Zander zitiert ein Dokument, von dem er 563 Seiten davor noch behauptete, es existiere nicht: die Dokumente von Barr, autobiografische Aufzeichnungen Steiners für Edouard Schuré. In diesen biografischen Aufzeichnungen entdeckt Zander eine »Relektüre« der Steinerbiografie im Lichte der Meister-Vorstellung.

Auf S. 706 schreibt Zander:

»Noch im September 1907 schrieb er an Edouard Schouré [sic! Richtig: Schuré], der mit seinen ›Großen Eingeweihten‹ für die Präsenz der Meister-Vorstellung bei Steiner eine herausgehobene Rolle spielt, dass er zuerst keinem ›M‹. begegnet sei, sondern ›einem von ihm Gesandten, der in die Geheimnisse der Wirksamkeit aller Pflanzen und ihres Zusammenhanges mit dem Kosmos und mit der menschlichen Natur vollkommen eingeweiht war‹ (ebd., 16). Steiner unterzog damit seine Biographie einer Relecture im Horziont [sic!] der Meister-Vorstellung, doch bleibt unklar, welche realen Begegnungen sich damit verbanden.«

563 Seiten früher (auf S. 142/143) hat Zander die Behauptung aufgestellt, »ereignisnahe Aussagen« über die Münchner Vereinbarungen zur Trennung der westlichen und der östlichen »Esoterischen Schule« zwischen Annie Besant und Rudolf Steiner seien nur von Besant zugänglich, um im Anschluss einen Brief Annie Besants an Wilhelm Hübbe-Schleiden vom 7. Juni 1907 über diese Vereinbarungen zu zitieren und zu verkünden, Steiners Darstellungen datierten allesamt Jahre später. Diese Behauptung ist nachweislich falsch, denn die Dokumente von Barr, die Zander offenbar doch bekannt sind, wurden von Steiner im September 1907 verfasst und enthalten ganz konkrete Ausführungen über die spirituellen Gründe für die Trennung der beiden Schulen.

Steiner schreibt im dritten Teil dieses Dokuments, das von den Inspirationsquellen der Theosophischen Bewegung, ihrer Geschichte, westlicher und östlicher Esoterik und seiner eigenen Aufgabe in deren konfliktuöser Gemengelage handelt, die erste Gründung der TG im Jahr 1875 durch H.P. Blavatsky und H.S. Olcott sei eine ausgesprochen »westliche« Gründung gewesen.

Auch die »Entschleierte Isis« Blavatskys mit der »großen Summe« der in ihr enthaltenen okkulten Wahrheiten trage diesen »westlichen« Charakter. Sie gebe diese okkulten Wahrheiten allerdings oftmals in verzerrter, ja karikierter Art wieder. Die in ihr enthaltenen Wahrheiten seien von den »Initiierten des Westens«, den »Initiatoren der Rosenkreuzerweisheit« inspiriert, jedoch von der Seele Blavatskys in einer ihnen nicht entsprechenden Art aufgefangen worden. Allein dieser Widerspruch zwischen dem inspirierten Inhalt und der verzerrten Art der Wiedergabe hätte als Beweis für den inspirativen Charakter des Buches gelten können. Denn niemals hätte jemand, der diese Wahrheiten auf so verzerrte Art wiedergab, sie durch sich selbst erlangen können.

Nachdem die »Initiatoren des Westens« die Untauglichkeit Blavatskys als Werkzeug der Offenbarung spiritueller Wahrheiten erkannt hatten, nahmen sie von ihr Abstand, aber die Seele Blavatskys war inzwischen in hohem Grade medial und begann das Interesse »östlicher Initiatoren« zu wecken.

Diese hatten zunächst die besten Absichten: Sie erkannten, dass die Menschheit »durch den Anglo-Amerikanismus der furchtbaren Gefahr einer vollständigen Materialisierung« des Vorstellungslebens entgegenging. Sie versuchten daher, dem Westen ihre altehrwürdige spirituelle Weisheit einzuimpfen. Unter ihrem Einfluss nahm die Theosophische Gesellschaft ihren östlichen Charakter an, der sich in Blavatskys »Geheimlehre« und Sinnetts »Esoterischem Buddhismus« niederschlug. Beide verzerrten wiederum die Wahrheit: Sinnett durch seinen »philosophischen Intellektualismus«, Blavatsky durch ihre »chaotische Seele«. Daher zogen sich auch die östlichen Initiatoren wieder von der Theosophischen Gesellschaft zurück und diese wurde zu einem »Tummelplatz« für alle möglichen »okkulten Mächte«.

