Unter dem Stichwort »Quellentypologie« fasst Zander in seiner »Zwischenbilanz« eine Reihe von Behauptungen zusammen, die einer näheren Nachprüfung, wie weiter oben gezeigt, nicht standhalten.

Auf S. 682-683 schreibt Zander:

»Unter der gegen kritische Nachfragen immunisierenden Oberfläche ›übersinnlicher‹, unmittelbar auf Erkenntnisgegenstände zugreifenden Schau liegen für den historiographischen Blick die Quellen, aus denen Steiner die Akasha-Chronik montierte. Wenn auch vermutlich nicht alle wichtigen Werke dieses Fundus augenblicklich identifizierbar sind, so lassen sich doch wichtige Lektüren in drei literarischen Gattungen erkennen.

– Von den Konstruktionsstrukturen bis in die inhaltlichen Details der Akasha-Chronik zeigt der historische Befund, dass Steiner die theosophische Literatur rezipiert und daraus eigene Werke kompiliert, aber auch in seinem Sinn fortgeschrieben hat. Folgende theosophische Autoren hat er nachweislich gelesen: Annie Besant, Helena Petrovna Blavatsky, Mabel Collins, Charles Webster Leadbeater, Edouard Schuré, William Scott-Elliot und Alfred Percy Sinnett.

Dass er weitere Autoren gekannt und verwertet hat, ist wahrscheinlich.

Populärwissenschaftliche Literatur. Steiner, der ehemalige Student an der Wiener Technischen Hochschule, hat sein Interesse für naturwissenschaftlich-technische Fragen und die Lektüre einschlägiger Werke bis an sein Lebensende behalten, auch nicht – alles andere wäre überraschend – während der Anverwandlung der Theosophie. Dabei las er kaum akademische, sondern zumeist populärwissenschaftliche Werke und verschränkte seine vortheosophische Wissenschaftsgläubigkeit mit den Plausibilisierungsstrategien seiner theosophischen Quellen, die miteinander verbunden in Steiners Texten auftauchen.

Die Atlantisvorstellung und der Rassenkomplex sind beispielsweise massiv mit Elementen der damaligen Geologie und Ethnologie durchsetzt.

Fragen kann man allenfalls, welche Werke Steiner über theosophische Literatur und welche er eigenständig wahrgenommen hat. Scott-Elliot illustriert dabei die theosophisch vermittelte Rezeption von Populärwissenschaft, seinen Haeckel hingegen hat er unabhängig von der Theosophie gelesen. Steiner gehört mit seiner Rezeption allgemeinverständlicher Literatur in die breite Strömung der weltanschaulichen, nachgerade religiös gefärbten Verarbeitung naturwissenschaftlicher Erkenntnisse, die Andreas Daum für das Kaiserreich um 1900 eindrücklich beschrieben hat. Der kategorialen Differenz zwischen kritischer Literatur oder empirischer Forschung einerseits und ihrer populären Aufarbeitung andererseits war sich Steiner allerdings ebensowenig bewusst wie viele seiner popularisierenden Kollegen. Kaum ein Faktor indiziert diese Problemstelle so auffällig wie das Fehlen von Werken der naturwissenschaftlichen Avantgarde.

Fiktionale Literatur. Steiner die Verwendung fiktionaler Literatur zu unterstellen, besitzt angesichts seines Wahrheitsanspruchs einen polemischen Beigeschmack, aber eben diese Grenzverwischung war in theosophischen Kreisen durchaus üblich und offenbar auch nicht anrüchig. Ein Beispiel bildet dafür das Werk Bulwer-Lyttons, der mit seinen okkultistischen Romanen unter Theosophen als ›Wissender‹ hohe Anerkennung genoss. Bei Blavatsky, die im Genre der phantastischen Literatur ausgesprochen belesen gewesen sein muss, lassen sich die Transpositionen seiner Romantopoi in Weltanschauung an vielen Stellen vermuten und teilweise belegen. Auch Steiners Übernahme von Bulwers Neologismus »Vril« und der damit verbundenen Inhalte dokumentiert diese ›Realisierung‹ von Belletristik. Ob Steiner die Fiktionalität von Bulwers Werken nicht klar war oder ob er darin eine Ummantelung esoterischer Arkana sah, ist schwer zu entscheiden, aber für die Analyse des Transformationsvorgangs auch nicht ausschlaggebend. Wie fließend der Übergang zwischen Weltanschauungsprosa und imaginärer Unterhaltungsliteratur war, zeigt sich in der Doppelexistenz einiger Theosophinnen wie Blavatsky und Mabel Collins, die neben ihren Weltanschauungsschriften auch ein beträchtliches literarisches OEuvre hinterlassen haben; als Autor von Erzählungen und Romanen ist Steiner allerdings nicht aufgetreten.«

