Statt sich mit dessen Theorie der übersinnlichen Erkenntnis zu befassen, unterstellt Zander Steiner, dieser habe 1910 einen unverhüllten Autoritätsglauben eingfordert und die Anerkennung der höheren Welten zur Voraussetzung ihrer Erfahrbarkeit gemacht.

Auf S. 677-678 schreibt Zander:

»Eine Positionsveränderung im Verhältnis von induktiver und deduktiver Erkenntnis (einschließlich ihrer hierarchischen Implikationen) indiziert eine 1910 nachgetragene Vorbemerkung in der ›Theosophie‹. Steiner stellte den induktiven Erkenntnisgewinn, also Erkenntnis als Ergebnis der Naturbetrachtung und des Schulungsweges, auf den Kopf: ›Der Grundsatz: erst höhere Welten anzuerkennen, wenn man sie geschaut hat, ist ein Hindernis für dieses Schauen selbst. Der Wille, durch gesundes Denken erst zu verstehen, was später geschaut werden kann, fördert dieses Schauen. Es zaubert wichtige Kräfte der Seele hervor, welche zu diesem ›Schauen des Sehers‹ führen.‹ (GA 9,23) Steiner forderte nunmehr einen kaum verhüllten Autoritätsglauben ein, der die Anerkennung höherer Welten zur Voraussetzung ihrer Erfahrbarkeit machte.«

Diese Behauptungen sind nichts anderes als eine Tautologie. Ist nicht die Anerkennung (wohl: der Existenz) irgendeiner Welt die Voraussetzung ihrer Erfahrbarkeit? Könnte es eine Naturwissenschaft geben, ohne die Anerkennung der Existenz einer Natur als Voraussetzung ihrer Erfahrbarkeit? Ist die Voraussetzung ihrer Erfahrbarkeit nicht der Grund, auf dem jede Annahme einer Erkennbarkeit spezifischer Welten fußt? Könnte überhaupt jemand außer Zander auf die Idee kommen, eine Welt erkennen zu wollen, deren Existenz er nicht voraussetzt? Dass es eine »höhere Welt gibt«, ist aber nicht eine These, die auf Autorität hin akzeptiert werden muss, sondern das Ergebnis einer Erfahrung, die jeder Mensch machen kann, weil das »richtig verstandene Denk-Erleben schon Geist-Erleben ist ...«, denn »die geistige Wahrnehmungswelt kann dem Menschen, sobald er sie erlebt, nichts Fremdes sein, weil er im intuitiven Denken schon ein Erlebnis hat, das rein geistigen Charakter trägt.« (http://www.anthroweb.info/ga_04_konsequenzen.htmlGA 4, 1978, S. 256.http://www.anthroweb.info/rudolf-steiner-werke/ga04-philosophie-der-freiheit/ga-04-konsequenzen.html) Aber: »Was als Wahrnehmung auftritt, das muss der Mensch auf seinem Lebenswege schlechterdings erwarten«, da Wahrnehmungen gegeben sind und nicht erzeugt werden. (GA 4, 1978, S. 256.http://www.anthroweb.info/rudolf-steiner-werke/ga04-philosophie-der-freiheit/ga-04-konsequenzen.html) Will er Wahrnehmungen jedoch nicht bloß erwarten, sondern aktiv aufsuchen, sollte er sich an die entsprechenden Schauplätze begeben, an denen das Auftreten dieser Wahrnehmungen zu erwarten ist bzw. die entsprechenden Erkenntnismittel ausbilden, die deren Erscheinen prinzipiell erwarten lassen.

Ebenso, wie manche Beobachtungsfelder in den Naturwissenschaften den naturgegebenen Beobachtungsorganen des Menschen entzogen sind, gibt es auch geistige Beobachtungsfelder, die den natürlichen Beobachtungsorganen des Menschen entzogen sind. Die Naturwissenschaften lösen dieses Problem, indem sie hochkomplizierte Beobachtungsapparate und Experimentalanordnungen konstruieren, die Abbilder der Theorien ihrer Beobachtungsobjekte sind, von denen jene Beobachtungen erzeugt werden, die dem menschlichen Erkenntnisapparat nicht unmittelbar gegeben sind. Teilchenbeschleuniger, Elektronenmikroskope und Hubble-Teleskope sind solche »zugerüsteten« Ersatzorgane, die jene Beobachtungsfelder erschließen, die dem Menschen zunächst unzugänglich sind. Diese Ersatzorgane sind instrumentelle Objektivationen der Hypothesen, Modelle und Theorien, die ihnen zugrunde liegen, zu deren Bestätigung oder Widerlegung sie konstruiert wurden. Soll die Hypothese der Existenz geistiger Wesen außer dem menschlichen bestätigt oder widerlegt werden, müssen erst die Beobachtungsorgane zugerüstet werden, welche die Beobachtung solcher Wesen ermöglichen. Da es sich um seelische und geistige Wesen handelt, können die Beobachtungsorgane nur seelischer oder geistiger Art sein. Die Weigerung, die Konstruktion solcher Beobachtungsorgane zu versuchen, kommt der Weigerung gleich, mögliche Experimente mit Hilfe von Beobachtungsinstrumenten durchzuführen, da sie »die Anerkennung von möglichen Beobachtungen zur Voraussetzung ihrer Erfahrbarkeit« machen (Zander). Ebensowenig wie die Erkenntnismittel hochtechnisierter Wissenschaftsdisziplinen naturgegeben sind, sind die Erkenntnismittel der (hochtechnisierten) Geisteswissenschaft naturgegeben. Sie müssen erst erzeugt werden. Dass aber die Phänomene, die durch die artifiziellen Beobachtungsinstrumente erst erzeugt werden, deswegen nicht wirklich wären, behauptet nicht einmal ein so scharfer Kritiker der naturwissenschaftlichen Methodologien wie Paul Feyerabend. Die Existenz oder Möglichkeit von Beobachtungen zu bestreiten, nur weil man selbst keinen Zugang zu den betreffenden Beobachtungsinstrumenten hat, ist unwissenschaftlich und dogmatisch. Dass spezifisch naturwissenschaftliche Beobachtungsinstrumente nicht auf geisteswissenschaftliche Beobachtungsfelder angewendet werden können, versteht sich von selbst.

In dem Wenigen, was Zander in seinem Kapitelchen über die »theosophische Erkenntnistheorie« vorbringt, deckt er einmal mehr die fiktive Spur der Widersprüche, der heimlichen Revisionen und Selbstdistanzierungen auf, die sich durch die 23 Jahre der theosophischen Arbeit Steiners angeblich hindurchzieht. Er versucht diese Geschichte der Inkonsequenz insbesondere an der Verhältnisbestimmung von Natur- und Geisteswissenschaften festzumachen, die sich im Lauf der Zeit bei Steiner gravierend verändert habe.

1904 soll Steiner ein komplementäres Verhältnis zwischen Natur- und Geisteswissenschaften gesehen haben, das auch vor einer Konkurrenz mit der ersteren nicht zurückscheute:


Zander, S. 676-677:

»1904 erklärte Steiner, die Theosophie brauche die Konkurrenz mit den Naturwissenschaften nicht zu scheuen.«


Auch 1905 »scheute« er angeblich nicht vor einer solchen Konkurrenz zurück:


Zander, S. 676-677:

»1905 noch hatte er erkenntnisrealistisch etwa seine Lektüren in der Akasha-Chronik für präziser gehalten als die Aufzeichnungen von ›Geschichtsschreibern‹ (GA 11,21) und auch die Konkurrenz mit den Naturwissenschaften nicht gescheut.«


Noch 1909 habe Steiner in der Vorrede zur »Geheimwissenschaft im Umriss« eine volle »Übereinstimmung mit allen Fortschritten gegenwärtiger Wissenschaft« gesehen, da die »sichtbaren Tatsachen deutlich auf eine verborgene Welt« hinwiesen.

1913 habe er in einer neuen Vorrede zur »Geheimwissenschaft« das Verhältnis – wie Zander unter Verwendung einer seiner bevorzugten Floskeln sagt – »neu justiert«. Nunmehr könne die Erkenntnis, »die gegenwärtig als wissenschaftlich« gelte, »nicht in die übersinnlichen Welten eindringen«, die dafür angeführten Gründe seien »in gewissem Sinn unwiderleglich«. Die »Spannung« zwischen beiden Wissensformen habe sich – so Zander – beträchtlich erhöht, die Naturwissenschaft liege nun nicht mehr auf gleicher Augenhöhe.


Zander, S. 678-679:

»1913 justierte Steiner in der ›Geheimwissenschaft‹ seine Position am Verhältnis der theosophischen zur naturwissenschaftlichen Erkenntnis nach. Dazu muss man sich kurz die Grundposition, die er noch 1909 in diesem Buch bekräftigt hatte, vor Augen führen: ›Die sichtbaren Tatsachen weisen deutlich durch ihre eigene innere Wesenheit auf eine verborgene Welt hin.‹ (GA 13,42), weshalb ›die Darstellung dieses Buches in Wirklichkeit mit allen Fortschritten gegenwärtiger Wissenschaft übereinstimmt‹. [...]

1913 aber änderten sich in der ›Geheimwissenschaft‹ Tonlage und Aussagen. Steiner akzeptierte explizit, ›dass diejenige Erkenntnis, welche gegenwärtig als wissenschaftlich gilt, nicht in die übersinnlichen Welten vordringen kann, und diese Gründe sind in gewissem Sinne unwiderleglich‹ (ebd., 17).