Eine kleine lichtvolle Episode stellte Annie Besant durch ihre »reine hochsinnige Denkweise und Lebensführung« dar. Doch ging diese bald dem Ende entgegen, als Annie Besant sich »gewissen Indern« zuwandte, die unter dem Einfluss »deutscher Philosopheme«, die sie falsch interpretierten, einen »grotesken Intellektualismus« ausbildeten.

Dies war die Situation, als Steiner der Theosophischen Gesellschaft beitrat. Sie muss also bereits vor 1902 bestanden haben. Annie Besant wurde im Jahr 1891 nach dem Tode H.P. Blavatskys zusammen mit William Quan Judge Nachfolgerin in der Leitung der »Esoteric School«, Judge leitete deren amerikanische Abteilung, Besant die europäische. Schon damals übte Charles Webster Leadbeater einen erheblichen Einfluss auf sie aus. Vor der Mitte der 1890er Jahre wandte sie sich Gyanendra N. Chakravarti, einem bengalischen Brahmanen zu, den sie als ihren Meister »im Fleische« betrachtete. Sie glaubte eine Zeit lang, H.P. Blavatsky habe sich in der dreijährigen Tochter Chakravartis reinkarniert. (Gregory Tillett, The Elder Brother, 1982, S. 65-66)

1894-95 spielte Chakravarti in den Auseinandersetzungen zwischen William Quan Judge und Annie Besant über die Leitung der »Esoteric School« eine Schlüsselrolle. Judge warf Annie Besant vor, unter dem hypnotischen Einfluss Chakravartis zu stehen und beanspruchte unter Berufung auf Meister Morya die alleinige Leitung der »Esoteric School«. Die Auseinandersetzungen mündeten im April 1895 in die Sezession der amerikanischen Theosophischen Gesellschaft, die fortan unter der Leitung von Judge stand. 10 amerikanische Logen, deren Leitung Alexander Fullerton übernahm, blieben damals Annie Besant treu. Die restlichen wurden nach dem Tode William Quan Judges im März 1896 von Katherine Tingley weitergeführt. (Howard Murphet, Yankee Beacon of Buddhist Light. Life of Col. Henry S. Olcott, Wheaton 1988, S. 268-277)

Infolge dieser Auseinandersetzungen wandte sich Annie Besant nach 1896 Bhagavan Das zu, dessen Philosophie in ihre Bücher einzudringen begann, sein Werk »Science of the Emotions« wurde von ihr zur Pflichtlektüre für alle Mitglieder der »Esoteric School« erklärt. (Gregory Tillett, The Elder Brother, 1982, S. 65-66)

Da an der Wiege der Theosophischen Gesellschaft echte Initiatoren gestanden hätten, fährt Steiner in seinen Erläuterungen für Schuré fort, sei sie vorläufig ein Instrument für das spirituelle Leben der Menschheit. Aber ihre gedeihliche Entwicklung in den westlichen Ländern hänge davon ab, ob sie imstande sei, das »westliche Prinzip der Initiation« in sich aufzunehmen. »Denn«, so Steiner, »die östlichen Initiatoren müssen notwendig das Christusprinzip als zentralen kosmischen Faktor der Evolution unberührt lassen.« (GA 262, 2002, S. 26) Ohne dieses Prinzip müsste aber die theosophische Bewegung ohne allen Einfluss auf die westlichen Kulturen bleiben, deren Ausgangspunkt das »Christusleben« sei. Bliebe diese christliche Essenz des Abendlandes unberücksichtigt, könnten die östlichen Einflüsse nur sektiererisch neben der übrigen Kultur stehen. Eine »Hoffnung auf Erfolg in der Evolution« könnten die östlichen Einflüsse nur haben, »wenn sie das Christusprinzip aus der christlichen Kultur vertilgten. Dies wäre aber identisch mit dem Auslöschen des eigentlichen Sinnes der Erde, der in der Erkenntnis und Realisierung der Intentionen des lebendigen Christus liegt. Diese zu enthüllen in voller Weisheits-, Schönheits- und Tatform ist aber das tiefste Ziel des Rosenkreuzertums.« (GA 262, 2002, S. 26)

Die östliche Weisheit sei als Gegenstand des Studiums von allerhöchstem Wert, da die westlichen Völker im Gegensatz zu den östlichen den Sinn für Esoterik verloren hätten. Allerdings sei dies nicht mit der Einführung einer östlichen esoterischen Praxis zu verwechseln. Denn die richtige esoterische Praxis könne im Westen nur die »rosenkreuzerisch-christliche« sein, da diese aus dem westlichen, vom Christentum durchtränkten Leben hervorgegangen sei. Durch den Verlust dieser westlichen Esoterik würde »die Menschheit der Erde ihren Sinn und ihre Bestimmung verleugnen« [Hervorhebung L.R.]. Eine Verschmelzung westlichen Wissens mit östlicher Esoterik dagegen könne nur solche »unfruchtbaren Bastarde erzeugen ..., wie Sinnetts ›Esoterischer Buddhismus‹ einer« sei. (GA 262, 2002, S. 26)