Zander ist es nicht gelungen, die »Quellen« zu identifizieren, aus denen Steiner angeblich seine Akasha-Chronik »montierte«. All seine diesbezüglichen Behauptungen erweisen sich bei genauerem Hinsehen als Unterstellungen, sowohl was die angeblichen »Konstruktionsstrukturen« als auch die »inhaltlichen Details« anbetrifft. Selbst marginale Befunde stellen sich bei genauer Nachprüfung nicht als das heraus, was sie nach Zanders Voraussetzungen belegen sollen.

Die These, Steiner habe seine Kenntnisse über die Wissenschaften seiner Zeit nur aus populärwissenschaftlicher Literatur bezogen, und kein Bewusstsein von der kategorialen Differenz zwischen kritischer Literatur, empirischer Forschung und ihrer populären Aufarbeitung besessen, ist eine unbegründete, durch nichts bewiesene Behauptung.

Ebensowenig kann Steiner für seine »vortheosophische« Phase »Wissenschaftsgläubigkeit« unterstellt werden. Um sich einen Überblick über die von Steiner rezipierte wissenschaftliche Literatur zu verschaffen, genügt ein Blick in die bibliografischen Indizes der Schriften und Aufsatzsammlungen der Gesamtausgabe.

Dass Steiners gesamte Schriften vor der Jahrhundertwende im Wesentlichen wissenschaftskritisch sind, sofern Wissenschaft reduktionistisch verstanden wird, ist Zander offenbar entgangen.

Dass Steiner Elemente fiktionaler Literatur übernommen und in Ergebnisse seiner eigenen Geistesforschung umgedeutet hätte, ist eine Behauptung, die einer näheren Nachprüfung ebensowenig standhält. Weder die Gestalt des Hüters der Schwelle stammt aus Werken Bulwer-Lyttons, noch das Konzept der Lebenskraft, der in Steiners Anthropologie und Kosmologie eine eigenständige Bedeutung zukommt, deren Vorkommen bereits vor dem Auftauchen des von Bulwer-Lytton geprägten Ausdrucks »Vril« in Texten Steiners nachgewiesen werden kann. Der Begriff geht bis in die ersten Goetheschriften zurück und wurzelt letztlich in der aristotelischen Philosophie.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Im fälschlicherweise mit »fünftens« eingeleiteten Absatz seiner »Zwischenbilanz« stellt Zander unter dem Titel »Produktionsprozess« einige irreführende Behauptungen auf.

Auf S. 684-685 schreibt Zander:

»Steiners Werke seiner hochtheosophischen Phase sind nicht aus einem Guss und entstanden auch nicht nach einer festliegenden Konzeption.

Vielmehr ließ sich nachweisen, dass sie sukzessiv entstanden ... Die beständigen Veränderungen relativieren Steiners Anspruch auf ›exakte Clairvoyance‹ und weisen ihn weitenteils als Bricolage- und Transformationstechniker aus.

...

Steiners Position lässt sich deshalb nur innerhalb enger chronologischer Grenzen bestimmen.

...

Die theosophische Anthropologie der sieben Körperhüllen hat sukzessive die trichotomische Leib-Seele-Geist-Vorstellung von ihrem dominierenden Platz verdrängt, ohne sie vollständig zu ersetzen.

...

Die Kosmologie der sieben planetarischen Stufen einschließlich der Wurzel- unter Unterrassen-Vorstellung hat Steiner an einen vorher nur unscharf definierten Platz seines Weltbildes gesetzt und auch hier die theosophischen Doktrinen en détail rezipiert.«

Steiners Werke sind laut Zander »sukzessive« entstanden.