Vielmehr habe der Mensch eine Art Anlage, die durch Meditation zur übersinnlichen Schau ›erkraftet‹ werden könne (ebd., 19). Nicht mehr seine wissenschaftliche Kompetenz, sondern sein ›Erleben‹ war also zum zentralen Faktor zur Begründung geheimwissenschaftlicher Erkenntnisse geworden. Die Spannung zwischen den Naturwissenschaften und Steiners Geisteswissenschaft hatte sich beträchtlich erhöht, die naturwissenschaftliche Erkenntnis lag nicht mehr auf gleicher Augenhöhe mit der theosophischen: Sie konnte die theosophische Erkenntnis nicht mehr so einfach stützen, sie aber auch nicht mehr leichthin kritisieren.«


1920 in einer neuen Vorrede zur »Geheimlehre« (sic!) habe sich die »Schere« noch weiter geöffnet, einen eigenständigen Weg der Naturwissenschaften gebe es nicht mehr, die Ansicht von 1909, die sichtbaren Tatsachen wiesen auf eine verborgene Welt, sei damit »ausgehöhlt«.


Zander, S. 680:

»Und diese Öffnung der Schere zwischen Natur- und Geisteswissenschaften blieb offen, in einer anderen Variante trifft man darauf im Mai 1920. Steiner gab in einem neuen Vorwort zur ›Geheimlehre‹ die Leseanweisung, im ›Erleben‹ den hermeneutischen Schlüssel der Epistemologie zu sehen, eine Position, ›die mir das wiederholte Durchleben des Dargestellten notwendig werden ließ‹ (GA 13,24). In dieser Perspektive arbeitete er auch den Text der einführenden Bemerkungen um: ›In der Naturwissenschaft liegen die Tatsachen im Felde der Sinneswelt vor; … der geisteswissenschaftliche Darsteller muss diese Seelenbetätigung in den Vordergrund stellen … Man lernt erkennen, dass für die naturwissenschaftliche Darstellung das 'Beweisen' etwas ist, was an diese gewissermaßen von außen herangebracht wird. Im geisteswissenschaftlichen Denken liegt aber die Betätigung, welche die Seele beim naturwissenschaftlichen Denken auf den Beweis wendet, schon in dem Suchen nach den Tatsachen. Mann kann diese nicht finden, wenn nicht der Weg zu ihnen schon ein beweisender ist. Wer diesen Weg wirklich durchschreitet, hat auch schon das Beweisende erlebt; es kann nichts durch einen von außen hinzugefügten Beweis geleistet werden‹. (GA 13,40 f.)

Der Weg zur Erkenntnis war damit an die Absolvierung des Schulungsweges geknüpft. Einen eigenständigen Weg der Naturwissenschaften gab es nicht. Die Äußerung des Jahres 1909, dass ›die sichtbaren Tatsachen … deutlich durch ihre eigene innere Wesenheit auf eine verborgene Welt hin[weisen]‹ (ebd., 42), war damit ausgehöhlt.«


1925 schließlich, im letzten Vorwort zur »Geheimwissenschaft«, habe Steiner »alle Leinen zu einer gleichberechtigten Koexistenz gekappt«. »Geheimwissenschaft« sei nun zum »Gegensatz von Naturwissenschaft« geworden. Dadurch habe Steiner seine Epistemologie endgültig umkodiert, »von objektiver Erkenntnis auf subjektives Erleben.«


Zander, S. 680:

»Am 10. Januar 1925, zweieinhalb Monate vor seinem Tod, verfasste Steiner ein letztes Vorwort zur ›Geheimwissenschaft‹. Darin kappte er alle wichtigen Leinen einer gleichberechtigen Koexistenz von exoterischer Wissenschaft und esoterischer Erkenntnis. [...]

›'Geheimwissenschaft' ist Gegensatz von 'Naturwissenschaft'‹ (ebd., 29) Steiner hatte damit seine Epistemologie umkodiert: von objektiver Erkenntnis auf subjektives Erleben.«


Bei der Geschichte, die Zander hier erzählt, fällt zunächst auf, dass sich alle von ihm angeführten »Positionsbestimmungen« Steiners – mit Ausnahme der ersten beiden – in der »Geheimwissenschaft im Umriss« finden und auch heute noch in den gesammelten Vorreden stehen.

Hätte Steiner tatsächlich eine radikale »Umkodierung« seiner epistemologischen Position vorgenommen, hätte er dann nicht die früheren Vorreden revidieren oder streichen müssen? Sind die unterschiedlichen Aussagen vielleicht nicht nur verschiedene Aspekte ein und derselben Position?

Schon eine einfache logische Überlegung kann diesen Verdacht erhärten.

Wenn Steiner 1904 ein Verhältnis von »Komplementarität und Konkurrenz« zwischen Natur- und Geisteswissenschaften gesehen hat, bedeutet dies, dass sie zu identischen Resultaten führen?

Wenn er 1909 davon spricht, »die Darstellung« der »Geheimwissenschaft« stimme »mit allen Fortschritten gegenwärtiger Wissenschaft überein«, meinte er dann wiederum, dass beide zu denselben Resultaten kommen müssten? Wozu dann überhaupt zwei unterschiedliche Wissensformen, wenn ihre Resultate letztlich identisch sind?

Wenn er 1913 davon sprach, die »gegenwärtige wissenschaftliche Erkenntnis« könne nicht in die übersinnlichen Welten dringen, war das eine andere Ansicht als jene, die bereits 1905 ein Verhältnis der »Komplementarität und Konkurrenz« sah?

Wenn er 1920 das Beweisen der Naturwissenschaften als etwas beschrieb, was »äußerlich« »zum Erkenntnisprozess hinzukomme«, während der »Erkenntnisweg« der »Geheimwissenschaft« selbst »ein beweisender« sei, widerspricht diese Auffassung der anderen, die sichtbaren Tatsachen wiesen auf eine verborgene Wirklichkeit?

Und wenn er 1925 vom »Gegensatz« zwischen Natur- und Geisteswissenschaft sprach, ist dieser Gegensatz nicht bereits in »Konkurrenz und Komplementarität« enthalten? Ist die »Geisteswissenschaft« damit vollends in die Subjektivität abgedriftet?

Sehen wir uns die einzelnen Vorreden zur »Geheimwissenschaft im Umriss« an, auf die Zander sich bei seinen Erörterungen bezieht.

Vorrede zur »Geheimwissenschaft im Umriss« 1909

Die Vorrede zur 1. Auflage 1909 setzt sich mit fünf möglichen Standpunkten von Lesern und ihren denkbaren Urteilen über den Inhalt des Buches auseinander.

(1) Die »Geheimwissenschaft« könnte vom Standpunkt der Naturwissenschaft (Physik) verworfen, dem Verfasser absolute Ignoranz gegenüber ihren Ergebnissen vorgeworfen werden.

(2) Ihm könnte vom Standpunkt der Philosophie vorgeworfen werden, er habe die ganze erkenntnistheoretische Diskussion des letzten Jahrhunderts verschlafen.

(3) Ihm könnte vorgeworfen werden, er widerspreche wissenschaftlichen Positionen, die er in seinen eigenen früheren Schriften geäußert habe (Biologie, Haeckel).

(4) Ihm könnte vorgeworfen werden, er gebe sich wilder Phantastik hin.

(5) Anhänger könnten vermeinen, das Buch verlange blinden Glauben und sei der unbefangenen Vernunft nicht verständlich.

Diese fünf Einwände, denn auch bei der fünften Auffassung handelt es sich im Grunde um einen Einwand, finden sich bemerkenswerter Weise alle bei Zander. Schon 1909 hat sich Steiner, wie ersichtlich, mit Zander auseinandergesetzt. Zander ist weniger ein individuelles Phänomen als der Exponent eines bestimmten Typus möglicher Einwände gegen die Geisteswissenschaft an sich. Den genannten Einwänden setzt Steiner Folgendes entgegen.

(1) Die Kritik vom naturwissenschaftlichen, physikalischen Standpunkt hält er für verständlich. Da er die Naturwissenschaften in ihren wesentlichen Ergebnissen kenne, und sich in deren Standpunkt hineinversetzen könne, sieht er in der Kritik, die von diesem Standpunkt aus formuliert werde, eine logische Konsequenz dieses Standpunktes. Diese Kritik ließe sich entkräften, wenn man »in ausführlicher Art alle Einzelheiten geltend machte, welche zeigen, wie die Darstellung dieses Buches in Wirklichkeit doch mit allen Fortschritten gegenwärtiger Wissenschaft übereinstimmt. Dazu wären nun aber allerdings viele Bände als Einleitung zu dem Buche notwendig.« Was Steiner hier postuliert, ist nicht die Konvergenz der Resultate unterschiedlicher Wissenschaften, sondern die Komplementarität. Die »Übereinstimmung« mit den Fortschritten der Wissenschaft ist nicht so zu verstehen, dass beide Wissenschaften zu denselben Resultaten kommen, sonst wäre, wie gesagt, die Geisteswissenschaft überflüssig. Sie ist so zu verstehen, dass die Resultate der Geisteswissenschaft zu jenen der Naturwissenschaft nicht im Widerspruch stehen, dass sie mit ihnen vereinbar sind und vice versa. Steiner präzisiert diese Position in seiner Entgegnung auf den dritten Einwand.

(2) Auch die Kritik vom Standpunkt der Philosophie hält Steiner für verständlich. Er kann sie nachvollziehen und »trotzdem, ja eben deshalb sich berechtigt finden«, ein Buch wie die »Geheimwissenschaft« zu schreiben.

