Von einem systematischen Willen zum Missverstehen, wenn nicht zur absichtlichen Verleumdung, zeugen Zanders Ausführungen über die »Erziehungsgrundsätze« der Waldorfpädagogik. Besonderen Widerwillen rufen in ihm offenbar Steiners Ausführungen über das Prinzip der »Autorität« hervor.

Auf S. 1414 schreibt Zander:

»Das Verhältnis von Lehrern und Schülern war in Steiners Konzeption durch ein dominantes Kennzeichen geprägt: Autorität. Die alle Lebensphasen durchziehende Distanz zwischen Lehrern und Schülern solle sich zwar in verschiedenen Altersstufen unterschiedlich manifestieren, aber als Regulativ blieb sie ... bis zum Schulabgang ... maßgebend. ...

Derart rigide Festlegungen zielten auf eine Festlegung der Autorität im vorbewussten Raum ...«

Auf S. 1415:

»Davon abweichendes Verhalten bewehrte Steiner mit Straffolgen ...«

»Das unmündig gehaltene Kind wird ... zum Objekt des Belehrens. Prange nennt dieses Konzept sehr kritisch ›Manipulation‹«.

Auf S. 1416:

»Steiner suchte die Kinder in einer Aktion kollektiven Brüllens nicht nur auf die Anerkennung der Autorität des Lehrers, sondern auf Liebe zu verpflichten.«

Auf S. 1417:

»Fragt man nach den Quellen dieser partiell autoritären Pädagogik mit Zügen der Indoktrination, kann man in Steiners eigener Erziehungsgeschichte suchen.«

Auf S. 1418:

»Steiners Konzeption ... ist geradezu eine Pädagogik vom Lehrer aus.« Hier ist auch die Rede von einer »weitverbreiteten autoritären Mentalität«.

Auf S. 1418 enthüllt Zander den »weltanschaulichen Kern der Rolle des der [sic] Lehrers: Er ist ein esoterischer Eingeweihter, der Kinder aufgrund des Wissens um die verborgenen Geheimnisse erzieht.«

Auf S. 1419 schließlich:

»Der wahre Anthroposoph war der Initiierte, der Hellsichtige, und es war nichts als konsequent, dass Steiner das Bild des Lehrers, des Eingeweihten und des Hellsehers ineinanderschob. Diese Konzeption und das ihr inhärente Autoritätskonzept wurde zur hintergründigen Matrix der Waldorfschule.«

Man muss den Entstellungen der anthroposophischen Erziehungsgrundsätze und ihrer Grundlagen durch Zander nur einige zusammenhängende Ausführungen Steiners gegenüberstellen, um die Bodenlosigkeit der Behauptungen seines Interpreten zu erkennen. Zum Beispiel aus einem Vortrag Steiners vom 19. August 1922 in Oxford:

»Eigentlich müssten alle unsere höheren Empfindungen beginnen können mit der Grundempfindung des Dankes dafür, dass uns die kosmische Welt aus sich herausgeboren und in sich hineingestellt hat.  ... Diese Dankbarkeit aber muss vor allen Dingen der Lehrer, der Erzieher haben. Es muss sie auch instinktiv jeder Mensch haben, dem ein Kind zur Erziehung anvertraut ist. Es ist auch das erste Bedeutungsvolle, das durch eine spirituelle Erkenntnis erreicht wird, dass man die Dankbarkeit schöpft für die Tatsache, dass man ein Kind zur Erziehung erhalten hat. Ehrfurcht vor dem geheimnisvollen Wesen des Kindes – Ehrfurcht und Dankbarkeit sind in diesem Punkte nicht zu trennen – muss der Anfang der Gesinnung sein, mit welcher der Erzieher an seine Aufgabe geht. Es gibt nur eine Stimmung gegenüber dem Kinde, welche die richtigen Impulse zum Erziehen und Unterrichten gibt; und das ist gerade dem Kinde gegenüber die religiöse Stimmung.

Man empfindet vielem gegenüber religiös. Man empfindet der Blume auf dem Felde gegenüber religiös, wenn wir sie als ein Geschöpf der göttlich-geistigen Weltordnung auf uns wirken lassen. Man empfindet so dem Blitze gegenüber, wenn er in den Wolken zuckt, und wenn man empfinden kann, wie er in der göttlich-geistigen Weltordnung drinnensteht. Man muss so vor allen Dingen empfinden, wenn aus dem tiefen Schoße der Weltenordnung heraus uns die höchstmögliche Offenbarung, durch die gesagt wird, was die Welt ist, einem in dem Kinde entgegentritt. In dieser Stimmung liegt einer der wichtigsten Impulse der Erziehungstechnik.