In der Tat, wie jedes Werk – auch Zanders eigenes – sukzessive entsteht. Die immer wieder vorgenommenen Änderungen in der Textgestalt seiner Werke relativieren aber keineswegs Steiners Anspruch auf »exakte Clairvoyance«, wie Zander meint.

Vielmehr können diese auch umgekehrt gedeutet werden: gerade die Exaktheit der Clairvoyance ließ Steiner umso mehr das Ungenügende der sprachlichen Darstellung dieser Clairvoyance empfinden und ihn nach immer präziseren, zutreffenderen und zugleich verständlicheren Formulierungen suchen. Die mit der sprachlichen Darstellung übersinnlicher Erkenntnisse verbundenen Probleme wurden von Steiner vielfach thematisiert. Dass Zander die Veränderungen auf sprachlicher Ebene konsequent als Veränderungen des Inhalts missdeutet, ist Folge seines Nominalismus, der nicht zwischen Wort und Begriff unterscheidet.

Sehr deutlich hat Steiner dieses Problem in seiner Antwort auf die Kritik Max Dessoirs in »Von Seelenrätseln« 1917 formuliert. Die betreffenden Sätze über Dessoir lassen sich auch auf Zander anwenden:

»In der Anthroposophie hat man es zu tun mit Darstellungen des Geistigen. Man muss sich dabei der Worte, ja der Wortfügungen der gewöhnlichen Sprache bedienen. Man kann in diesen aber durchaus nicht immer adäquate Bezeichnungen finden für das, worauf die Seele gerichtet ist, wenn sie Geistiges schaut. Die im Geistigen herrschenden Beziehungen, die besondere Art desjenigen, was man da ›Wesen‹ und Vorgänge nennen kann, ist viel komplizierter, feiner, vielgestaltiger als das, was im gewöhnlichen Sprachgebrauch zum Ausdruck kommt. Man gelangt nur zum Ziele, wenn man die Möglichkeiten ausnutzt, die in der Sprache liegen in bezug auf Satzwendungen, Wortumstellungen; wenn man sich bemüht, das, was ein Satz nicht adäquat aussprechen kann, durch einen hinzugefügten zweiten im Zusammenhang mit dem ersten zum Ausdruck zu bringen. Zum Verständnis der Anthroposophie ist durchaus nötig, auf solche Dinge einzugehen. Es kann zum Beispiel der Fall eintreten, dass ein geistiger Tatbestand ganz schief gesehen wird, wenn man die Ausdrucksform nicht als etwas Wesentliches ansieht. Dessoir ist nicht einmal im entferntesten darauf gekommen, dass so etwas zu berücksichtigen wäre. Er scheint überall vorauszusetzen, dass, was ihm unverständlich ist, auf dem kindlichen Denken, auf der primitiven Methode des andern beruht.« [GA 21, 1976, S. 47 (Anmerkung).]

Wenn Zander aus der Flüssigkeit der Textgestalten die Folgerung ableitet, Steiners Positionen ließen sich nur »innerhalb enger chronologischer Grenzen« bestimmen und angemessen sei vielmehr eine »diachrone« Perspektive, so verbindet er eine wahre Einsicht mit einem Irrtum.

Da nach Steiners Selbstverständnis Erkenntnis, auch spirituelle Erkenntnis, ein unabschließbarer, sich fortwährend erweiternder und vertiefender Prozess ist, kann es abgeschlossene Positionen in Steiners Werk gar nicht geben. Die einzelnen Textgestalten oder Darstellungen eines Themas im Vortragswerk repräsentieren vielmehr die jeweils erreichte Tiefe der Einsicht und spiegeln die im gegebenen Moment eingenommene Perspektive wieder. Der aufgeklärte Leser der Werke Steiners geht daher davon aus, dass er es bei keiner zu einem bestimmten Zeitpunkt formulierten Ansicht mit einer letztgültigen, nicht mehr überholbaren Einsicht Steiners zu tun hat. Dies bedeutet, dass man Anthroposophie, insoweit sie im geschriebenen und gesprochenen Wort Steiners Gestalt angenommen hat, nicht als abgeschlossen betrachten kann, sondern nur als Fragment. Die gesamte Anthroposophie ist in diesem Sinn Fragment, unabgeschlossener Entwurf, nicht nur das Fragment namens »Anthroposophie« (GA 45).