(3) Unvereinbare Positionen könne man ihm zum Beispiel im Hinblick auf sein Verhältnis zu Haeckel vorwerfen, den er einst gegen seine Gegner verteidigte, um nun ein Werk zu verfassen, das dessen angeblich »gesundem Monismus« ins Gesicht schlage. Steiner ist sich bewusst, dass er »weit über Haeckels Voraussetzungen hinausgeht und die geistige Ansicht über die Welt neben die bloß natürliche Haeckels setzt«. Zwischen seinen früheren Schriften und der »Geheimwissenschaft« besteht in Wahrheit ein Einklang. – Was Steiner hier über sein Verhältnis zu Haeckel sagt, gilt auch für sein Verhältnis zur physikalischen Kosmologie. Er ist sich der Tatsache bewusst, dass er weit über die Voraussetzungen dieser physikalischen Kosmologie hinausgeht, wenn er die geistige Ansicht der Welt neben die bloß natürliche stellt, aber diese geistige Ansicht der Welt ist eine notwendige Ergänzung der bloß natürlichen, ja, sie ergibt sich als eine notwendige Konsequenz der natürlichen, wenn diese sich hinreichend über ihre eigenen Voraussetzungen aufklärt. Diese Bemerkungen werfen auch ein Licht auf die postulierte »Übereinstimmung«: die Übereinstimmung kann nicht in den Theorien oder Ergebnissen der Wissenschaften liegen, da die Geisteswissenschaft ja gerade über die Naturwissenschaft hinausgeht, sie kann nur in der Vereinbarkeit ihrer Resultate liegen, wenn man diese von einem höheren Standpunkt aus betrachtet. Dieser höhere Standpunkt kann aber nur der der Geisteswissenschaft sein, weil diese die Erkenntnisse der Naturwissenschaft als untergeordnete Teilmenge in sich aufnimmt und aufhebt. Wenn Zander Steiner vorwirft, er habe 1920 die Naturwissenschaften zu einer ancilla der scientia spiritualis erniedrigt, müsste er diesen Vorwurf bereits gegen die Position von 1909 erheben.

(4) Dem Vorwurf der »wilden Phantastik« hält Steiner entgegen, der Inhalt des Buches halte »vernunftgemäßer Prüfung« stand, jener Art von Prüfung, wie sie auch auf die »Tatsachen der Naturwissenschaft« angewendet werde.

(5) Zu »blindem Glauben« geneigten Anhängern des Übersinnlichen empfiehlt er, die Inhalte des Buches zu »prüfen« und »nur das logisch zu Rechtfertigende« gelten zu lassen.

Vorrede zur »Geheimwissenschaft im Umriss« 1913

In der Vorrede zur 4. Auflage 1913 finden sich die von Zander erwähnten Sätze über die unwiderleglichen Beweise für die Unmöglichkeit des wissenschaftlichen Eindringens in die übersinnliche Welt.

Auch in dieser Vorrede setzt sich Steiner mit prinzipiellen Einwänden gegen die Erkenntnis des Geistigen auseinander. Er betont, seiner Auffassung nach beruhe der Glaube an die Unerkennbarkeit des Geistigen auf einem Missverständnis. Zwar sei zum Beweis dieses Glaubens eine gewaltige Gedankenarbeit geleistet worden, die zu »scheinbar unwiderleglichen Beweisen« geführt habe, dass jene Erkenntnis, die gegenwärtig als wissenschaftlich gelte, nicht in die übersinnliche Welt eindringen könne, ja die vorgebrachten Argumente seien »in gewissem Sinn unwiderleglich«. Aber diese Argumente und Beweise sind der Wirklichkeit gegenüber trotzdem irrelevant, denn sie werden durch die Tatsache der Erkenntnis des Übersinnlichen widerlegt. (GA 13, 1977, S. 17.)

Entscheidend an diesen Sätzen sind natürlich die Einschränkungen »scheinbar« und »in gewissem Sinn«.

Dass Steiner von der Widerleglichkeit der Beweise für die Unerkennbarkeit des Übersinnlichen überzeugt war, zeigt schon die Tatsache, dass er diese Beweise in seinen philosophischen Werken – besonders in der Auseinandersetzung mit Kants Agnostizismus – zu widerlegen versuchte.

Dass er noch nach 1913 die Auffassung vertrat, diese Widerlegung sei möglich, geht zum Beispiel aus dem oben zitierten Zusatz zur Neuauflage der »Philosophie der Freiheit« hervor, in dem er davon spricht, dass »richtig verstandenes Denk-Erleben schon Geist-Erleben« ist, das heißt, dass es auf philosophischem Weg möglich ist, zu zeigen, dass das menschliche Denken Geistiges erkennen kann.

Obwohl nun aber der Verfasser der »Geheimwissenschaft« zugeben kann, dass jene Beweise »in gewissem Sinn« unwiderleglich sind, hat er doch eine »Geheimwissenschaft« geschrieben, die auf der Voraussetzung der Erkennbarkeit des Übersinnlichen beruht. In Wahrheit sind die Beweise des Verstandes für die Unerkennbarkeit des Geistigen nichts als ein Beweis für die Begrenztheit des Verstandes. Das menschliche Erkennen, wie es im alltäglichen Leben und in der gewöhnlichen Wissenschaft angewendet wird, vermag nicht in die übersinnliche Welt einzudringen. Das ist unwiderleglich wahr. Aber es ist ebenso wahr, dass der Mensch dieses Erkennen entwickeln, dass er es »erkraften« kann und dass dieses erkraftete Denken, das sich von der Abhängigkeit des gewöhnlichen Seelenlebens vom Leib befreit, in eine von diesem Leib ebenso unabhängige seelische und geistige Wirklichkeit eindringen kann. (GA 13, 1977, S. 19.) Die Mittel der Erkraftung liegen in »inneren Seelenverrichtungen« der Kontemplation und Meditation, die zu Erfahrungen führen, die ebenso real sind, wie die Erfahrungen der Sinne. Die Annahme, ein vom Nervensystem (vom Gehirn) unabhängiges Seelenleben sei unmöglich, ist lediglich ein Vorurteil. Es beruht darauf, dass die Erscheinungsbedingungen des seelischen Lebens mit diesem Seelenleben verwechselt werden. Die Entstehung des Bewusstseins vom seelischen Leben ist an die Nervenorganisation gebunden, nicht aber dieses Leben selbst. Ist dieses Bewusstsein einmal entstanden, kann es sich von den Bedingungen seines Entstehens durch die angedeuteten seelischen Verrichtungen unabhängig machen. Der Tatsachenerweis für diese Behauptung kann nur durch den Versuch erbracht werden.

All diese Ausführungen Steiners stellen, wie man sieht, keine anderen Auffassungen dar, als die bereits 1904, 1905 oder 1909 vertretenen. Der Geisteswissenschaft wird nach wie vor ein Erkenntnisgebiet zugewiesen, auf dem die Naturwissenschaft nichts zu suchen hat, in das sie nicht einzudringen vermag, ja, das für sie schlechterdings nicht existiert. Steiner hat auch nie behauptet, die gewöhnliche Wissenschaft könne in das Gebiet des Übersinnlichen eindringen, das würde seine Auffassung auf den Kopf stellen. Schon die »Philosophie der Freiheit« hat die Beobachtung des Denkens als »Ausnahmezustand« bezeichnet. Die Schriften um die Jahrhundertwende sprechen von der Notwendigkeit einer »Wiedergeburt des Erkennens«, einer »höheren Form der Erkenntnisq, die aus dem alltäglichen Erkennen herauswächst wie die neue Pflanze aus einem Keim, der aber erst zugrunde gehen muss, damit die neue Pflanze gedeihen kann. 1913 tut sich keine Kluft auf, die 1904 noch nicht bestanden hätte. Sie eröffnet sich auch nicht in den Folgejahren.

Vorrede zur »Geheimwissenschaft im Umriss« 1920

1920, behauptet Zander, habe Steiner in einer neuen Vorrede zur Geheimwissenschaft (Zander schreibt »Geheimlehre«, eine symptomatische Verschreibung, da für ihn ohnehin kein Unterschied zwischen der »Geheimlehre« Blavatskys und der »Geheimwissenschaft« Steiners besteht) »die Leseanweisung« erteilt, im »Erleben den hermeneutischen Schlüssel zur Epistemologie« zu sehen. (Zander I, S. 680.)

Eine solche »Leseanweisung« ist jedoch ein reines Phantasieprodukt. Vom Erleben als »hermeneutischem Schlüssel« ist in dieser Vorrede nirgends die Rede. Die Sätze, auf die Zander sich bezieht, lauten im Original folgendermaßen: »In den andern Teilen des Buches habe ich durch Ergänzungen des Inhaltes manches Dargestellte schärfer herauszuarbeiten gesucht. Durch das Ganze hindurch habe ich mich bemüht, an zahlreichen Stellen Änderungen in der Einkleidung des Inhalts vorzunehmen, die mir das wiederholte Durchleben des Dargestellten notwendig erscheinen ließ.« (GA 13, 1977, S. 24.)

Wie man sieht, spricht Steiner hier lediglich davon, die wiederholte Erkenntniserfahrung der dargestellten Inhalte (das »wiederholte Durchleben«) habe Änderungen in Formulierungen veranlasst, die offenbar im Interesse des besseren Verständnisses vorgenommen wurden. Mit einer »Leseanweisung« zur Epistemologie haben diese Sätze rein gar nichts zu tun.

»Charakter« der Geheimwissenschaft, ihre Verfahrensart

Steiner weist in dieser Vorrede darauf hin, dass er auch das einleitende Kapitel »Charakter der Geheimwissenschaft« völlig neu gestaltet habe. Die neuen Darstellungen in diesem Kapitel sind allerdings für die Verhältnisbestimmung von Natur- und Geisteswissenschaft und für Steiners Verständnis der Wissenschaftlichkeit der von ihm praktizierten Geistesforschung von grundlegender Bedeutung. Sie sind eines der Beispiele für die von Zander als angeblich nicht vorhanden bemängelte, systematische Methodenreflexion. Zander sieht in diesem Text eine endgültige Abfertigung der Naturwissenschaft, die zur Magd der Anthroposophie degradiert werde.

Was steht in diesem Einleitungskapitel zur »Geheimwissenschaft« wirklich?

