelnen‹ mit ihren ›Tiefeneinsichten‹, dass er ›eigentlich gar nicht recht sehe, was er [dieser Einwand] für einen Inhalt hat‹ (GA 343,62). Steiner sezierte dann zwar messerscharf die Aporie der Haltung des Kritikers, dass man zwar seine [Steiners] Hilfe suche, sich aber beschwere, wenn man ›auf sich selbst zurückgeworfen werde« (ebd.), doch er begriff nicht, dass der Versuch, Erkenntnis und Autonomie zu vermitteln, als autoritäre Zumutung angekommen war.«

In Wirklichkeit existierte weder der »Kritiker« von dem Zander phantasiert, noch existierten Kommunikationsprobleme, noch eine autoritäre Zumutung. In Wirklichkeit handelt es sich um eine Fragenbeantwortung, in der Steiner auf jenen offenen Brief Rittelmeyers einging, in dem dieser die Seelenverfassung seiner Zeitgenossen beschrieben hatte, die trotz ihrer großen Sehnsucht nach ihr der Anthroposophie ablehnend gegenüberstehen.

Rittelmeyer hatte über diese Zeitgenossen geschrieben:

»Sie möchten sich gerne frei und groß fühlen, gewissermaßen an der Spitze der Menschheit schreitend, und nun sollen sie sich darein finden, dass einige Einzelne ihnen an Tiefeneinsichten weit voraus sein sollen, und dass sie keine Aussicht haben in diesem Leben, sie auch nur annähernd zu erreichen. Dadurch fühlen sie sich zu Menschen niederer Klasse herabgedrückt und ihres Menschenkönigtums gleichsam beraubt. Wie ein Attentat auf ihre Menschenwürde empfinden sie es – auch wenn sie gerade dies vielleicht nicht aussprechen.

Viele dieser Menschen haben ein starkes Gefühl dafür, dass die Hilfe nur aus einer höheren Welt kommen kann. Aber gerade da scheint sie nun die Anthroposophie gleichsam auf sich selbst zurückzuwerfen. Es ist ihnen, als ob sich hier der Mensch selbst gleichsam von unten her in die Höhe pumpen wolle und solle, mit unendlicher Mühe und Langsamkeit, während sie sich sehnen, von oben her ergriffen zu werden, von oben her mit neuem, kraftvollem Leben erfüllt zu werden.« (GA 343, 27. September 1921, Dornach 1993, S. 50-51).

Rudolf Steiner ging am 27. September ausführlich auf Rittelmeyers Brief ein und setzte sich seinerseits mit den von Rittelmeyer beschriebenen Empfindungen und Einwänden der Zeitgenossen auseinander.

Die Antwort Steiners lautete:

»Ein weiterer Einwand hat mich, muss ich sagen, eigentlich außerordentlich überrascht, aber da ihn Dr. Rittelmeyer ausgesprochen hat, so wird er ja eben schon vorkommen. Das ist der Einwand, dass die Menschen sich beleidigt fühlen darüber, dass sie, statt auf etwas gewiesen zu werden, das in ihnen selbst liegt, darauf gewiesen werden, was vielleicht einzelne wissen, was einzelne geschaut haben. Die Menschen fühlten sich, so wird gesagt, ›ihres Menschenkönigtums beraubt‹, sie fühlen sich groß und sollten sich klein fühlen. – Ja, ich muss gestehen, dieser Einwand hat mich aus dem Grunde überrascht, weil ich eigentlich gar nicht recht sehe, was er für einen Inhalt hat. Denn, nicht wahr, es wird gleich darauffolgend [in dem Briefe] gesagt, ja, die Menschen erwarteten, es käme etwas, was sie von oben ergreife, aber nun fühlten sie sich auf sich selbst zurückgeworfen, auf Übungen, die sie machen sollten, auf Anstrengungen, um etwas zu begreifen. – Ich fühle erstens einen außerordentlichen Widerspruch zwischen diesen beiden Behauptungen. [Einerseits: Die Menschen möchten sich gerne frei und groß fühlen, gewissermaßen an der Spitze der Menschheit schreitend – andererseits haben viele ein starkes Gefühl dafür, dass die Hilfe nur aus einer höheren Welt kommen kann und sehnen sich danach, von oben her ergriffen zu werden, von oben her mit neuem, kraftvollem Leben erfüllt zu werden.]

Zweitens muss ich dazu sagen: Mir ging es mein ganzes Leben hindurch so – und das ist jetzt schon ziemlich lang –, dass ich außerordentlich froh war, wenn mir eine Wahrheit von irgendeiner Seite zukam, und ich fand es eigentlich immer entsetzlich, wenn jemand eine Wahrheit deshalb abwies, weil sie nicht auf seinem eigenen Grund und Boden gewachsen war. Das ist ja eine ganz egoistisch-subjektive Beurteilung, aber in solchen egoistischen, subjektiven Beurteilungen stecken wir darinnen, und deshalb brauchen wir eine Erneuerung [des Denkens in] der [heutigen] Zeit, weil das vorhanden ist.

So haben wir hier ein Bündel von Beurteilungen, die gerade zeigen, wie notwendig es ist, dass ein Wandel eintritt. Denn wenn diese Urteilsrichtungen weiter bestehen, die gerade die Not unserer Zeit hervorgerufen haben, dann kommen wir nicht weiter. Daher ist es schon notwendig, dass man sagt, wenn es auch grob klingen mag: In bezug auf diese Einwände ist vor allen Dingen das zu sagen, dass die Einwendenden darüber nachdenken sollten, inwiefern sie sie nicht machen sollten, damit sie nicht das Hereinkommen des Neuen gerade durch ihre ururältesten Vorurteile stören. — Das ist dasjenige, was da vor allen Dingen gesagt werden muss.« (GA 343, 27. September 1921, Dornach 1993, S. 61-62)