Das Bewusstsein, das der Flüssigkeit des von Steiner hinterlassenen Wortkorpus Rechnung trägt, ist durch diese Eigenart der Steinerschen Logoi vor Dogmatisierung geschützt und aufgerufen, das unvollendete Projekt weiter zu führen. Die Diachronizität der Sichtweise erweist sich in einem noch viel tieferen, als in dem von Zander gemeinten Sinn als der hermeneutische Schlüssel zum Verständnis der Anthroposophie: sie umschließt nämlich uns selbst, die wir aus unserem gegenwärtigen Zeitmoment in die Wortgebirge der gewordenen Anthroposophie blicken. Die Leser als Interpreten sind in die Fortbildung dessen, was Anthroposophie meint, eingeschlossen – und dieser Fortbildungsprozess ist ebenso wenig abschließbar, wie die Anthroposophie in ihrer historischen Gestalt abgeschlossen ist. Wir selbst, als Leser, Kritiker, Autoren, sind Teil der Wirkungsgeschichte der Anthroposophie und diese Wirkungsgeschichte wird sich über uns selbst hinaus fortsetzen.

Wie weiter oben gezeigt wurde, trifft auch nicht zu, dass die »theosophische Anthropologie der sieben Körperhüllen« die Trichotomie von Leib, Seele und Geist sukzessive verdrängt hätte, vielmehr ist die erstere bereits in der letzteren enthalten und stellt deren systematische Entfaltung dar. Ebensowenig hat Steiner die »Kosmologie der sieben planetarischen Stufen« aus der Theosophie »en détail« übernommen, brachte er diese doch bereits in seiner »Mystik im Aufgang ...« zur Sprache.

Zander sieht im Prinzip der Evolution das wichtigste »Konstruktionsprinzip« der Theosophie Steiners. Das ist aber nur die halbe Wahrheit. Denn genau so »wichtig« wie diese ist in Steiners Denken auch die Involution.

Auf S. 685 schreibt Zander:

»Das wichtigste Konstruktionsprinzip von Steiners theosophischer Weltanschauung (und der seiner Vorgänger) heißt Evolution. Die frühneuzeitlichen europäischen Fortschrittsmodelle wurden mit evolutiven Vorstellungen vor allem aus der Biologie verschmolzen und bildeten das Strukturgerüst sowohl der Anthropologie, die für Steiner im Kern eine Bewusstseinsgeschichte ist, als auch der Kosmologie, die von einem geistigen Urzustand über den Tiefstpunkt der Materialisierung in der aktuellen Zeitepoche bis zur Respiritualisierung verlaufe.

Dabei verzichtete er auf die Entteleologisierung der Geschichte, die in der Evolutionsbiologie um 1900 diskutiert wurde.«

Zander ist zuzustimmen, wenn er in der Evolution ein wichtiges »Konstruktionsprinzip« der Theosophie Steiners sieht. Aber das ist nur die halbe Wahrheit.

Der Evolution steht als ebenso bedeutsames Prinzip die Kreation zur Seite, die Evolution erst ermöglicht.

Unzutreffend ist die Auffassung, Steiners Evolutionsidee sei dem »frühneuzeitlichen europäischen Fortschrittsmodell« verpflichtet, das nur einen linearen Aufstieg kennt, da Steiners Evolutionsidee nicht nur fortlaufende Akte der Kreation einschließt, sondern auch die Gegenbewegungen der Destruktion.