Wer als Wissenschaft nur gelten lässt, was den leiblichen Sinnen und dem gewöhnlichen, auf die Sinnesbeobachtung gestützten Verstand zugänglich ist, der kann die Geisteswissenschaft nicht als Wissenschaft betrachten. Dieses Verständnis von Wissenschaft ist aber defizitär und mit den Voraussetzungen von Wissenschaftlichkeit unvereinbar. Wenn man sich über die Entstehungsbedingungen von Wissenschaft aufklärt, lässt sich dieser reduktive Wissenschaftsbegriff nicht aufrecht erhalten, so Steiner. (Inzwischen hat sich auch die Wissenschaftstheorie von diesem reduktiven Begriff der Wissenschaft verabschiedet. Siehe hierzu die instruktive, von Dirk Rupnow u.a. herausgegebene Publikation »Pseudowissenschaft: Konzeptionen von Nichtwissenschaftlichkeit in der Wissenschaftsgeschichte«, Frankfurt 2008, in der sich Zanders Beitrag zur Anthroposophie »Esoterische Wissenschaft um 1900. ›Pseudowissenschaft‹ als Produkt ehemals ›hochkultureller‹ Praxis«, wie ein erratischer Block ausnimmt.)

Die Wissenschaftlichkeit von Wissenschaft ist nicht durch die Gegenstände bedingt, denen sie sich zuwendet, sondern durch die Methoden, die beim Erkennen beobachtet werden (Steiner spricht von einer »Betätigungsart der menschlichen Seele«. GA 13, 1977, S. 35.)

Bei der ausschließlichen Anwendung wissenschaftlicher Methoden auf die Sinnesbeobachtung handelt es sich um eine »willkürliche Selbstbeschränkung«, denn diese Methoden können auch auf andere Gegenstände angewendet werden. Die Geisteswissenschaft wendet wissenschaftliche Methoden auf andere Gegenstände als die Naturwissenschaften an. Diese anderen Gegenstände sind nichtsinnlich. »Geheimwissenschaft will die naturwissenschaftliche Forschungsart und Forschungsgesinnung, die auf ihrem Gebiete sich an den Zusammenhang und Verlauf der sinnlichen Tatsachen hält, von dieser besonderen Anwendung loslösen, aber sie in ihrer denkerischen und sonstigen Eigenart festhalten.« (GA 13, 1977, S. 35.)

Ganz im Gegensatz zu der von Zander behaupteten Degradierung der Naturwissenschaft erläutert Steiner vielmehr sein Wissenschaftsverständnis am Vorbild der Naturwissenschaften. Er spricht diesen Naturwissenschaften auch nicht etwa ihre Wissenschaftlichkeit ab, er bestreitet lediglich, dass die Gegenstände, denen sich die Naturwissenschaften zuwenden, die einzig wissenschaftsfähigen sind. Und er weist die Unterstellung, es gebe nur eine einzige Art von Gegenstandsklassen wissenschaftlicher Erkenntnis als unwissenschaftlich zurück.

Durch den methodischen, kontrollierten Umgang mit der Natur erzieht sich die Seele eine bestimmte Verfahrensart an, die sie auch auf das nichtsinnliche Gebiet anwenden kann. Die Verfahrensart der Wissenschaft wird durch Selbsterziehung (Gewöhnung) zu einem Bestandteil des Habitus des Wissenschaftlers, zu einer Eigenart seiner Persönlichkeit, zu einem Instrumentarium, das er in seine erkennende Seele hineinarbeitet. Die Geheimwissenschaft hält nicht die Gegenstände der Naturforschung, sondern die wissenschaftliche Verfahrensart und die seelische Verhaltensweise in dieser Verfahrensart fest, also das, wodurch die Naturwissenschaft erst zur Wissenschaft wird. Deshalb kann auch die Geheimwissenschaft als »Wissenschaft« bezeichnet werden. Der Erkennende bedarf lediglich seelischer und geistiger Beobachtungsorgane, die bereits im Naturerkennen anfänglich entwickelt werden, um Seele und Geist beobachten zu können. Die Geheimwissenschaft bestreitet nicht den Wert der Naturwissenschaft, sie will ihn sogar »noch besser anerkennen als der Naturwissenschafter selbst.« (GA 13, 1977, S. 37)

Ohne Zweifel spricht Steiner hier der Naturwissenschaft einen eigenständigen Erkenntnisweg zu, entgegen allen Behauptungen Zanders. Aber Steiner anerkennt nicht nur ein originäres Gegenstandsgebiet der Naturwissenschaft – wie könnte er auch anders –, er sieht in ihr nicht nur ein Bildungsmittel der erkennenden Seele, er vertritt sogar die Auffassung, ohne die »Strenge der naturwissenschaftlichen Vorstellungsart« lasse sich »überhaupt keine Wissenschaft« begründen. Aber diese Strenge der Vorstellungsart ist nicht auf die Naturwissenschaft beschränkt, sie kann auf andere Gebiete übertragen werden. Wer eine solche Übertragung für unmöglich hält, leugnet im Grunde die Möglichkeit jeder Wissenschaft, da die Methode auch im Fall der Naturwissenschaft nicht aus den Gegenständen hervorgeht, sondern aus der Seele, die diese Gegenstände erkennt.

Steiner wendet sich nun einem anderen Aspekt der wissenschaftlichen Methodik, den Beweisverfahren, zu. Er setzt sich mit dem auch von Zander erhobenen Vorwurf auseinander, die Geheimwissenschaft »beweise nicht«, sondern stelle bloß – also »autoritär« – dogmatische Behauptungen auf. Diesem Vorwurf entgegnet er mit dem Hinweis auf die genetische oder entwickelnde Methode der geisteswissenschaftlichen Forschung und ihres Narrativs.

Während in der Naturwissenschaft die Tatsachen als gegeben vorausgesetzt werden, und der Bericht über diese Tatsachen und ihre Zusammenhänge die erkennende Tätigkeit des Forschers ausklammert oder zumindest als etwas Sekundäres behandelt, muss der Bericht (das Narrativ) über die Tatsachen des Übersinnlichen und ihre Erkenntnis diese erkennende Tätigkeit in den Vordergrund stellen, weil diese Tatsachen nur durch die erkennende Tätigkeit gegeben sind.

(Die Wissenschaftstheorie ist inzwischen zur Einsicht gelangt, dass auch die Naturwissenschaften ihre Tatsachen nicht vorfinden, sondern konstruieren, und dass die Beschreibung der Methoden, die zur Konstruktion der Tatsachen führen, also des Anteils des erkennenden Subjektes, ein wesentlicher Bestandteil des naturwissenschaftlichen Narrativs ist. Insofern hat sich das Verständnis der naturwissenschaftlichen Methodik jenem der Geisteswissenschaft angenähert. Siehe hierzu: L. Daston, P. Galison, »Objektivität«, Frankfurt a. M. 2007, sowie L. Daston, »Wunder, Beweise und Tatsachen. Zur Geschichte der Rationalität«,  Frankfurt 2001 und M. Hagner (Hrsg.), »Ansichten der Wissenschaftsgeschichte«, Frankfurt 2001.)

Der Leser eines solchen Berichts gelangt zu den »Tatsachen des Übersinnlichen« nur, wenn er die Seelentätigkeit, die zu ihnen führt, selbst ausübt. Die »Tatsachen der Naturwissenschaft« sind auch ohne das Erkennen gegeben – hier müsste man Steiners Argumentation um den inzwischen anerkannten konstruktiven Anteil der naturwissenschaftlichen Erkenntnis ergänzen – , die Tatsachen des Übersinnlichen entstehen im Erkenntnisprozess. (Wenn man allerdings den Unterschied zwischen der Form des Auftretens in Betracht zieht, gilt Steiners Argument weiterhin: die Sinnestatsachen sind den Sinnen »gegeben«, auch wenn sie beobachtet – oder technisch erzeugt – werden müssen, um vorhanden zu sein; die übersinnlichen Tatsachen, sind »hervorgebracht«, auch wenn sie »ihrer inneren Natur nach« gegeben sind – wie das Denken.)

Ein Bericht über Tatsachen des Übersinnlichen kann also nur so abgefasst sein, dass er dem Leser die Möglichkeit gibt, mit dem Verfasser selbst die Tatsachen von denen die Rede ist, aufzusuchen. Mit anderen Worten: diese Tatsachen des Übersinnlichen müssen in der Darstellung entwickelt werden und zwar so, dass sie im Denken des Lesers durch dessen eigene Denktätigkeit entstehen können.

Der Geistesforscher kann also seine Erkenntnisresultate nicht nur darstellen, er muss auch zeigen, wie sie entstehen. Dies geschieht in der Erzählung vom Auffinden der Tatsachen und es geschieht in der Darstellung der Mittel, die für das Auffinden dieser Tatsachen benötigt werden, d.h. in der Beschreibung des »Schulungsweges«. Aber nicht nur die Darstellung des Schulungsweges besitzt epistemologische Bedeutung, sondern schon die Darstellung der Tatsachen des Übersinnlichen selbst. Denn in dieser Darstellung bildet sich das Übersinnliche in gedanklicher Form im Bewusstsein des Lesers ab, indem es durch sein Verstehen von ihm hervorgebracht wird. Dadurch ist die Erzählung von übersinnlichen Tatsachen, insofern deren Inhalt vom Leser oder Hörer denkend hervorgebracht wird, schon ein Beweis für die Existenz dieser übersinnlichen Tatsachen: im intuitiv erfassten Begriff des Engels ist dieser Engel, als Wesen, in begrifflicher Form anwesend.

Die geisteswissenschaftliche Darstellung verhält sich hier nicht anders zu den zu beweisenden Tatsachen wie zum Beispiel ein mathematischer oder geometrischer Beweisgang, in dem die Erzählung oder Entwicklung dieses Beweisgangs der Beweis selbst ist. (»Im geisteswissenschaftlichen Denken«, so Steiner, »liegt die Betätigung, welche die Seele beim naturwissenschaftlichen Denken auf den Beweis wendet, schon in dem Suchen nach den Tatsachen. Man kann diese nicht finden, wenn nicht der Weg zu ihnen schon ein beweisender ist. Wer diesen Weg wirklich durchschreitet, hat auch schon das Beweisende erlebt.« GA 13, 1977, S. 41.)