Ausschlaggebend für diese scharfen Distanzierungen Steiners vom Kurs der Theosophischen Gesellschaft und ihrer Präsidentin Annie Besant, können nur das Verhalten Besants in der Leadbeater-Affäre und in der Frage ihrer Berufung zur Präsidentschaft aufgrund der angeblichen Kundgaben von Meistern an Olcotts Todeslager gewesen sein. Die Krishnamurti-Affäre konnte für seine Einschätzung 1907 noch keine Rolle spielen, da Leadbeater den jungen Jiddu erst im April 1909 zum künftigen Vehikel des Maitreya-Buddha auserkor. (GA 262, 2002, S. 26)

In seiner hellsichtigen Analyse nahm Steiner die künftigen Konfliktlinien zwischen Annie Besant und ihm über das Verständnis des Christus vorweg, die später genau entlang der von ihm skizzierten Gegensätze verlaufen sollten, und zwar nicht, weil Steiner sie – wie Zander meint – in dieser Richtung »ausbaute«, sondern weil Besant und Leadbeater den tiefen und einzigartigen Sinn des Christus-Mysteriums verkannten. Was Steiner in seinen Notizen für Schuré zu wenig deutlich machte, war die entscheidende Rolle Leadbeaters in der Entwicklung der Theosophischen Gesellschaft und der theosophischen Politik Annie Besants. Man könnte Steiners Äußerungen aber auch so interpretieren, dass Leadbeater selbst unter dem Einfluss »gewisser Inder« stand, den er allerdings bereits 1885 in sich aufgenommen haben müsste, als er unter der Anleitung von Swami T. Subba Row eine Einweihung nach der Methode des Kundalini-Yoga in Adyar durchlief. (Ob eine solche wirklich stattfand, ist allerdings strittig. Gregory Tillett, The Elder Brother, London 1982, S. 46 ff.)

Zander versucht auch bei der Behandlung des Themas der »Meister« den Eindruck zu erwecken, Steiner habe sich erst im Lauf der Jahre auf eine europäische esoterische Tradition besonnen und allmählich »westliche Meister« ins Spiel gebracht, um sich von der östlichen theosophischen Orthodoxie zu befreien.

Auf S. 707 schreibt Zander:

»Im November 1905 finden sich Indizien, dass er sich von der theosophischen Orthodoxie zu lösen begann: Christian Rosenkreutz firmierte nun als weiterer ›Meister‹ (GA 266a,117), am 12. Februar 1906 nannte er den ›Meister Jesus‹ (ebd., 124 f.), am 26. Juni war ›Meister Saint-Germain‹, ein vagierender Hochgradmauerer vom Ende des 18. Jahrhunderts, dazugekommen (ebd., 157), also Figuren der europäischen Religionsgeschichte.

...

Der Verzicht auf die Mahatma-Bezeichnung und die Europäisierung der Meister war ein Teil des Ausdrucks seiner Eigenständigkeit.«

Bezugnahmen Steiners auf Christian Rosenkreutz, dessen christlich-rosenkreuzerische Form der Theosophie er vertrat, liegen bereits aus den Jahren 1903 und 1904 vor, und das sogar in öffentlichen Vorträgen.

Zu erwähnen ist die »Rosenkreuzer-Chronik« aus den privaten Berliner Lehrstunden Sommer 1903. (GA 88, Sommer 1903, 1999, S. 149 ff – Text in den Quellen.)

Weitere Bezugnahmen auf Meister aus dem Jahr 1903 liegen in sog. »Okkulten Logenstunden« vor, die im Sommer 1903 stattfanden. So heißt es in einer privaten Logenstunde vom 28. August 1903 in Berlin in bezug auf das Verständnis des »wahren Christentums«: »Historische Tatsachen über die Grundlagen können uns überhaupt nicht weiterhelfen. Es dreht sich vielmehr alles um ein Auge in Auge stehen mit dem Meister Jesus. Es handelt sich nur darum, einen unmittelbaren, lebensvollen Einfluss von ihm direkt unmittelbar zu erhalten. [...] Es muss einen kleinen Kreis geben, der die Wahrheit nicht nur kennt durch Buchstabenwissen, sondern durch unmittelbares Leben.« (Veröffentlichung vorgesehen für GA 90 c).