Entwicklung setzt nach Steiners Verständnis nicht nur Kreation voraus (das sukzessive Einströmen des Neuen aus der Hierarchienwelt in die kosmische Entwicklung und die Geschichte der Menschheit), sie ist selbst nur als das Ergebnis zweier gegeneinander laufender Strömungen verständlich: einer gestaltbildenden und einer gestaltauflösenden. Jede neue Stufe der Gestaltbildung setzt auf der Gegenseite eine Stufe der Gestaltauflösung frei, jede weitere Verdichtung von Stofflichkeit ist von einer weiteren Stufe der Vergeistigung begleitet, alles, was sich in der Zeit vorwärts bewegt, ist von einem gegenläufigen Zeitstrom durchdrungen, der sich rückwärts bewegt, was aus einer Perspektive als Aufstieg erscheint, erscheint aus der ebenso richtigen Gegenperspektive als Abstieg und umgekehrt, der Fortschritt ist zugleich ein Rückschritt, der Höhepunkt der physischen Evolution ist der Tiefpunkt der geistigen Evolution, Differenzierung setzt Ungleichzeitigkeit und Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen voraus, an ein und demselben Organismus gibt es Organe, die in aufsteigender und andere, die in absteigender Entwicklung begriffen sind, so auch im Kosmorganismus. Genauso wichtig wie Evolution ist also auch Devolution oder Involution.

Nicht die »Anthropologie« ist bei Steiner im Kern eine »Bewusstseinsgeschichte«, sondern die Anthropogonie, nicht die »Kosmologie« entfaltet die Bewegung vom Geist durch den Stoff zur Respiritualisierung, sondern die Kosmogonie.

Steiner hat auch nicht auf die »Entteleologisierung« der Geschichte verzichtet, sondern diese als Synthese von Freiheit und Notwendigkeit interpretiert, als Resultante eines Zusammenspiels sich durchdringender Sphären zyklischer Ordnung und wachsender menschlicher Freiheit, deren Telos die vollständige Umwandlung der naturhaft-göttlichen Seins- und Zeitordnung in eine menschenförmige, im Ich auferstehende Freiheits-Ordnung ist.

Unter dem Stichwort »Autorität« wiederholt Zander seine grundlegende Fehlinterpretation des esoterischen Schulungsweges, die diesem eine autoritäre Struktur und einen elitären Anspruch unterstellt.

Auf S. 685 schreibt Zander:

»Steiner wollte den Zugriff auf ›übersinnliche‹ Erkenntnisse keiner Kontrolle unterworfen wissen. Dieser Anspruch konkurrierte jedoch mit einer massiv autoritären Konstruktion der Wissensvermittlung, die auf einem nicht demokratisierbaren Wissenszugang in der Esoterischen Schule, auf ›Eingeweihten‹ und ›Geheimschulen‹ beruhte. Auch Steiner sah sich in der Nachfolge großer Führergestalten der ›esoterischen‹ Tradition. Diese oligarchische Struktur der Wissensvermittlung hat Steiner zwar im Lauf der Jahre eingeschränkt, aber nicht aufgehoben und auch in seinen nachtheosophischen Theorien, etwa der ›Dreigliederung‹, wieder zum Tragen gebracht. Im Verhältnis zwischen selbständigem Wissensgewinn und autoritativer Wissensvermittlung blieb die Dominanz der ›Führer‹ oder ›Eingeweihten‹ die regulative Norm. Der Erkenntnisweg ›Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?‹ legt davon ein beredtes Zeugnis ab.«

Der einleitende Satz dieses Abschnittes: »Steiner wollte den Zugriff auf ›übersinnliche‹ Erkenntnis keiner Kontrolle unterworfen wissen«, ist entweder selbstwidersprüchlich oder inhaltsleer. Er setzt voraus, dass Erkenntnis kontrollierbar ist. Dieser Anspruch widerspricht dem Wesen des Erkennens.

Wenn Erkenntnis kontrollierbar wäre, gäbe es streng definierte Verfahren, aus denen neue Erkenntnis zwingend abgeleitet werden könnte. Die Geschichte der Wissenschaften und ihrer Methodologien zeigt, dass es solche Verfahren der zwingenden Wissensvermehrung bedauerlicherweise nicht gibt.