Die Schilderungen der übersinnlichen Tatsachen verhalten sich wie eine Landkarte. Niemand würde einer solchen vorwerfen, sie suggeriere die Wirklichkeit, die den Reisenden erwartet. Vielmehr stellt sie ein nützliches Hilfsmittel dar, das die erwarteten Erfahrungen nicht ersetzt, aber deren Erlangung ermöglicht und erleichtert. Eine Landkarte stellt die Zusammenfassung von Erkenntnissen anderer dar, die das Land bereits bereist haben, wer sich durch sie Orientierung verschafft, wird Miterkenner des Landes; wenn er es selbst bereist, wird er zum Selbsterkenner. Durch das Aufnehmen der Mitteilungen wird der Leser »Mit-Erkenner der übersinnlichen Welt«; durch die praktische Ausführung der Seelenverrichtungen des Schulungsweges wird er »selbstständiger Erkenner in dieser Welt«. (GA 13, 1977, S. 51.)

Aber im Gegensatz zu einer Landkarte, die ein physisches Gebiet abbildet, nimmt die Landkarte des geistigen Gebietes im Leser selbst Gestalt an. Das Gebiet, auf das diese ideelle Landkarte verweist, liegt nicht jenseits des denkenden Bewusstseins, sondern ragt in die Gedankenformen dieses Bewusstseins herein. Die übersinnlichen Beobachtungen stellen nur die Ergänzung dieser ideellen Strukturen nach der Wahrnehmungsseite dar, die sich bereits in den zunächst unbewussten Tiefen der eigenen Seele verbirgt.

Denken und Schauen

Die hier angesprochenen Fragen greift Steiner im Kapitel über die »Erkenntnis der höheren Welten« in einer Passage auf, die bereits in der 1. Auflage der »Geheimwissenschaft« enthalten war. (GA 13, 1. Auflage 1909, S. 316-320; 1977, S. 340-344.)

Sie stellt eine wichtige Ergänzung der Ausführungen des Kapitels »Charakter der Geheimwissenschaft« von 1920 dar (Ergänzung nicht im historischen, sondern im systematischen Sinn). Diese Passage ist auch insofern bedeutsam, als sie einen weiteren Beleg für die von Zander bestrittene Tatsache enthält, dass Steiner die Methodologie der Geheimwissenschaft, des spirituellen Schulungsweges, unlösbar mit seinem philosophischen Grundlagenwerk verschränkt. Beide verweisen aufeinander, das eine stellt die Grundlegung, das andere die Ausformung dar.

Steiner spricht hier über das »sinnlichkeitsfreie Denken«, das bereits beim Studium, bei der Lektüre geisteswissenschaftlicher Darstellungen entwickelt wird, dessen Ausbildung die erste Stufe des »rosenkreuzerischen Schulungsweges« darstellt. Das sinnlichkeitsfreie Denken verbürgt die »innere Gediegenheit« der imaginativen Erkenntnis. Es vermag Inhalte zu erzeugen, die nicht aus der sinnlichen Wahrnehmung stammen. Ein Weg zur Entwicklung des sinnlichkeitsfreien Denkens besteht in der Aufnahme der von der Geisteswissenschaft mitgeteilten Tatsachen. Diese müssen nicht einfach »auf Treu und Glauben hingenommen« werden. Es ist durchaus möglich, durch bloßes Nachdenken zur »sicheren Überzeugung« zu gelangen, das Mitgeteilte sei wahr. Wird das Nachdenken vorurteilslos, umfassend und gründlich genug angewendet, kann diese Überzeugung eintreten. Sie stützt sich auf die ideellen Evidenzen, auf den inneren Zusammenhang, auf die Logizität, Kohärenz und Widerspruchsfreiheit der Mitteilungen.

Im Gedanken selbst liegt eine »innere Wesenheit«, die im Zusammenhang mit der übersinnlichen Welt steht, das Denken ist, wie Steiner im Zusatz zur »Philosophie der Freiheit« 1918 schreibt, selbst schon ein übersinnliches Erlebnis.

Solange die Seele nur Gedanken denkt, deren Inhalt sie aus der Sinneswahrnehmung schöpft, misstraut sie der ideellen Evidenz reiner Gedanken. Unbegreiflich scheint das rein Gedankliche nur so lange, als die Seele sich der Illusion hingibt, die sinnliche Wahrnehmung verbürge die Realität des Gedankens. Sobald sie aber erkennt, dass jeder Gedanke, selbst der an der sinnlichen Wahrnehmung bewusst gewordene, nicht aus dieser geschöpft wird, wird sie erkennen, dass die Überzeugung von der Wahrheit eines Gedankens letztlich nur durch ideelle Evidenz aus dessen Inhalt entspringen kann. Mitteilungen übersinnlicher Tatsachen können also von jedem, der denkt, verstanden werden, man muss sie nicht bloß glauben. Indem sich die Seele in den reinen Gedanken der Darstellungen der Geistesforschung bewegt, eignet sie sich die Fähigkeit des reinen Denkens an. Sie lernt die inneren Beziehungen der Gedanken, die aus ihnen selbst hervorgehen, erkennen. Sie beginnt zu beobachten, wie in ihrem Innern »Gedanke sich an Gedanke webt, wie Gedanke den Gedanken sucht, auch wenn die Gedankenverbindungen nicht durch die Macht der Sinnenbeobachtung bewirkt werden.« (GA 13, 1977, S. 341.)

Durch die Kraft ihres Denkens vermag die Seele einen Gedankenorganismus auszubilden, mit dem sie eins ist. Mit dem sinnlichkeitsfreien Denken fließt etwas Wesenhaftes in ihr Innenleben ein, so wie die Eigenschaften der Sinnesgegenstände durch die Sinne in sie einfließen. Ebenso, wie sich die sinnlichen Eigenschaften einer Rose beobachten lassen, lassen sich auch die ideellen Eigenschaften der Gedanken beobachten. Das sinnlichkeitsfreie Denken erzeugt einen ideellen, sich selbst begründenden und stützenden Organismus von Evidenzen. Die denkende Seele vollzieht »die Zusammensetzung der Gedankenmassen«, so heißt es in den »Grundlinien einer Erkenntnistheorie ...«, nur »nach Maßgabe ihres Inhalts«. (GA 2, 1979, S. 49.)

Der Weg zum sinnlichkeitsfreien Denken durch die Kenntnisnahme der Mitteilungen der Geisteswissenschaft – also etwa durch die Lektüre der »Geheimwissenschaft im Umriss«  – ist zwar durchaus sicher und nahe liegend. Es gibt aber noch einen anderen Weg. »Er ist in meinen Büchern ›Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung‹ und ›Philosophie der Freiheit‹ dargestellt.« (GA 13, 1977, S. 343.) Ein essenzieller Bestandteil der geisteswissenschaftlichen Methodologie und Epistemologie, die »innere Gediegenheit« der imaginativen Erkenntnis, kann also aus den philosophischen Schriften gewonnen werden. Sie stellen einen Weg dar – die Theosophie von 1904 wies bereits auf den Wegcharakter der »Philosophie der Freiheit« hin. Dieser Weg ist sogar »sicherer und genauer« als der Weg über die Mitteilungen des Geistesforschers.

Der Grund, warum der letztere weniger sicher und weniger genau ist, liegt in der Metaphernsprache, der uneigentlichen Redeweise, der Unangemessenheit der Ausdrucksformen an die dargestellten Inhalte. Wie Steiner bereits in der Vorrede zur vierten Auflage der »Geheimwissenschaft« 1909 bemerkt hat, konnte er »kaum mehr als einen Weg« zeigen, »um zu Vorstellungen zu gelangen, welche in dem Buche für Saturn-, Sonnen-, Mondentwicklung gegeben werden ... Doch weichen die Erlebnisse in bezug auf diese Dinge so sehr von allen Erlebnissen auf dem Sinnesgebiete ab, dass die Darstellung ein fortwährendes Ringen nach einem nur einigermaßen genügend erscheinenden Ausdruck notwendig macht.« (GA 13, 1977, S. 21.)

Der Wegcharakter der philosophischen Schriften besteht darin, dass an ihnen das sinnlichkeitsfreie Denken geübt werden kann. Denn sie geben wieder, »was der menschliche Gedanke sich erarbeiten kann, wenn das Denken sich nicht den Eindrücken der physisch-sinnlichen Außenwelt hingibt, sondern nur sich selbst. ... Dabei ist in den genannten Schriften nichts aufgenommen aus den Mitteilungen der Geisteswissenschaft selbst.« (GA 13, 1977, S. 343-344.) Aber das reine Denken und mit ihm die genannten Schriften steht auf einer wichtigen Zwischenstufe zwischen dem Naturerkennen und dem Geisterkennen: das Denken erhebt sich bereits über die Sinnesbeobachtung, vermeidet aber noch den Eintritt in die Geistesforschung. Wer diese Schriften studiert, »steht schon in der geistigen Welt, nur dass sich diese ihm als Gedankenwelt gibt.«

Wir befinden uns, wohlgemerkt, mit unserer Diskussion der Methodologie immer noch im Vorfeld der Geistesforschung, in dem Gebiet, das Steiner als »Studium« bezeichnet, dem aber, wie wir gesehen haben, eine wichtige Bedeutung auch für die erste Stufe der Geistesforschung, die imaginative Erkenntnis, zukommt. Aber nicht einmal mit dieser Stufe der Methodologie befasst sich Zander ernsthaft, geschweige denn, dass er die folgenden, die Darstellungen des Schulungsweges als Methodologie bzw. Epistemologie zu erkennen vermag. Die Bedeutung des Studiums liegt in der Ausbildung des reinen oder sinnlichkeitsfreien Denkens. Dieses verbürgt nicht nur die Gediegenheit der imaginativen Erkenntnis, ihm kommt auch noch eine andere Funktion zu: es ist ein wichtiges Prüfungsmittel der Logizität und Plausibilität der Ergebnisse der Geistesforschung, solange deren Beobachtungsanteil noch nicht durch die entsprechenden Beobachtungswerkzeuge überprüft werden kann. Über diese Funktion lässt sich Steiner ebenfalls in der »Geheimwissenschaft« aus und zwar zu Beginn des kosmogonischen Teils.