Im 14. Jahrhundert, so Steiner in einem Berliner Mitgliedervortrag am 25. Februar 1904, brachte Christian Rosenkreutz die Weisheit des Orients nach Europa und gründete hier Schulen, durch welche die Initiierten zum höchsten Bewusstsein der geistigen Welt gelangten, in dem ihnen die Erkenntnis des »eingeborenen Sohnes Gottes« zuteil wurde, der mystisch in jedem Menschen lebe. (GA 88, 25.02.1904, 1999, S. 134, 139)

Am 23. Mai 1904 sprach Steiner in einem Berliner öffentlichen Vortrag von Christian Rosenkreutz als dem Begründer der »tiefsten und bedeutsamsten« geheimen Gesellschaft des Mittelalters, deren Art der Weisheitssuche in der theosophischen Bewegung wieder auflebe. (GA 52, 30.05.1904, 1986, S. 282, 302)

Am 4. November 1904 lässt sich Steiner in einem ganzen Vortrag über das Mysterium der Rosenkreuzer aus, das im 15. Jahrhundert von Christian Rosenkreutz ausgegangen sei, der im 18. Jahrhundert als Graf St. Germain, als Hüter des Geheimnisses des Ehernen Meeres und des Goldenen Dreiecks, wieder inkarniert war. (GA 93, 04.11.1904, 1991, S. 58 ff )

Auf eine andere Inkarnation dieser Individualität in der Zeit vor Hosea (einem Propheten des Alten Testamentes, der Ende des 8. Jahrhunderts v. Chr. lebte) weist Steiner hier ebenfalls hin. Aus den Geheimnissen des Christian Rosenkreutz werde sich das künftige Christentum entwickeln, dessen Symbol nicht mehr der Gekreuzigte sei, sondern das von Rosen umrankte Kreuz. Nicht erst im November 1905 taucht also Christian Rosenkreutz im Werk Steiners als spiritueller Führer der Menschheit, als »Meister«, auf.

Dasselbe gilt von Jesus, der von Steiner bereits in einem öffentlichen Vortrag am 4. Januar 1904 als Meister angesprochen wird (GA 52, 04.01.1904, 1986, S. 78), in dem zugleich eine ganz andere Tradition der Meistervorstellung anklingt: nämlich die Bezeichnung des Jesus in den Evangelien als Rabbi, Meister. Ebenfalls 1904, am 21. Oktober, spricht Steiner von »Meister Jesus«, der dem Christus seinen Leib zur Verfügung stellte. (GA 92, 21.10.1904, 1999, S. 86). Auf die früheren internen Erwähnungen des Meister Jesus wurde weiter oben hingewiesen.

Laut einer mündlichen Überlieferung, die Friedrich Rittelmeyer mitteilte, bemerkte Steiner ihm gegenüber, er habe zwei Initiatoren gehabt: Christian Rosenkreutz und Meister Jesus. Letzterer habe ihn auf Fichte hingewiesen, ersterer habe durch Felix Kogutzki gewirkt. (Siehe Friedrich Rittelmeyer, Meine Gespräche mit Rudolf Steiner, Stuttgart 2016, S. 31 f.)

Zander entblödet sich nicht, die anrüchige Behauptung aufzustellen, Marie von Sivers sei 1903 Steiners »Geliebte« gewesen.

Auf S. 710 schreibt Zander:

»Die Lehrtätigkeit im Sommer dieses Jahres [1903] im privaten Kreis, wo seine Geliebte, Marie von Sivers, sowie ihre Freundin von Strauch-Spettini und ihre Schwester Olga seine Schülerinnen waren ..., ging in die Unterrichtung anderer Theosophen über, die sich beispielsweise über ›führerlose‹ Studien bei ihm beschwerten.«

Sollte die als Nebenbemerkung eingestreute Bezeichnung »Geliebte« für Zander irgendwelche sexuellen Konnotationen implizieren, so gibt es dafür schlechterdings keine Belege. Nicht weil darin etwas Anrüchiges zu sehen wäre, sondern weil die Behauptung einfach nicht der Wahrheit entspricht, bedarf sie der Berichtigung.

Das Anrüchige hätte nicht darin bestanden, wenn Marie von Sivers Steiners Sexualpartnerin gewesen wäre, das Anrüchige besteht darin, dass Zander dies ohne jede Grundlage unterstellt.

