Zander behauptet, Steiner habe sich ab Anfang der 1890er Jahre, mit seiner Übersiedlung nach Weimar, zum »Nietzsche-Konvertiten« gewandelt, er sei Nietzsches »Faszination« erlegen und habe kurz darauf begonnen, diese Konversion zu verschleiern.

Auf S. 508-509 führt Zander als Beleg für seine Behauptung einen Artikel über »Nietzscheanismus« an, den Steiner im April 1892 veröffentlichte. Wenn es in diesem Aufsatz heiße, aus Nietzsche töne »das oberste Gesetz: der Mensch hat nur die einzige Aufgabe, die Summe seiner Persönlichkeit rücksichtslos, so stark als möglich und so weit als möglich, zur Geltung zu bringen«, dann bringe damit Steiner eine Position Nietzsches zum Ausdruck, die er selbst übernommen habe. Bald jedoch beginne Steiner seine Abhängigkeit von Nietzsche zu leugnen. (S. 509)

Im Januar 1893 behaupte Steiner, die Ideen Nietzsches schon ausgebildet zu haben, bevor er diesen kennen lernte, und im November 1893, seine »Ethik des Individualismus« verdanke er nicht Nietzsche, sondern er habe sie bereits im zweiten Band der »Einleitungen ...« 1887 vertreten. »Davon kann allerdings keine Rede sein«, so Zander resolut. (S. 509)

Davon kann keine Rede sein?

Ein Hinweis auf »Wahrheit und Wissenschaft« würde schon genügen, stammt doch die darin enthaltene individualistische Ethik von Ende 1891. Aber Steiner verweist auf das Jahr 1887, auf die »Einleitungen zu Goethes Naturwissenschaftlichen Schriften, Band II«.

Laut diesen »Einleitungen ...« erheben wir uns schon im Erkennen vom Produkt zum Produzenten, vom Bedingten zum Bedingenden und bringen durch es den Kern der Welt zur Erscheinung. Unser Handeln ist in den »Einleitungen« von 1887 – insofern es aus Ideen hervorgeht –, eine durch uns vermittelte Manifestation des Weltgrundes. Die absolute Unbedingtheit ist also in den menschlichen Willen verlegt. »Ein vollkommenes menschliches Handeln ist das Ergebnis unserer Absichten, und nur dieses.« (GA 1, Dornach 1973, S. 197. )

Beim menschlichen (freien) Handeln wird das Dasein selbst Gesetz und erscheint »von nichts als von sich selbst bedingt.« (GA 1, S. 199.)

Des Menschen Lebensweg besteht darin, dass er sich vom Naturwesen zu einem freien Wesen entwickelt: »er soll sich frei machen von allen Naturgesetzen und sein eigener Gesetzgeber werden.« (GA 1, Dornach 1973, S. 201.)

In Form von Ideen liegen die ethischen Antriebe unseres Handelns in uns, und wir können nur ein solches Handeln als ethisch gelten lassen, »bei dem die Tat nur aus der in uns liegenden Idee derselben fließt.« (GA 1, S. 202. )

Wenn wir eine selbstgefaßte Idee verwirklichen, dann handeln wir nicht aus Pflicht, sondern aus Liebe zum Objekt. »Ein solches Handeln ist allein ein freies.« (GA 1, S. 202.)

Nicht vage ethische Normen, sondern die »individuellsten Ideale sollen unser Handeln leiten.« (GA 1, S. 204.)