Erziehungstechnik ist andere Technik als diejenige, die angewendet wird auf Undurchgeistigtes. Erziehungstechnik setzt überall voraus, dass der Erzieher alles, was er tut, aus religiös-moralischen Impulsen heraus tut. ...

Dankbarkeit ist vor allen Dingen die Grundstimmung, die den Lehrenden, den Erziehenden durchziehen soll, wenn er in der ersten Lebensepoche bis zum Zahnwechsel der kindlichen Entwickelung gegenübersteht.

Ein neues Element tritt auf in der zweiten Lebensepoche. Diejenige Entwickelung des Kindes, die vor allen Dingen auf das rhythmische System gebaut ist, erfordert, dass alle Tätigkeit des Erziehers einen künstlerischen Charakter hat. Man wird niemals das zustande bringen, was in der Umgebung des Kindes wirken soll, wenn man nicht durchtränken kann die religiöse Stimmung gegenüber dem Kinde, die fortdauern muss, mit einer intensiven Liebe zu unseren Erziehungstaten, unserer Erziehungsaktivität. Denn in dieser Liebe waltet diejenige Kraft, welche den Erzieher zu einer Betätigung führt, welche von dem Kinde ästhetisch-liebend empfunden wird.

Vom Zahnwechsel bis zur Geschlechtsreife ist nichts in das Kind hinein wirksam, das nicht beim Erziehenden getragen ist von der Liebe zur Erziehungstat selber. Was man in Liebe als Erzieher ausführt, das wird von dem Kinde in diesem Lebensalter als etwas empfunden, das es sich aneignen muss, um ein Mensch zu sein.

Von dem Intellekt allein kann keine Erziehungskunst kommen; sondern allein von dem, was die charakterisierte Dankbarkeit und Liebe für das Erziehen offenbaren.

In der Erziehungskunst, welche in der Stuttgarter Waldorfschule versucht wird, sieht man viel mehr darauf, wie der Lehrer ist, als was er intellektualistisch an technischer Handhabung abstrakter Unterrichtsmethoden sich erworben hat. Der Lehrer soll nicht nur das Kind lieben können, sondern er soll seine Methode lieben können, weil im Wirken dieser Methode sich das Kind entwickelt. Auf das letztere kommt es an. In eine Methode verliebt sein, weil sie die eigene ist, taugt nicht für den Erzieher. Er soll an dem, was das Kind wird, seine Methode liebhaben. Kinder liebhaben genügt allein auch nicht für den Lehrer; sondern das Lehren liebhaben, das Erziehen liebhaben, und es liebhaben mit derjenigen Objektivität, die am Kinde sich offenbart, das eignet man sich an, wenn man von einer spirituellen Grundlage für die physische, seelische und moralische Erziehung aus an seine Aufgabe geht. Und wenn man diese rechte Liebe für das Erziehen, für das Unterrichten als Gesinnung hat, dann wird man auch das Kind heranbilden bis zur Geschlechtsreife so, dass man wirklich es der Freiheit, dem freien Gebrauche seiner Intellektualität im weiteren Leben überliefern kann.

Hat man das Kind in religiöser Ehrfurcht empfangen, hat man es in Liebe zu den Erziehungstaten bis zur Geschlechtsreife erzogen, dann kann man auch das rechte Erlebnis dem werdenden Menschen gegenüber haben: ihn in Freiheit als unseresgleichen neben sich zu haben. Ist man dann in der Lage, noch weiter erzieherisch auf den Menschen wirken zu können, so wird man dem frei gewordenen Wesen gegenüber von Intellekt zu Intellekt wirken können. Indem man so erzieht, wie das angedeutet worden ist, indem man vorher nicht antastet, was sich frei entwickeln soll, sondern den Geist stufenweise wach werden lässt durch das, was man als Erzieher tut, wird der Mensch, wenn er geschlechtsreif geworden ist, sein eigenes Wesen als ein erwachendes erleben; und dieser Moment des Erwachens wird der Quell einer Kraft sein, die im ganzen folgenden Leben nachwirkt.