Welcher Art die Beziehung zwischen Steiner und Marie von Sivers war, geht zum Beispiel aus einem Brief hervor, den Steiner im April 1904 an sie schrieb. Es genügt, daraus einen Absatz zu zitieren. »Ich denke in Liebe an Dich und alle Arten des Nahekommens sind bei uns nur Bestätigungen unseres tiefen geistigen Zusammenhangs. Du bist mir die Priesterin als die Du mir entgegenblicktest, als ich Deine Individualität erkannt hatte. Ich schätze Dich in der Reinheit Deiner Seele, und nur deshalb darf ich Dir zugetan sein. Wir leben miteinander, weil wir innerlich zueinander gehören, und wir werden immer ein Recht haben, so zueinander zu sein, wie wir sind, wenn wir uns klar sind, dass unser persönliches Verhältnis eingetaucht ist in den heiligen Dienst der Geistesevolution. Ich weiß, dass der Augenblick nicht kommen darf, wo diese Heiligkeit auch nur im geringsten gestört würde.« (GA 262, 2002, S. 65, Brief vom 8. April 1904)

In der Esoterischen Schule seien laut Zander, zumindest anfangs, von Steiner asketische Ideale gepredigt worden. Zum Beleg für diese Behauptung zitiert er aus einer Berliner Esoterischen Stunde vom 8. Februar 1904 die drei Sätze: »1. Ertöte den Ehrgeiz. 2. Ertöte die Liebe zum Leben. 3. Ertöte den Wunsch nach Behagen.« Steiner, so Zander, folgte dabei, wie er »offen legte«, den Vorgaben von Mabel Collins.

»In den Meditationsanweisungen scheinen vor allem in der Anfangsphase asketische Ideale stark gewesen zu sein: ›1. Ertöte den Ehrgeiz. 2. Ertöte die Liebe zum Leben. 3. Ertöte den Wunsch nach Behagen‹. (GA 266a,25) Steiner folgte dabei, wie er offenlegte, den Vorgaben von Mabel Collins.

Sodann springt die Leistungsethik ins Auge: ›Wir müssen unser Leben zu einer Schule des Lernens machen. … Die meisten geben sich der Lust und dem Schmerz hin. Und wenn das Leben an ihnen vorüberzieht, zieht
Schmerz, Freude und Behagen vorüber; sie lernen von ihrem Leben gar nichts. Der Theosoph dagegen sagt sich: Jeder Tag muß mich vorwärtsbringen; jeder Tag muß für mich eine Stufe der Entwicklung sein.« (ebd., 39).‹«

Nun, Steiner legte gar nichts offen. Bei der Ansprache handelt es sich vielmehr schlicht um eine Exegese einiger Sätze von »Licht auf den Weg«, das von Mabel Collins verfasst, oder wie sie selbst es sah, durch Inspiration empfangen worden war. (Mabel Collins war übrigens das Pseudonym einer Mitarbeiterin H.P. Blavatskys, Mrs Kenningdale Cook). Zander hätte nur einige Seiten weiter blättern müssen, um folgende Ausführungen zu lesen, die in einer Niederschrift der folgenden Stunde vom 15. Februar stehen:

»So haben wir die allerersten Lehren in ›Licht auf den Weg‹ zu verstehen. Sie wollen den Menschen nicht zur Askese führen [Hervorhebung L.R.], ihn nicht zum Fremdling in dieser Welt machen. Nicht derjenige entspricht dem theosophischen Ideal, welcher zur Askese kommt [Hervorhebung L.R.], sondern derjenige, der aus dem gewöhnlichen Leben heraus zum Geiste kommt.

Wenn es also in ›Licht auf den Weg‹ heißt:

›1. Ertöte den Ehrgeiz. 2. Ertöte die Liebe zum Leben. 3. Ertöte den Wunsch nach Behagen.‹

so heißt es gleich darauf:

›4. Wirke gleich denen, die ehrgeizig sind. Achte das Leben gleich denen, die’s lieben. Sei glücklich gleich dem, der dem Glücke nur lebt.‹

Und weiter:

›Such in dem Herzen die Wurzel des Bösen und reiße sie aus.‹

Der Theosoph muss fühlen, dass wir ein Glied des Ganzen sind, dass wir für alles, was es gibt, mitverantwortlich sind. Wer nicht imstande ist, zu fühlen, dass er mit schuld daran ist, wenn morgen einer stiehlt, der ist auch nicht imstande zu wissen, wie er mit dem Ganzen zusammenhängt: er ist nicht imstande, die Wurzel des Bösen zu suchen. Weil wir nicht die Möglichkeit und Fähigkeit haben, bei anderen Menschen damit anzufangen, daher heißt es:

›Such in dem Herzen – in deinem Herzen – die Wurzel des Bösen und reiße sie aus. Denn es treibt und es wuchert im Herzen des eifrigen Jüngers gleichwie in den Herzen der Kinder der Welt.‹

Niemand darf sich einbilden, gut zu sein – als ob wir das könnten, als ob wir dies auch nur einen Augenblick könnten – oder viel besser zu sein als die anderen. Der Gedanke, dass wir nicht viel besser sein können als ein anderer, muss uns völlig erfüllen.« (GA 266 / I, 1995, S. 34-35)

Was in diesen Sätzen zum Ausdruck kommt, ist – abgesehen von der ausdrücklichen Ablehnung dessen, was Steiner immer wieder als »falsche Askese« bezeichnete –, ein zutiefst christliches Ethos, das auch nichts mit der von Zander unterstellten »Leistungsethik« zu tun hat, sondern vielmehr die Worte Ernst nimmt, die durch Matthäus überliefert sind: »Was ihr dem Geringsten meiner Brüder tut, das habt ihr mir getan« (Matth 26,40) und »Warum siehst du den Splitter in dem Auge deines Bruders und wirst des Balkens im eigenen Auge nicht gewahr?«. (Matth 7,3)

Die Haltung Steiners gegenüber der »falschen Askese«, die aus seiner Sicht nur praktiziere, wer einer »luziferischen Versuchung« erliege, findet sich in vielen entsprechenden Äußerungen.

Steiner behandelte das Thema sowohl in öffentlichen als auch in Mitgliedervorträgen wiederholt, z.B. in GA 94, 29.05.1906 (das Ziel der Theosophie ist nicht die Unterdrückung des Leibes, sondern seine Verwandlung in ein Instrument für höhere Zwecke), GA 55, 28.02.1907 (wer ein Kind durch falsche Askese an ein lustloses Dasein gewöhnen wollte, würde seine Organe schädigen) GA 58, 11.11.1909 (falsche Askese lässt die Seele, wie sie ist und kasteit den Leib – im Gegensatz zur wahren Askese), GA 147, 25.08.1913 (es ließe sich eine ganze Geschichte der Askese als fortwährender Verlockung Luzifers schreiben)

Seine Haltung zur Askese hat sich auch später nicht geändert. Im Herbst 1907 teilte er einer esoterischen Schülerin, die offenbar eine Neigung zu dieser Askese hatte, mit, es gebe keine Verpflichtung zu einer solchen, sondern höchstens eine Berechtigung, die man sich aber erst erwerben müsse: »Die Askese in sexueller Beziehung erleichtert den okkulten Pfad, macht ihn in einer gewissen Beziehung bequemer. Wer also aus reinem Egoismus der Erkenntnis heraus vor allem ›Schauen‹ will, der kann sich versprechen, bald zu einem gewissen Ziele zu kommen durch eine gewisse Askese nach dieser Richtung.« Nun kehrt Steiner den Gedanken in den folgenden Sätzen geradezu um, denn im Gegensatz zur nicht vorhandenen Verpflichtung zur Askese, gibt es eine Verpflichtung zur Nichtaskese! Die Berechtigung zur Askese erwirbt man nämlich nur, »wenn man die Möglichkeit erlangt, der Menschheit einen vollgültigen Ersatz dafür zu geben, wenn man sich der sonst vorliegenden Verpflichtung entzieht, Gelegenheit zur Verkörperung von Seelen zu geben. Sie sehen also, dass Askese in dieser Richtung nicht Regel sein darf, sondern nur unter gewissen Voraussetzungen manchem Okkultisten zugestanden werden kann.« (GA 264, 1984, Brief vom 20.09.1907 an Martha Langen, S. 40)

Ebenso wie die Funktion und den Charakter der Esoterischen Schule vor dem Ersten Weltkrieg verkennt Zander die nach der Weihnachtstagung 1923 wieder eingerichtete Esoterische Schule, die als Bestandteil der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft 1924 ihre Tätigkeit aufnahm.

Auf S. 718-720 schreibt Zander:

»Der Anteil des Arkanwissens, das er nicht in öffentlichen Vorträgen präsentiert hatte und der schon vor dem Krieg gering gewesen war, tendierte nach dem Krieg gegen Null. In mäandernden Überlegungen, die kaum ein didaktisches Konzept erkennen lassen, suchte Steiner die Präsenz des Geistigen in der Welt seinen Schülern nahezubringen ...

Die Christusvorstellung spielte allerdings kaum eine Rolle, vielleicht weil der Konflikt mit Besant längst passé war, vielleicht auch, weil die Abgrenzungsprobleme zur 1922 gegründeten Christengemeinschaft das Gefüge der Anthroposophischen Gesellschaft ins Mark erschütterten.