Sollte der Satz auf eine Kontrolle der Erkenntnis abzielen, die von außerhalb des Erkenntnisprozesses erfolgt, als Kontrolle durch soziale oder politische Instanzen, dann impliziert er eine totalitäre Utopie. Wiederum zeigt die Geschichte, dass auch eine in diesem Sinn verstandene Kontrolle letztlich nie, schlimmstenfalls vorübergehend, erfolgreich war. Erkenntnis setzt sich am Ende gegen alle Zensur- und Kontrollinstanzen, gegen Repression und verabsolutierte Dogmen durch, selbst im Bereich der Wissenschaften. Insofern würde der Satz nur bestätigen, was in der Natur des Wissens selbst liegt, Steiners Wollen wäre keine Willkür, sondern Ausdruck des Wesens jeder Art von Erkenntnis.

Zander sieht diesen Anspruch auf Freiheit von Kontrolle im Widerspruch mit einer »massiv autoritären Konstruktion der Wissensvermittlung, einem nicht demokratisierbaren Wissenszugang«.

Diese Interpretation esoterischer Erkenntnis hat sich durch unsere Untersuchungen als grobes Missverständnis, wenn nicht gar als absichtliche Entstellung erwiesen. Steiners Bestreben war vielmehr von Anfang an die Demokratisierung des esoterischen Wissens, der Erkenntnis des Übersinnlichen.

Um hier noch einmal daran zu erinnern: Bereits 1901 heißt es in der »Mystik im Aufgang ...«: »Es darf nicht behauptet werden, dass diese innere Erfahrung nur durch die Begabung weniger Auserwählter möglich gemacht werde. Sie ist eine allgemein-menschliche Eigenschaft. Jeder kann auf den Weg zu ihr gelangen, der sich nicht selbst vor ihr verschließt.«

Das Schulungskapitel der »Theosophie« betont 1904: »Die Erkenntnisse der Theosophie kann jeder Mensch sich selbst erwerben«.

»Wie erlangt man ...« beginnt im Juni 1904 mit dem Satz: »In jedem Menschen schlummern Fähigkeiten, durch die er sich Erkenntnisse der höheren Welten erwerben kann.« Höhere Erkenntnis ist nicht elitär, sondern egalitär. Diese Überzeugung ist aber nicht eine persönliche Marotte Steiners, sondern ergibt sich aus seiner Auffassung von der Natur des Erkennens: nicht weil er persönlich es für gut befand, sollte ein bisher geheim gehaltenes Wissen demokratisiert werden, sondern weil es in der Natur dieses Wissens selbst liegt, für jeden Menschen zugänglich zu sein. Gleichzeitig muss jedoch auch betont werden, dass jedes Wissen elitär ist, da es erworben werden muss.

Unter dem Stichwort »Metaphorologie« wirft Zander Steiner vor, er habe sprachliche Bilder (Metaphern) mit Realitäten verwechselt. Große Teile der Anthroposophie beruhen nach Zanders Ansicht auf »Reifizierungen« von Worten, auf dem »Irrtum«, Worte seien Tatsachen.

Auf S. 685-686 schreibt Zander:

»Metaphern waren für ihn, etwa in der Beschreibung der ›Saturnphase‹, eben keine Instrumente einer philosophischen Sprache, sondern Abbildungen der Realität und fallen insoweit nicht mehr unter den Begriff der Metapher. Zwar hat er in seinem Spätwerk die realistische Metapherndeutung relativiert, aber die älteren Reifizierungen von Bildern nicht zurückgenommen.

Gegen den mainstream der philosophischen Tradition Europas, die seit der frühen Neuzeit theologische Gegenstände metaphorisiert hatte, drängte Steiner weitenteils zu einer erkenntnisrealistischen Nutzung metaphorischer Sprache.«

Diese Behauptungen Zanders blenden die gesamte vielschichtige Diskussion Steiners über das Sprach- und Mitteilungsproblem, die Schwierigkeiten der Entzifferung und Übersetzung aus, die zwischen der geistigen Anschauung und der Umsetzung derselben in die Alltagssprache bestehen.