Man soll sich nicht sagen: du sollst dies oder jenes in die Kinderseele hineingießen, sondern du sollst Ehrfurcht vor seinem Geiste haben. Diesen Geist kannst du nicht entwickeln, er entwickelt sich selber. Dir obliegt es, ihm die Hindernisse seiner Entwickelung hinwegzuräumen, und das an ihn heranzubringen, das ihn veranlasst, sich zu entwickeln. Du kannst dem Geist die Hindernisse wegräumen im Physischen und auch noch ein wenig im Seelischen. Was der Geist lernen soll, das lernt er dadurch, dass du ihm diese Hindernisse wegnimmst. Der Geist entwickelt sich auch in allerfrühester Jugend schon am Leben. Aber sein Leben ist dasjenige, das man als Erzieher in seiner Umgebung entfaltet. Die allergrößte Selbstverleugnung ist Aufgabe des Erziehers. Er muss in der Umgebung des Kindes so leben, dass der Kindesgeist in Sympathie das eigene Leben an dem Leben des Erziehers entfalten kann. Man darf niemals die Kinder zu einem Abbild von sich selbst machen wollen. Es soll in ihnen nicht fortleben in Zwang, in Tyrannei dasjenige, was in dem Erzieher selbst war, noch in derjenigen Zeit, in denen sie hinausgewachsen sind über Schule und Erziehung. Man muss so erziehen können, dass man für dasjenige, was aus einer göttlichen Weltordnung neu in jedem Zeitalter in den Kindern in die Welt hereintritt, die physischen und seelischen Hindernisse wegräumt, und dem Zögling eine Umgebung schafft, durch die sein Geist in voller Freiheit in das Leben eintreten kann.

Die drei goldenen Regeln der Erziehungs- und Unterrichtskunst, die in jedem Lehrer, jedem Erzieher, ganz Gesinnung, ganz Impuls der Arbeit sein müssen, die nicht bloß intellektualistisch gefasst werden dürfen, sondern die von dem ganzen Menschen erfasst werden müssen, die müssen sein:

Religiöse Dankbarkeit gegenüber der Welt, die sich in dem Kinde offenbart, vereinigt mit dem Bewusstsein, dass das Kind ein göttliches Rätsel darstellt, das man mit seiner Erziehungskunst lösen soll.

In Liebe geübte Erziehungsmethode, durch die das Kind sich instinktiv an uns selbst erzieht, so dass man dem Kinde die Freiheit nicht gefährdet, die auch da geachtet werden soll, wo sie das unbewusste Element der organischen Wachstumskraft ist.« (GA 305, Vortrag vom 19. August 1922, Dornach 1991, S. 71 ff.)

Der katholische Theologe vermisst in der Waldorfpädagogik die Sexualität, was angesichts der Missbrauchsskandale an katholischen Erziehungseinrichtungen und der notorischen Klagen über die Hypersexualisierung unserer Gesellschaft wenigstens befremdlich anmutet.

Auf S. 1429-1430 schreibt Zander:

»Zu den eigenheiten der Waldorfschule gehört als Fehlstelle die Sexualerziehung, in der sich Steiners gebrochenes Verhältnis zur Körperlichkeit niederschlägt ... Bis heute wirkt Steiners verkrampftes Verhältnis zur Sexualität in den Waldorfschulen nach.«

Als Beleg zitiert er Publikationen aus dem Jahr 1981 (!).

Offenbar ist Zander entgangen, dass die Pädagogische Forschungsstelle beim Bund der Freien Waldorfschulen im Jahr 2005 einen über dreihundertseitigen Band zum Thema »Sexualkunde in der Waldorfschule« herausgegeben hat.

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Wie wenig Zanders ideologische Abrechnung mit der Realität der Waldorfpädagogik zu tun hat, zeigt sich auch in seinen Aussagen zur Frage, ob die Waldorfschulen zur Anthroposophie erziehen.

Auf S. 1442-1443 schreibt Zander:

»In den Sozialisationswirkungen wird oft ein Lackmustext [sic!] auf die weltanschaulichen Wirkungen der Waldorfschule gesehen ... Dass die Waldorfschulen heute einen großen Beitrag zur Reproduktion des anthroposophischen Milieus leisten, wird in Gesprächen selten verneint ... Ist die Waldorfschule eine ›Erziehung zur Anthroposophie‹, die zumindest für Outsider unerkennbar ist? Vom Schreibtisch aus lässt sich diese Frage nicht beantworten.«

Wie wahr, kann man nur sagen. Der letzte Satz ist in mehrfacher Hinsicht decouvrierend. Er stellt nicht nur das unfreiwillige Zugeständnis von Inkompetenz dar: Zander schreibt rund hundert Seiten vernichtender Kritik über die Waldorfpädagogik ohne jegliche Berührung mit der gelebten Wirklichkeit dieser Schulen (»vom Schreibtisch aus«), er lässt sich auch von diesem Mangel nicht davon abhalten, pauschale Urteile über diese Wirklichkeit zu verbreiten.