Letztendlich ist der Neuigkeitswert der Klassenverträge gering, Steiners Vorstellungshaushalt war gefüllt, Veränderungs- und Erweiterungsimpulse, wie sie die Auseinandersetzung mit Annie Besant nach sich gezogen hatten, fehlten.

Dass es ›Wiederholungsstunden‹ gab, hatte Steiner früher nicht konzediert (GA 270c,11). ...

Von seiner autoritären Konzeption hatte Steiner keinen Deut zurückgenommen. ...

Der Zugang zur neuen Esoterischen Schule war betont elitär und restriktiv konzipiert ...

Dies lief auf eine Art Kaderbildung für die Anthroposophischen [sic!] Gesellschaft hinaus ...«

Das »Neue« liegt schon in der Tatsache, dass die esoterische Arbeit nach einer langen – durch den I. Weltkrieg erzwungenen – Ruhepause wieder aufgenommen wurde. Aber die Frage nach den Gründen für die Wiederaufnahme wird von Zander nicht gestellt.

Die Weihnachtstagung und die Begründung der Freien Hochschule stellen eine Antwort auf die von Zander in diesem Zusammenhang mit keinem Wort erwähnte Katastrophe des Goetheanumbrandes der Silvesternacht 1922/23 dar. Dieser Brand, in dem eine seit dem Ersten Weltkrieg zunehmende Agitation kirchlicher und völkischer Kreise gegen die Anthroposophie gipfelte, welch letztere 1922 auch nicht vor einem Attentatsversuch gegen Steiner zurückgeschreckt waren (siehe Lorenzo Ravagli, Unter Hammer und Hakenkreuz. Der völkisch-nationalsozialistische Kampf gegen die Anthroposophie, Stuttgart 2004), erschien in den Augen Steiners und vieler seiner Mitstreiter nicht nur als Ausdruck des Vernichtungswillens der Gegner der spirituellen Bewegung, die nach dem Ersten Weltkrieg begonnen hatte, die verschiedensten Lebensfelder zu befruchten, sondern auch als ein Symptom der Schwäche und Wehrlosigkeit der Anthroposophischen Gesellschaft, deren Aufgabe der Schutz dieser vom Goetheanum ausgehenden spirituellen Erneuerungsimpulse gewesen wäre.

Der bedeutende Zuwachs an Mitgliedern in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg und das Wachstum der sogenannten Tochterbewegungen auf den verschiedenen Lebensgebieten zog eine bedrohliche Verflachung und die Notwendigkeit nach sich, den substantiellen Kern des spezifisch Anthroposophischen ins Bewusstsein der Bewegung zu heben. Hinzu kamen gesellschaftsinterne Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen Generationen von Mitgliedern, die 1923 zur Gründung einer zweiten Anthroposophischen Gesellschaft neben der bestehenden führten.

Die logische Konsequenz aus all diesen Entwicklungen der Polarisierung, Diversifizierung, Peripherisierung war der Versuch, durch die Neugründung der Anthroposophischen Gesellschaft und die Übernahme ihrer Leitung die Vielfalt in einem Zentrum zu verorten, das die Verantwortung für die Bestimmung dessen übernahm, was in den zunehmenden politischen und weltanschaulichen Auseinandersetzungen als Anthroposophie oder Anthroposophische Gesellschaft in Erscheinung trat. Zu den Aufgaben gehörte nicht nur eine Konsolidierung des Gesellschaftslebens, sondern auch eine Neubestimmung der Beziehungen von Zentrum und Peripherie, eine klare Zuordnung der Verantwortlichkeiten von Mitgliedschaft und Leitung, eine deutliche Umschreibung der Aufgaben der Gesellschaft im Verhältnis zur Bewegung und eine Besinnung auf den spirituellen Kern, aus dem die Gesamtheit dessen, was sich anthroposophisch nannte, hervorgegangen war bzw. hervorgehen sollte. Diese Aufgabenstellungen versuchte die Weihnachtstagung zu lösen, in deren Mittelpunkt das Christusmysterium stand.