(Die betreffenden Erörterungen finden sich bereits in der 1. Auflage der Geheimwissenschaft von 1909. Auch hier macht Steiner einen Unterschied zwischen Forschen und Verstehen. Forschen im geistigen Gebiet setzt Beobachtungsmittel voraus, Verstehen der Ergebnisse nicht. Aber nicht nur das Verstehen, auch das Prüfen ist ohne die entsprechenden Beobachtungsmittel möglich. Die innere Logizität, die Widerspruchsfreiheit der Darstellung muss vom Geistesforscher ebenso verlangt werden, wie von jedem anderen Forscher. Es ist sogar denkbar, dass Irrtümer in der logischen Darstellung eines geisteswissenschaftlich erforschten Tatsachengebiets von jemandem korrigiert werden, der selbst nicht die Fähigkeit der übersinnlichen Forschung besitzt, dafür aber ein gesundes Denken, das den Gesetzen der Logik gehorcht. Allerdings bezieht sich diese Korrektur und Überprüfung lediglich auf die Darstellung, die Widerspruchsfreiheit als innere Konsistenz, im Vergleich mit anderen Theorieelementen oder Darstellungen von ineinander greifenden Sachgebieten. Sie kann sich naturgemäß nicht auf die Tatsachen, die Beobachtungen selbst beziehen, da die bloße Logik über diese nichts auszusagen vermag. GA 13, 1977, S. 142-144; 1. Aufl., S. 113-117.)

Der letzte Absatz des Kapitels »Charakter der Geheimwissenschaft« betont noch einmal, dass im Hinblick auf das Methodenverständnis von Wissenschaftlichkeit kein Widerspruch zwischen Natur- und Geisteswissenschaft konstruiert werden kann. Wie erstere handhabt auch die Geisteswissenschaft spezifische, wohldefinierte Methoden und Werkzeuge. Die Naturwissenschaft stellt ihre Erkenntniswerkzeuge durch die Verarbeitung von Materialien her, die ihr die Natur zur Verfügung stellt. Auch die Geistesforschung bedient sich eines Werkzeugs: der Mensch selbst ist dieses Werkzeug. Dieses Werkzeug muss für die übersinnliche Forschung erst »zugerichtet werden«. »Zurichtung« heißt hier, Ausbildung von Erkenntnisorganen und Aneignung der Fertigkeiten zu ihrem methodisch geregelten Gebrauch. Die naturgegebenen Erkenntnisfähigkeiten müssen vom Menschen entwickelt werden, damit er selbst zum Instrument übersinnlicher Forschung werden kann.

Vorrede zur »Geheimwissenschaft im Umriss« 1925

1925, im letzten Vorwort zur »Geheimwissenschaft«, soll Steiner laut Zander »alle Leinen zu einer gleichberechtigten Koexistenz« von Natur- und Geisteswissenschaft »gekappt« haben. »Geheimwissenschaft« sei endgültig zum »Gegensatz von Naturwissenschaft« geworden. Dadurch habe Steiner seine Epistemologie gänzlich »von objektiver Erkenntnis auf subjektives Erleben umkodiert.« (Zander, S. 681.)

In diesem Vorwort blickt Steiner nach 15 Jahren auf die Zeit der Abfassung des Werkes zurück und auf die »Seelenverfassung«, aus der es hervorgegangen ist. Es schien ihm zur Zeit seiner Abfassung nötig, so Steiner, den Inhalt in Gedanken zu kleiden, die »für die Darstellung des Geistigen geeignete Fortbildungen der in der Naturwissenschaft angewendeten Gedanken« seien. Die früheren Vorreden zeugten von diesem »Gefühl der Verantwortlichkeit gegenüber der Naturwissenschaft«. Diese Sätze sind auf das Methodenideal der Naturwissenschaften zu beziehen, von dessen »Fortbildung« Steiner ja ausdrücklich gesprochen hat. Die »Fortbildung« der Gedankenart der Naturwissenschaft bleibt, wie deutlich wurde, zwar dem Wissenschaftsprinzip verpflichtet, führt jedoch über die Gegenstandsgebiete und Theorien der Naturwissenschaft hinaus.

Allerdings, so fährt Steiner fort, sind Gedanken, mögen sie auch fortgebildet werden, nur begrenzt geeignet, die Anschauungen des Geistigen zum Ausdruck zu bringen. Denn in einen bloßen Gedankeninhalt geht diese Anschauung nicht ein. Steiner thematisiert also einmal mehr das Sprach- und Übersetzungsproblem. Der geschaute geistige Inhalt lasse sich nur in Bildern (Imaginationen) wiedergeben, durch die sich Inspirationen aussprächen, in denen intuitiv erlebtes, geistig Wesenhaftes lebe. Allerdings können vom Geistesforscher nicht bloß Imaginationen geschildert werden, da bloße Imaginationen dem gegenwärtigen Zeitalter unverständlich wären. Die Inhalte der Geist-Anschauung müssen in »Gedankenformen« gegossen werden, damit sie verstanden werden können. Gleichzeitig darf in diesen Gedankenformen der imaginative Gehalt nicht verloren gehen. Zur Zeit der Abfassung der »Geheimwissenschaft« glaubte Steiner, eine solche Sprachform bis zu einem »genügenden« Grad gefunden zu haben. Ihm war jedoch damals klar, dass die nötige Unbefangenheit, die Voraussetzung für das Verstehen solcher Darstellungen sei, gerade von professionellen Naturwissenschaftlern kaum erwartet werden konnte.

Der Titel »Geheimwissenschaft«, so Steiner, habe Missverständnisse hervorgerufen. Wissenschaft könne »nicht geheim« sein. Natürlich war dies nicht der Sinn des Titels, da die »Geheimwissenschaft« doch gerade den »geheimen« Inhalt veröffentlichte. Es sollte alles veröffentlicht und verständlich werden, so offenbar und allgemein zugänglich, wie der Inhalt jeder anderen Wissenschaft. Schließlich deute auch der Titel »Naturwissenschaft« darauf hin, dass diese eine Wissenschaft von der Natur sein wolle. »Geheimwissenschaft« sei im gleichen Sinn Wissenschaft und zwar Wissenschaft vom Geheimnis, das die Natur verberge, von jenem »offenbaren Geheimnis«, das sich nicht den Sinnen zeige, aber den Wahrnehmungsorganen der Seele, wenn diese sie zur Entwicklung bringe. So wie die Naturwissenschaft sich auf das Offenbare der Natur richtet, richtet sich die Geheimwissenschaft auf die verborgene Seite der Natur. In diesem Sinn ist sie zugleich Ergänzung und Gegensatz von Naturwissenschaft: mit einem Wort, ihr Komplementär. So ist der von Zander als Indiz eines endgültigen Bruches zitierte Satz zu verstehen: »›Geheimwissenschaft‹ ist Gegensatz von ›Naturwissenschaft‹«. (Zander I, S. 681.)

Der Zusammenhang zeigt jedoch klar, dass Steiner in diesem Vorwort nicht einen Hiatus zwischen zwei Wissensformen postuliert, der für ihn im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts noch nicht bestanden hätte oder dass er mit seinem Verständnis von Geisteswissenschaft nunmehr vollends ins Reich der Subjektivität abgedriftet wäre. Natürlich hat er weiterhin am Wissenschaftsanspruch der Geheimwissenschaft festgehalten, natürlich war er weiterhin der Überzeugung, die Geistesforschung liefere Erkenntnisresultate, die jenen der Naturwissenschaft in ihrer Objektivität, also Gegenstandsbezogenheit und -adäquatheit in nichts nachstehen. Fährt er doch einige Sätze später fort: »Wie der Mathematiker von Gedanken zu Gedanke schreitet, ohne dass Unbewusstes, Autosuggestion und so weiter eine Rolle spielen, so – sagte ich mir – muss geistiges Schauen von objektiver Imagination zu objektiver Imagination [Hervorh. L.R.] schreiten. Dass man von einer Imagination weiß, sie ist nicht bloß subjektives Bild, sondern Bild-Wiedergabe objektiven Geist-Inhaltes [Hervorh. L.R.], dazu bringt man es durch gesundes inneres Erleben. Man gelangt dazu auf geistig-seelische Art, wie man im Bereich der Sinnesanschauung bei gesunder Organisation Einbildungen von objektiven Wahrnehmungen richtig unterscheidet.« (GA 13, 1977, S. 30.)

Offensichtlich steht Zanders Lektüre eines Steinertextes einmal mehr zu dessen Wortlaut in krassestem Widerspruch.

Der Vergleich der verschiedenen Vorworte, auf die Zander sich bezieht, zeigt, dass die von ihm in sie hinein interpretierten Positionsbestimmungen und Veränderungen von Positionen aus der Luft gegriffen sind. Vielmehr durchziehen alle Äußerungen Steiners über das Selbstverständnis der Geheimwissenschaft drei durchgehende Motive:

• sie übertragen das, was die Wissenschaftlichkeit der Naturwissenschaften ausmacht, auf das geistige Gebiet,

• sie sehen in der Methodik die Wissenschaftlichkeit der Geistesforschung fundiert

• und positionieren die Geisteswissenschaft in einer polaren, komplementären Beziehung zur Naturwissenschaft.


Natur- und Geisteswissenschaft 1917. »Von Seelenrätseln«

Es ist bezeichnend, dass Zander in seinen Marginalien zum Thema theosophische Erkenntnistheorie mit keinem Wort auf einen Grundlagentext zur Frage der Beziehung zwischen Natur- und Geisteswissenschaft und zur Epistemologie der letzteren eingeht, den Steiner 1917 veröffentlichte: das Buch »Von Seelenrätseln«. In dessen erstem Teil befasst sich Steiner mit der Beziehung zwischen Natur- und Geisteswissenschaft, um zu zeigen, dass »wahre naturwissenschaftliche Betrachtung« nicht nur in keinem Widerspruch zur Anthroposophie stehe, sondern von der ersteren als etwas Notwendiges gefordert werde.