Die aktuellste empirische Untersuchung zur Frage, ob »Waldorfschulen zur Anthroposophie« erziehen, haben zwei ihrer Autoren wie folgt zusammengefasst:

»Der immer neu erhobene Vorwurf, Waldorfschule erziehe zur Anthroposophie (vgl. z.B. Prange 2000), wird durch die Daten eindrücklich widerlegt: Die Mehrheit der Absolventen steht ihr indifferent oder skeptisch gegenüber. Der Anteil derjenigen, die angeben, praktizierende oder engagierte Anthroposophen zu sein, nimmt über die drei Jahrgangsgruppen hinweg deutlich ab (17%, 12%, 7%). Die Absolventen bescheinigen der Waldorfschule auch kaum eine aktive Rolle bei der Vermittlung anthroposophischer Überzeugungen, wohl aber eine hohe religiöse und weltanschauliche Offenheit.«

Barz/Randoll, Absolventen von Waldorfschulen. Eine empirische Studie zu Bildung und Lebensgestaltung, Wiesbaden 2007, S. 19.

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Behinderten bringt Zander offenbar wenig Interesse entgegen. Die anthroposophische Heilpädagogik handelt er jedenfalls auf zweieinhalb Seiten ab, obwohl dieser Zweig der Waldorfpädagogik heute einen bedeutenden Teil ihrer gesellschaftlichen Wirksamkeit ausmacht.

Auf S. 1445 schreibt Zander:

»Steiner selbst besaß allerdings ebensowenig wie in der Schulpädagogik spezifische Kompetenzen.«

Und auf S. 1446:

»Und wiederum lassen sich Tendenzen einer Biologisierung der Therapie nachweisen, etwa in der dezidiert von Steiner bejahten medizinischen Behandlung moralischer Schwierigkeiten.«

Zander hat vermutlich nie eine anthroposophische heilpädagogische Einrichtung von innen gesehen, strotzt aber auch hier von Kompetenzanmaßung. Jedenfalls gesteht er sich selbst als Schreibtischtäter (vgl. Zander, S. 1443, 3. Zeile von oben) soviel Kompetenz zu, um beurteilen zu können, dass Steiner keine besaß.

Stellen wir dieser Anmaßung das Urteil Bernhard Schmalenbachs gegenüber, der an der Katholischen Fachhochschule Freiburg Heilpädagogik studierte, seit 1995 Redakteur der Zeitschrift »Seelenpflege in Heilpädagogik und Sozialtherapie« ist und nach seiner Dissertation an der Uni Köln im Jahr 2005 als Juniorprofessor für Heilpädagogik an der Alanus-Hochschule wirkt.

Schmalenbach schreibt über Steiners »Heilpädagogischen Kurs«:

»So fragmentarisch – und in gewisser Weise auch hermetisch – der Heilpädagogische Kurs auf den Leser wirkt, so beeindruckend ist die Kohärenz und Systematik des von Steiner Vorgetragenen. Die Heilpädagogik wird aus der Pädagogik entwickelt, welche auf einer differenzierten Anthropologie gründet: Bei seinen Betrachtungen der Kinder legt Steiner die von ihm in seinen Grundschriften und Vorträgen entwickelten Perspektiven der Wesensglieder und auch der funktionalen Dreigliederung des menschlichen Organismus ... zugrunde und demonstriert ihre Fruchtbarkeit im Hinblick auf eine Heilpädagogische Diagnostik. Mit diesen Konzeptionen eröffnet sich die Möglichkeit, leibliche, seelische und geistige Vorgänge im Menschen systematisch nachzuvollziehen, ihren Zusammenhang zu verstehen und zu beschreiben. Neben einer Vertiefung und Anwendung dieser Beschreibungsweisen für das Gebiet der Heilpädagogik gelingt Steiner im Heilpädagogischen Kurs ein weiterer Schritt, in dem er beide Konzeptionen in einer doppelten Polarität synthetisiert und sie anhand von einfachen Schemata oder ›symbolischen Formen‹ darstellt. Diese dienen als ›Anschauungsformen‹ oder bewegliche diagnostische Schemata, mit denen der Heilpädagoge arbeiten kann, auch im Sinne einer vertiefenden meditativen Tätigkeit.« (Zitiert aus Uhlenhoff, Anthroposophie in Geschichte und Gegenwart, Berlin 2011, S. 490-491)

Zur von Zander unterstellten »Biologisierung der Therapie bemerkt Schmalenbach: »Dies hat jedoch nichts mit einer angeblichen ›Biologisierung der Therapie‹ im Rahmen der anthroposophischen Heilpädagogik zu tun, von der Helmut Zander schreibt, ohne hier Begründungen oder Belege anzuführen.« (Ebd. S. 489-490)

Zander findet einmal mehr bei Steiner ein Eingeständnis, das dieser nicht macht.