So heißt es zum Beispiel in bezug auf den metaphorischen Gebrauch des Ausdrucks Leib in der »Theosophie«: »Mit ›Leib‹ soll bezeichnet werden, was einem Wesen von irgendeiner Art ›Gestalt‹, ›Form‹ gibt. Man sollte den Ausdruck ›Leib‹ nicht mit sinnlicher Körperform verwechseln. In dem in dieser Schrift gemeinten Sinne kann die Bezeichnung ›Leib‹ auch für das gebraucht werden, was sich als Seelisches und Geistiges gestaltet.« (GA 9, 1978, S. 38-39)

»Leib« ist demnach eine Metapher für ein gestaltbildendes Prinzip und das Ergebnis dieser Gestaltbildung, die »Form« oder »Gestalt«, die auch einem ideellen, seelischen oder geistigen Gebilde zugesprochen werden kann, in demselben Sinn, in dem man beispielsweise in der Geometrie von der ideellen Gestalt eines Dreiecks oder eines Kreises oder von »regulären Körpern« sprechen kann. Ebensowenig, wie ein Tetraeder einen physisch anfassbaren Körper besitzt, ist auch der »Astralleib« ein physisch anfassbarer Körper. Trotzdem erlaubt es die gesetzmäßige, deutlich definierte »Gestalt« des Tetraeders, von einem Körper zu sprechen, ebenso wie es die gesetzmäßig zum Beispiel vom »Ätherleib« abgegrenzte Funktion und Gestalt des Astralleibs erlaubt, von einem Leib zu sprechen.

Später weist Steiner auf die grundsätzlichen Schwierigkeiten hin, die mit dem Sprechen über das Geistige verbunden sind: »Es bietet gewisse Schwierigkeiten, in der gegenwärtigen Kulturepoche über die höheren Welten zu sprechen. Denn diese Kulturepoche ist vor allem groß in der Erkenntnis und Beherrschung der körperlichen Welt. Unsere Worte haben zunächst ihre Prägung und Bedeutung in bezug auf diese körperliche Welt erhalten. Man muss sich aber dieser gebräuchlichen Worte bedienen, um an Bekanntes anzuknüpfen. Dadurch wird bei denen, die nur ihren äußeren Sinnen vertrauen wollen, dem Missverständnis Tür und Tor geöffnet. – Manches kann ja zunächst nur gleichnisweise [Hervorhebung, L.R.] ausgesprochen und angedeutet werden. Aber so muss es sein, denn solche Gleichnisse [Hervorhebung, L.R.] sind ein Mittel, durch das der Mensch zunächst auf diese höheren Welten verwiesen wird und durch das seine eigene Erhebung zu ihnen gefördert wird.« (GA 9, 1978, S. 95-96)

Auch bei der Schilderung der »Seelenwelt« und des »Geisterlandes« in derselben Schrift weist er darauf hin, dass er sich der Gleichnisse bedienen müsse (die Ausdrücke »Seelenwelt« und »Geisterland« sind selbst schon »Gleichnisse«).

Über die Mannigfaltigkeit geistiger Wesen, die die Umwelt des Menschen bevölkern, bemerkt er: »Es sollte nicht gesagt zu werden brauchen, dass solche Beschreibungen nicht als Abbilder der ihnen zugrunde liegenden Wirklichkeit gelten können. Wären sie dieses, so wäre die durch sie gemeinte Welt keine geistige, sondern eine grob-sinnliche. Sie sind Veranschaulichungen [Hervorhebung, L.R.] einer geistigen Wirklichkeit, die sich eben nur auf diese Art, durch Gleichnisse [Hervorhebung, L.R.], darstellen lässt. Wenn derjenige, der nur das sinnliche Anschauen gelten lassen will, solche Wesenheiten als Ausgeburten einer wüsten Phantasie und des Aberglaubens ansieht, so ist das durchaus begreiflich. Für sinnliche Augen können sie natürlich nie sichtbar werden, weil sie keinen sinnlichen Leib haben. Der Aberglaube liegt nicht darin, dass man solche Wesen als wirklich ansieht, sondern dass man glaubt, sie erscheinen auf sinnliche Art. [Hervorhebung, L.R.]«

Auch in der »Geheimwissenschaft im Umriss« finden sich immer wieder solche Hinweise.