(Zur Bedeutung der sogenannten Grundsteinmantren, die Meditationen über die Offenbarung des Christuswesens in Mensch, Kosmos und Geschichte darstellen, für die Neukonstitution von Gesellschaft und Bewegung, sind in den letzten 20 Jahren eine ganze Reihe von Publikationen, insbesondere von Sergej O. Prokofieff erschienen. [Siehe: Der Jahreskreislauf als Einweihungsweg zum Erleben der Christus-Wesenheit. Eine esoterische Betrachtung der Jahresfeste.] Zur Konzeption der Freien Hochschule siehe auch: Johannes Kiersch, Zur Entwicklung der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft: Die Erste Klasse, Dornach 2012)

Aus der Besinnung auf diese spirituelle Substanz und ihre Gegenwart in der Mitgliedschaft sollte die anthroposophische Arbeit neu konstituiert werden. Erstmals seit Steiner überhaupt für die spirituelle Bewegung tätig war, übernahm er persönlich die Verantwortung für den rechtlich organisierten Gesellschaftskörper, der die Durchdringung von Geist und Bewegung sicherstellen sollte.

Die Begründung der Hochschule und der Wiederbeginn einer esoterischen Arbeit im engeren Sinn sollte ein spirituelles Gegengewicht zum Wirken nach außen schaffen. Die empirische Welt kann von einem spirituellen Impuls nur durchdrungen werden, wenn ein solcher vorhanden ist.

Die »Klassenstunden« sollten der Aktualisierung und Realisierung des spirituellen Lebens in Bewegung und Gesellschaft dienen. Sie sollten auch der Integration der neuen Generation dienen, die mit ihrer spirituellen Schülerschaft mehr oder weniger am Anfang stand.

Insofern kann eine Parallele zum Beginn der esoterischen Arbeit 1904 gezogen werden. Auch jetzt stand für Steiner wieder im Vordergrund, »Geistesschüler auf den Weg ihrer Entwicklung zu bringen«. (Briefe, Bd. II, 1953, S. 270.)

Gleichzeitig war die historische Situation eine vollkommen andere, nicht nur die mikrohistorische der anthroposophischen Bewegung, sondern auch die makrohistorische Europas. Die Aufgabe der Neukonstitution war nicht nur gesellschaftlicher, sondern auch spiritueller Natur. Der gesellschaftlichen Neukonstitution dienten die Verhandlungen und Beratungen der Mitgliedschaft während der Weihnachtstagung, der geistigen Neukonstitution die sie begleitenden und in den folgenden Monaten anschließenden Vortragsreihen, in denen unter anderem das Karma der Anthroposophischen Bewegung thematisiert wurde und der spirituellen Neukonstitution der Beginn der Hochschularbeit in Form der sogenannten Klassenstunden.

Es stellt eine völlige Verkennung dieser esoterischen Arbeit dar, wenn man ihr mangelnden »Neuigkeitswert« vorwirft. In den Klassenstunden ging es nicht um »Neuigkeiten«, sondern um meditative Vertiefung. Ebensowenig, wie es bei der Meditation um Ansammlung von Neuigkeiten oder um die Akkumulation von Wissen geht, kann der Sinn der Klassenstunden in einem Zuwachs an intellektueller Information gesucht werden.

Bei den Klassenstunden handelt es sich um exemplarische Meditationen, die auf die Vergegenwärtigung des spirituellen Kerns der gesamten anthroposophischen Arbeit abzielten. Als gesellschaftlich organisierte spirituelle Bewegung bedurfte die Anthroposophie eines Ensembles von Menschen, die bereit waren, sich der Essenz, aus der sie hervorging, zuzuwenden und diese in sich zur Entfaltung zu bringen.

Da aber die Essenz der Anthroposophie der reale Geist ist, kann sie ihrem Wesen nach nur in der Erfahrung dieses realen Geistes verankert sein. Eine Rückbesinnung auf diese Essenz und eine Erneuerung aus dieser Essenz kann demnach nur heißen, sich auf diesen realen Geist einzulassen, mit anderen Worten, die Schwelle zu überschreiten, die das an die sinnliche Welt gebundene Bewusstsein vom Bewusstsein des real Geistigen trennt. Sollte die reale Initiation und nicht nur der Gedanke der Initiation zum substantiellen Inhalt der neukonstituierten Gesellschaft werden, sollte mit ihrer Hilfe eine wirkliche Initiationswissenschaft die Zivilisation durch das Wirken Vieler befruchten, musste in deren Mitgliedern der Entschluss, den Initiationstod zu sterben und bewusst die Schwelle zu überschreiten, vorausgesetzt werden. Diese Bedingung jeder Initiation bewusst zu machen und den Weg zu ihr zu beschreiten, ist die Zielsetzung der sogenannten Klassenstunden.

Da Zander für diesen Kern des Esoterischen keinerlei Verständnis hat, er für ihn schlechterdings nicht existiert, kann er in der Erneuerung der esoterischen Arbeit nach der Weihnachtstagung auch keinerlei »Neuigkeitswert« erkennen.