Auf S. 1469 schreibt Zander:

»Die prinzipielle Akzeptanz der universitären Medizin täuscht aber leicht darüber hinweg, dass Steiners konkrete Vorstellungen oft am Rande und häufig auch außerhalb des damaligen Standes der Wissenschaft lagen. Dazu zählt etwa seine Vorstellung, dass das Herz keine ›Pumpe‹ sei, sondern ein ›Stauapparat‹ (GA 312,37), eine Idee, die er von dem österreichischen Arzt Karl Schmid, der diese These 1891 formulierte, übernommen hatte, wie Steiner selbst zugab.« (Hervorhebung Red.)

Dem Grundsatz entsprechend, dass überall dort, wo Zander von »Ein- oder Zugeständnissen« Steiners spricht, sich solche in den zitierten Texten nicht finden, ist zu erwarten, dass dies auch in diesem Fall zutrifft. Man könnte die kategorische Behauptung nicht verifizierbarer Zugeständnisse geradezu als das »Zandersche Gesetz« bezeichnen. Zanders Text enthält gleich zwei »Irrtümer«: erstens gibt Steiner nicht zu, seine Vorstellung von Schmid übernommen zu haben und zweitens definiert Steiner das Herz auch nicht – im Anschluss an Schmid – als »Stauapparat«, sondern als »Sinnesorgan«:

»Der einzige hoffnungsvolle Anfang, der gemacht worden ist, wenigstens diese mechanische Grundlage der Herztätigkeit – mehr allerdings nicht – einmal ins Auge zu fassen, der ist gemacht worden von einem österreichischen Arzte Dr. Karl Schmid, der Arzt in der nördlichen Steiermark war und der darüber eine Veröffentlichung hat erscheinen lassen in der ›Wiener Medizinischen Wochenschrift‹ 1892, Nr. 15-17, ›Über Herzstoß und Pulskurven‹.

Es ist nicht sehr viel noch in dieser Abhandlung enthalten, aber man muss sich sagen, dass wenigstens da einmal jemand aus seiner medizinischen Praxis heraus bemerkt hat, dass man es nicht zu tun hat mit dem Herzen als mit einer gewöhnlichen Pumpe, sondern mit dem Herzen als einem Stauapparat. Schmid denkt sich den ganzen Vorgang der Herzbewegung und des Herzstoßes wie die Tätigkeit des hydraulischen Widders, der durch die Strömungen in Bewegung gesetzt wird. Darinnen liegt das Wahre, was den Ausführungen des Dr. Karl Schmid innewohnt.

Aber man ist erst bei dem Mechanischen, wenn man alles, was Herztätigkeit ist, auffasst als die Folge dieser ineinandergehenden – ich kann sie jetzt symbolisch Strömungen nennen –, der flüssigen Strömung und der luftförmigen Strömung. Denn letzten Endes, was ist das Herz? Letzten Endes ist das Herz nämlich ein Sinnesorgan. Und wenn wir auch dasjenige, was die Sinnestätigkeit des Herzens ist, nicht unmittelbar im Bewusstsein haben, wenn es auch zu den unterbewussten Sinnestätigkeiten gehört, was im Herzen vorgeht, so ist deshalb doch das Herz dazu da, dass gewissermaßen die oberen Tätigkeiten wahrnehmen, empfinden können die unteren Tätigkeiten des Menschen. So, wie Sie mit Ihren Augen wahrnehmen die äußeren Farbenvorgänge, so nehmen Sie, aber allerdings im dumpfen Unterbewusstsein, durch das Herz wahr dasjenige, was in Ihrem Unterleibe sich vollzieht. Ein Sinnesorgan zum inneren Wahrnehmen ist zuletzt das Herz. Als solches ist es anzusprechen.« (GA 312, Vortrag vom 22. März 1920, Dornach 1999, S. 37-38)