In der Vorrede zur vierten Auflage 1913 etwa heißt es: »Fühlbar wurde dem Verfasser an zahlreichen Stellen, wie spröde sich die Mittel der ihm zugänglichen Darstellung erweisen gegenüber dem, was die übersinnliche Forschung zeigt. So konnte kaum mehr als ein Weg gezeigt werden, um zu Vorstellungen zu gelangen [Hervorhebung, L.R.], welche in dem Buche für Saturn-, Sonnen-, Mondentwicklung gegeben werden.« (GA 13, 1977, S. 21)

Die gesamten Darstellungen über die Kosmogonie sind also nach Steiners Selbstverständnis nicht mehr als die Beschreibung eines Weges, auf dem der Leser zu Vorstellungen über das gelangen kann, was sich der übersinnlichen Forschung zeigt. Dass die auf diese Weise entstehenden Vorstellungen nicht mit dem Inhalt der geistigen Anschauung verwechselt, »reifiziert« werden dürfen, ist ebenso klar, wie die Tatsache, dass es sich bei den Schilderungen von Beobachtungen durchgehend um metaphorisch-symbolische Sprachbilder handelt, die auf ideell-geistige Vorgänge lediglich hinweisen, nicht aber diese selbst sind.

Steiner fährt an der betreffenden Stelle fort: »Doch weichen die Erlebnisse in bezug auf solche Dinge so sehr von allen Erlebnissen auf dem Sinnesgebiete ab, dass die Darstellung ein fortwährendes Ringen nach einem nur einigermaßen genügend scheinenden Ausdruck notwendig macht. Wer auf den hier gemachten Versuch der Darstellung einzugehen willens ist, wird vielleicht bemerken, dass manches, was dem trockenen Worte zu sagen unmöglich ist, durch die Art der Schilderung [Hervorhebung, L.R.] erstrebt wird.« (GA 13, 1977, S. 21) Das, was beschrieben werden soll, kommt also weniger in den Worten selbst zum Ausdruck, als in der Art, wie diese Worte gebraucht werden.

Über die Beschreibungen der früheren Erdzustände, die den heutigen immer unähnlicher werden, je weiter man zurückgeht, heißt es im Kapitel über die Weltentwicklung: »Und doch kann man sie ja nur dadurch schildern, dass man zur Charakteristik die Vorstellungen benützt, welche den gegenwärtigen Erdenverhältnissen entnommen sind [Hervorhebung, L.R.]. ... Und derjenige, welcher die also gehaltenen Schilderungen verfolgt, wird aus dem Zusammenhang, in den diese Dinge gestellt sind, gar wohl entnehmen können, welche Vorstellungen zu gewinnen sind, um charakteristische Bilder und Gleichnisse solcher Tatsachen zu haben [Hervorhebung, L.R.], welche in urferner Vergangenheit sich abgespielt haben.« (GA 13, 1977, S. 149)

Die Darstellung über den Alten Saturn leitet Steiner mit dem Satz ein: »Will man sich eine bildhafte, an die Wirklichkeit sich annähernde Vorstellung von den Verhältnissen während der Saturnentwicklung machen, so muss man in Betracht ziehen ... [Hervorhebung, L.R.]« (GA 13, 1977, S. 155) Kurz darauf heißt es: »Man nehme an ...« (GA 13, 1977, S. 156). Tut man dies, dann »hätte man etwas vor sich ...« (GA 13, 1977, S. 157), man muss sich »etwas vorstellen« (GA 13, 1977, S. 157), man muss »versuchen«, lediglich »das innere Erlebnis zu vergegenwärtigen«, »von allem anderen abzusehen«, um sich »eine Vorstellung« von etwas »anzueignen« (GA 13, 1977, S. 158).

Die gesamte Kosmogonie enthält also nicht anderes als charakteristische Bilder und Gleichnisse. Bilder und Gleichnisse, Symbole und Metaphern, die vergleichsweise zu verstehen sind. Eine mögliche Reifizierung solcher Bilder und Gleichnisse ist also nicht Steiner anzulasten, sondern wenn sie denn eintritt, dem jeweiligen Leser, in diesem Fall Zander, der erst eine solche Reifizierung von Metaphern in Steiners Texte hineinlesen muss, um sie hinterher Steiner vorzuwerfen.