(Zander ignoriert eine ganze Reihe weiterer für diese Frage relevanter Ausführungen Steiners, so vor allem die in GA 35 versammelten Aufsätze »Mathematik und Okkultismus« (1904), »Philosophie und Anthroposophie« (1908), »Die psychologischen Grundlagen und die erkenntnistheoretische Stellung der Anthroposophie« (Beitrag auf dem 4. Internationalen Philosophie-Kongress in Bologna 1911), »Die Geisteswissenschaft als Anthroposophie und die zeitgenössische Erkenntnistheorie« (1917), sowie das Schlusskapitel des Werkes »Die Rätsel der Philosophie ...« mit dem Titel »Skizzenhaft dargestellter Ausblick auf eine Anthroposophie« (1914).)

Die anthroposophische Geisteswissenschaft erscheint im Buch »Von Seelenrätseln« als eine von der anthropologischen Erkenntnis selbst geforderte Ergänzung. Entweder die Anthroposophie besteht zu Recht, oder auch dem naturwissenschaftlichen Bild des Menschen kommt kein Wahrheitswert zu. Diese These handelt Steiner im ersten Teil des Buches »Von Seelenrätseln« unter dem Titel »Anthropologie und Anthroposophie« ab, – eine Dichotomie, die dem aufmerksamen Leser seit 1909 vertraut ist. Anthropologie steht in diesem Text für die Gesamtheit der Wissenschaften, die sich auf Sinnesbeobachtung und Verstandestätigkeit stützen.

Zwischen der Anthroposophie, die auf – von der Sinnesbeobachtung unabhängigen – seelischen Erfahrungen beruht, und der Anthropologie scheint eine unüberbrückbare Kluft zu bestehen. Dennoch gibt es ein Gebiet, das beiden gemeinsam ist und auf dem eine Diskussion über die jeweiligen Erkenntnisergebnisse geführt werden kann.

Die Anthroposophie erkennt den Menschen als geistiges Wesen, als Angehörigen der »geistigen Welt«. Der geistige Mensch offenbart sich im Leib. Die den Leibesvorgängen am nächsten stehende Offenbarung des geistigen Menschen ist das Bewusstsein, durch das er an den Sinneseindrücken sein Vorstellungsleben entwickelt. Als letzte Äußerung des geistigen Wesens des Menschen erscheint das vorstellende Bewusstsein. Die Anthroposophie vermag zu beschreiben, wie das geistige Leben, das den Vorstellungen zugrunde liegt, durch die Sinne herabgelähmt wird. Das herabgelähmte Vorstellungsleben ist eine durch die Funktionen des Leibes zustande kommende Offenbarung des geistigen Menschenwesens. Was diesem Ablähmungszustand vorausgeht, ist rein geistiger Art. Im Vorstellungsleben wirken Leib und geistiges Wesen des Menschen zusammen.

Die Anthropologie untersucht den Menschen durch Sinnesbeobachtung. Ihr erscheint als letztes Produkt der Naturprozesse ebenfalls der Mensch, der in seinem Leib das Vorstellungsleben entwickelt. Das menschliche Bewusstsein mit den Vorstellungen erscheint ihr als Produkt des Leibes. Den inneren gesetzmäßigen Zusammenhang der Vorstellungen vermag die Anthropologie, insofern sie sich der Sinnesbeobachtung bedient, nicht zu erklären.

Das letzte, auf das die Anthroposophie hinblickt, ist das geistige Wesen des Menschen, das seine geistige Tätigkeit durch die Sinne ablähmt, das letzte, auf das die Anthropologie hinblickt, ist der Organismus des Menschen, der aus sich das Vorstellungsleben erzeugt.

Aber das Vorstellungsleben ist nicht durch die Gesetze des Organismus bestimmt, sondern durch die Gesetze der Logik. In dem von der Logik beherrschten Denken herrschen andere Gesetze als die der Leibesorganisation. Die Gesetze der Logik sind eine Erscheinungsform des auf seinen eigenen Gesetzen beruhenden geistigen Wesens des Menschen.

Die Anthropologie vermag die Gesetze der Logik nicht aus der sinnlichen Wahrnehmungswelt abzuleiten, sie muss diese als Ausdruck einer Wirklichkeit betrachten, die sich zwar mit der sinnlichen zu einer Einheit zusammenschließt, aber zugleich von ihr unterscheidet. Im Vorstellungsleben, das von den Gesetzen der Logik getragen wird, offenbart sich für die Anthropologie der geistige Mensch, der in die sinnliche Welt hineinragt.

Das Gebiet der Logik ist das Gebiet, auf dem Anthropologie und Anthroposophie zusammentreffen. Die Anthroposophie vermag zu zeigen, wie der lebendige Geistesmensch in seinem Leben zwischen Geburt und Tod ein Bewusstsein entwickelt, das auf der Herablähmung seines geistigen Lebens beruht. Die Anthropologie beobachtet, wie der leibliche Mensch sich im Bewusstsein selbst erfasst, und in ein geistiges Dasein hinaufragt, das über Geburt und Tod hinausweist. Eine »fruchtbare Verständigung« zwischen Anthropologie und Anthroposophie ist am Grenzort möglich, wo sich diese beiden Ansichten des Menschen begegnen. (GA 21, 1976, S. 32.) Beide können sich zu einer Philosophie über den Menschen fortbilden, der auf der einen Seite als höchste Stufe der organischen Entwicklung und auf der anderen als äußerste Annäherung des geistigen Lebens an die sinnliche Welt erscheint. Die beiden Bilder des Menschen werden zwar mit völlig unterschiedlichen Mitteln gemalt, sie werden aber einander entsprechen, wie das Negativ und das Positiv eines Filmes. Insofern schließen sich die beiden Forschungsweisen der Naturwissenschaft und der Geisteswissenschaft im Sinne der Komplementarität zusammen.

Wie man sieht, hielt Steiner die Vereinbarkeit von Natur- und Geisteswissenschaft für möglich, sah jedoch auch klar ihren Gegensatz. Auch wenn sich Anthropologie und Anthroposophie auf dem Gebiet der Philosophie über den Menschen begegnen können und insoweit ergänzen, verhalten sich die von ihnen aufgrund ihrer spezifischen Forschungsmethoden entwickelten Menschenbilder zu einander wie das Positiv und das Negativ einer Fotografie. Genau dasselbe ließe sich auch von der Physik im Hinblick auf Kosmogonie oder Kosmologie sagen oder von den Kulturwissenschaften, insoweit sie sich mit der Gesamtheit der von Menschen »geschaffenen Gebilde« befassen, in denen sich »der Geist des Menschen Ausdruck verliehen hat« (Dilthey). Das Postulat der »vollen Übereinstimmung mit allen Fortschritten gegenwärtiger Wissenschaft« aus dem Jahr 1909 konnte für Steiner nie heißen, dass die unterschiedlichen Wissenschaften inhaltlich zu denselben Ergebnissen kommen, es hieß vielmehr immer, dass die unterschiedlichen Ergebnisse sich komplementär zueinander verhalten.


Zanders Fixierung auf die Leitfrage nach dem Verhältnis von Natur- und Geisteswissenschaft sollte nicht dazu verführen, die von ihm ausgeblendeten Darstellungen der geisteswissenschaftlichen Methodologie zu ignorieren. Schon bei seiner Behandlung der »Geheimwissenschaft im Umriss« hat Zander versäumt, das methodologische Kapitel dieses Werkes angemessen zu würdigen. Dass es in seinem Exkurs zur theosophischen Erkenntnistheorie nicht auftaucht, ist deswegen nicht weiter erstaunlich. Weiter oben wurde dargelegt, dass »Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?« eine systematische Darstellung der geisteswissenschaftlichen Methodologie enthält und die einzelnen Komponenten dieser Methodologie wurden einer Analyse unterzogen. »Die Stufen der höheren Erkenntnis« als »Erkenntnislehre der Geheimwissenschaft wurden im Anschluss an »Wie erlangt man...« behandelt. Der eben erfolgte Hinweis auf die Schrift »Von Seelenrätseln« war durch die Leitfrage Zanders nach dem Verhältnis von Natur- und Geisteswissenschaft veranlasst, die ihn bis ins Jahr 1925, zur letzten Vorrede der »Geheimwissenschaft im Umriss« geführt hat. Von hier aus eröffneten sich Ausblicke auf eine ganze Reihe weiterer methodologischer und epistemologischer Untersuchungen Steiners, die hier nicht in extenso diskutiert werden können.

In der »Zwischenbilanz« seiner bisherigen Untersuchungen fasst Zander die Ergebnisse der »gewonnenen Einsichten« unter neun (acht) Gesichtspunkten zusammen, von denen allerdings Punkt 4. in der durchlaufenden Nummerierung des betreffenden Kapitelchens fehlt.

Auf S. 682 schreibt Zander:

»Mit der Konversion in die Theosophie und dem Aufstieg zum Generalsekretär der deutschen Sektion der Theosophischen Gesellschaft Adyar waren die Akzeptanz und Verinnerlichung zentraler theosophischer Vorstellungen über die Lektüre theosophischer Schriften verbunden.«

Von einer »Konversion« Steiners zur Theosophie, die auf einer »Akzeptanz und Verinnerlichung zentraler theosophischer Vorstellungen« beruhe, die von ihm »über die Lektüre theosophischer Schriften« aufgenommen worden seien, kann keine Rede sein. Erstens »konvertierte« Steiner nicht zur Theosophie als einer Summe traditioneller Lehren oder Dogmen, sondern füllte deren Begriff nach seinem eigenen Verständnis und mit einem Inhalt, der nicht aus der theosophischen Literatur stammte.

Bereits vor seinem »Aufstieg« zum Generalsekretär zeigt sich dieser Inhalt in seinen ersten beiden Werken nach der Jahrhundertwende, der »Mystik im Aufgang ...« und dem »Christentum als mystische Tatsache ...«. Wenn man sich nicht durch Äußerlichkeiten wie eine bestimmte Terminologie verleiten lässt, darf man sogar behaupten, dass der Kerngehalt dessen, was Steiner nach der Jahrhundertwende mit dem Ausdruck »Theosophie« benannte, bereits in seinen Werken vor 1900 enthalten war:

(1) Ein dynamischer und spiritueller Erkenntnisbegriff, der im Erkennen nicht nur eine originäre Leistung des individuellen Menschengeistes sieht, sondern auch eine Möglichkeit, mit dem Weltengrund, mit Gott, durch die Erweiterung des Bewusstseins ontisch eins zu werden, ohne dabei die Individualität zu verlieren.

(2) Ein Denken in Entsprechungen, Korrespondenzen. Die Natur und der Kosmos sind auf den Menschen hingeordnet, diese bilden sich in ihm als natürlichem und geistigem Wesen ab. Der Mensch vermag sich erkennend mit den schöpferischen Kräften des Kosmos zu verbinden und wächst zunehmend in den unausschöpfbaren geistigen Weltzusammenhang hinein.

(3) Dieses Hineinwachsen des Menschen in den geistigen Weltzusammenhang lässt den letzteren aber nicht unverändert, sondern bildet ihn fort. Es gilt also auch der umgekehrte Satz: nicht nur das Obere bildet sich im Unteren ab, sondern auch das Untere im Oberen. Erkennen bedeutet mithin fortschreitende Transmutation des Menschen und des Kosmos.

(4) Der Kosmos ist kein mechanisches System, sondern lebendig. Er trägt das Unlebendige in sich, insofern er ein anorganisches Reich bildet, das jedoch in eine Sphäre des Lebens, der Seele und des Geistes eingebettet ist. Die ursprüngliche Wirklichkeit, in der das Sein fundiert ist, ist geistig, ideell, lebendig.

(5) Die Erkenntnis der Welt erschöpft sich nicht in abstrakten Symbolsystemen, die in sich komplexe Wirklichkeit bedarf weiterer Erkenntnisformen, durch die die Natur des Lebendigen, Seelischen und Geistigen erkannt werden kann. Diese Erkenntnisformen sind solche der Imagination, Inspiration und Intuition (anschauende Urteilskraft, Partizipation, Hingabe).

(6) Von einer Mediation, einer Vermittlung der Erkenntnis durch überindividuelle spirituelle Mächte kann insofern gesprochen werden, als die Kollektivgeistigkeit, der sich das erkennende Individuum in Geschichte und Gemeinschaft zuwendet, zunächst als Vermittler von Traditionen auftritt, ehe deren Autorität auf den erkennenden Menschen selbst übergeht: Mediation bedeutet in diesem Zusammenhang Paradosis, Übergang der ideellen Gestaltungsmacht von Kollektivmächten auf das geschichtliche, autonome Individuum als Glied einer Gesellschaft von Freien, an der es souverän mitgestaltet.

So betrachtet, trägt das philosophische Denken Steiners bereits alle Züge, die für die Esoterik als »Denkform« nach Antoine Faivres Systematisierungsvorschlag bestimmend sind. (Antoine Faivre, Esoterik im Überblick. Geheime Geschichte des abendländischen Denkens, Freiburg 2001, S. 24-34.) Dieser esoterische Gehalt der Philosophie Steiners geht nach 1900 im Begriff der »Theosophie« auf, aus dem sich wiederum jener der »Anthroposophie« entfaltet, der, wie sich gezeigt hat, nicht die Gesamtheit des von Steiner anvisierten Weisheitssystems beinhaltet, kommt doch zur Weisheit vom Menschen (Anthroposophie) noch eine Psychosophie und eine Pneumatosophie hinzu.

In seiner Zwischenbilanz behauptet Zander, die Analyse der Quellen ergebe, dass der Inhalt der theosophischen Weltanschauung Steiners aus der theosophischen Literatur stamme.

Auf S. 682 schreibt Zander:

Der quellenanalytische Befund ergibt, »daß die Inhalte von Steiners theosophischer Weltanschauung von ihrer Begründungsstruktur als ›übersinnliche Erkenntnisse‹ in der Makrostruktur ihrer Inhalte sowie in sehr vielen mikroskopisch aufdeckbaren Details aus der theosophischen Literatur stammen. Der Nachweis des von Steiner nie ganz offengelegten und im Laufe der Zeit immer stärker kaschierten Zusammenhangs mit der Theosophie gelingt nicht nur über die Aufdeckung paralleler Argumentationsmuster und Inhalte, sondern auch über Steiners eigene Hinweise auf die Bedeutung theosophischer Quellen, die in den Publikationen aus den Jahren bis etwa 1905 noch relativ zahlreich sind.«

Diese weitreichenden Behauptungen sind durch Zanders Untersuchungen keineswegs gerechtfertigt.

Zander ist weder die Aufdeckung »paralleler Argumentationsmuster und Inhalte« gelungen, noch enthalten Steiners eigene Hinweise auf theosophische Texte Zugeständnisse, er habe aus diesen als Quellen geschöpft. Vielmehr erweisen sich die Bezugnahmen Steiners auf theosophische Quellentexte bei näherer Betrachtung als Hinweise auf Referenzliteratur, die von ihm als Belege für seine eigenständigen Forschungen verstanden wurden, als durch soziale Anlässe bedingte Exegesen und als kritische Bezugnahmen, die durch diese Literatur verbreitete Irrtümer korrigierten.

Es trifft auch nicht zu, dass Steiner zuerst die »theosophischen Inhalte« rezipiert hätte, bevor er sich in die »Legitimierungsstruktur«, den »Erkenntnispfad«, einlas. (Zander I, S. 682.)

Vielmehr zeigt eine gründliche Quellenanalyse, dass schon in seinen philosophischen Werken die Struktur des späteren Schulungsweges angelegt ist, und dass Steiner selbst bereits in seiner philosophischen Phase eine Form der Meditation praktizierte, deren Spuren wiederum in den philosophischen Schriften nachweisbar ist. Von dieser spirituellen Praxis führt ein direkter Weg zu den »theosophischen Inhalten« und von ihnen aus ist auch die systematische Beziehung zwischen Erkenntnisweg und Erkenntnisinhalt abzuleiten. Der Pfadcharakter der Erkenntnis kommt ebenso deutlich in den beiden Schriften der Jahrhundertwende »Die Mystik im Aufgang ...« und »Das Christentum als mystische Tatsache ...« zum Vorschein, in denen die transformative Bedeutung des Erkennens durch Bezugnahme auf die Sprache der christlichen Mystik und die europäischen Mysterientraditionen zum Ausdruck gebracht wird.

Zander meint in seiner Zwischenbilanz, die »Außenperspektive«, die in der Theosophie eine durch asiatisches Denken geprägte Weltanschauung sehe, sei falsch. Dieser Auffassung ist, zumindest soweit sie die Theosophie Steiners betrifft, zuzustimmen. Allerdings trifft Zanders Behauptung nicht zu, Steiner habe nur punktuell asiatische Vorstellungen »rezipiert«.

Auf S. 682 schreibt Zander:

»Die seit 1900 dominierende Außenperspektive, die ›anglo-indische‹ Theosophie sei durch asiatisches, buddhistisches oder hinduistisches Denken geprägt, läßt sich für Steiner nicht bestätigen, und dies gilt sowohl für andere deutsche theosophische Gesellschaften als auch für weite Teile der europäischen Adyar-Theosophie. Steiner hat nur punktuell asiatische Vorstellungen rezipiert und sie in jedem Fall einer eurozentrischen Hermeneutik unterworfen ...«

Entgegen Zanders Behauptung von der »bloß punktuellen Rezeption asiatischer Vorstellungen«, muss betont werden, dass Steiner sich im ersten Jahrzehnt seines Wirkens im Rahmen der theosophischen Gesellschaft extensiv mit asiatischen Vorstellungen – mit dem Hinduismus, Buddhismus, Zoroastrismus, den chaldäischen und ägyptischen Mysterienreligionen – auseinandergesetzt und diese aus einer universalhistorischen Perspektive auf das Mittelpunktsereignis der Weltgeschichte bezogen hat, von dem das historische Christentum ausgegangen ist.

Dieser Bezug auf das Stiftungsereignis des Christentums als »Menschheitsreligion« kann nicht als »eurozentrische Hermeneutik« diffamiert werden, wie Zander dies tut, stammt doch das Christentum nach Steiners zutreffender Auffassung selbst aus Asien und ist nicht an einen bestimmten geographisch-völkischen Raum gebunden, wodurch es zu einer völkischen Religion denaturieren würde.

Zanders Fehldeutung der Christologie Steiners beruht auf einer Verwechslung von Christozentrik und Eurozentrik. Der Vorwurf des Eurozentrismus gegen das Christentum impliziert ein ethnizistisches Missverständnis dieser Religion, von dem man annehmen muss, dass Zander ihm erlegen ist.

Es trifft außerdem nicht zu, dass Steiner die Reinkarnationsvorstellung »durch eine Lektüre der Upanishaden schätzen« lernte, um sie später als europäische Tradition »auszuweisen«. (Zander I, S. 682-683.) Vielmehr ist die Reinkarnationsidee bereits im Verständnis der geistigen Individualität angelegt, das in der »Philosophie der Freiheit« entwickelt wird, taucht in der »Mystik im Aufgang ... « implizit in der Unterscheidung zwischen Persönlichkeitsgeist und Individualität und im »Christentum als mystische Tatsache ...« nicht nur als Bestandteil genuiner europäischer Traditionen, sondern auch als Ergebnis originärer spiritueller Erfahrung auf.