All diese Äußerungen zeugen von einer Ethik, die man nicht anders denn als »ethischen Individualismus« bezeichnen kann. Steiner wird 1887 aber noch radikaler: Das ethische Handeln ist stets individuell und individualistisch. »Es gibt keine allgemeinen Gesetze darüber, was man tun soll und was nicht.« (GA 1, S. 205)

Deswegen ist die Ethik keine Normwissenschaft, sondern eine Wissenschaft vom Seienden, die die ethische Ideenproduktion der Individuen und Völker beschreiben muss und mit dieser die sich wandelnden ethischen Vorstellungen. (GA 1, S. 205-206. )

Aber auch als Glied der Gesellschaft oder der Geschichte darf sich der freie Geist nicht von Normen oder Moden treiben lassen, er muss sich durch Erkenntnis zum Ideengehalt der Gemeinschaft und der Zeit, der er angehört, »hinaufarbeiten«, »damit er nicht geleitet werde, sondern sich selbst leite« (GA 1, S. 207. ), er darf sich nicht vom »Kulturfortschritt« tragen lassen, sondern muss die Ideen seiner Zeit erkennen, damit er in Freiheit ihre Aufgaben erfülle bzw. an ihren Ideen fortbilde, ihnen seine eigenen, neuen, individuellen Schöpfungen hinzufüge. (GA 1, S. 207-208. )

Insofern repräsentiert »jede Persönlichkeit« »eine geistige Potenz, eine Summe von Kräften, die nach der Möglichkeit zu wirken suchen.« (GA 1, S. 209.)

Hier klingen sogar bis in die Worte die Motive des oben zitierten Satzes aus dem »Nietzscheanismus«-Aufsatz an. Weil die Ideenwelt des Menschen mit dem Weltengrund zusammenfällt, ist alles, was er tut, »nur als Ausfluss seiner eigenen Individualität anzusehen.« (GA 1, S. 211. )

Wir können den Kern des Daseins nur in ihm selbst suchen. »Er muss alles durch sich selbst, nichts durch ein anderes Wesen sein. Er muss alles aus sich selbst schöpfen, also auch den Quell für seine Glückseligkeit.« (GA 1, S. 211. )

»Befriedigung muss uns aus dem werden, wozu wir die Dinge machen, aus unseren eigenen Schöpfungen. Nur das ist freier Wesen würdig.« (GA 1, S. 212. )

Damit dürfte Zanders resoluter Ausruf: »Davon kann aber keine Rede sein« – erledigt sein.

»Datum post quem« für Steiners »Konversion« zum Nietzscheanhänger ist für Zander dessen Lektüre des »Antichristen« im Sommer oder Herbst 1894. In seinem Nietzschebuch habe sich Steiner als »bekennender Parteigänger« Nietzsches präsentiert und seine Übereinstimmung mit Nietzsche ins Jahr 1886 »zurück verlegt« – und damit einmal mehr Geschichtsklitterung betrieben.

Auf S. 517-518 schreibt Zander:

»Ein Datum post quem für Steiners Konversion von freundlichen zum konfessorischen Nietzscheaner ist seine Lektüre des ›Antichristen‹ im ›Sommer‹ 1894, wie er Pauline Specht schrieb (GA 39,238). Da er aber an der gleichen Briefstelle eine unaufgearbeitete Betroffenheit signalisierte (›Ich kann vorläufig kein Wort für den Grad der Befriedigung finden‹), mag seine Wendung zu Nietzsche kurz zuvor, also im Spätherbst 1894, stattgefunden haben.

Ende April oder Anfang Mai 1895 erschien Steiners Nietzsche-Schrift, mit der er sich in aller Öffentlichkeit als bekennender Parteigänger Nietzsches präsentierte: ›Friedrich Nietzsche, ein Kämpfer gegen seine Zeit‹. Wieder beschrieb sich Steiner als kongenialer Kollege des Naumburgers: ›Unabhängig von ihm und auf anderen Wegen als er, bin ich zu Anschauungen gekommen, die im Einklang stehen mit dem, was Nietzsche in seinen Schriften: ‚Zarathustra’, ‚Jenseits von Gut und Böse’, ‚Genealogie der Moral’ und ‚Götzen-Dämmerung’ ausgesprochen hat.‹ (GA 5,9)

Seine Übereinstimmung mit Nietzsche verlegte er um sieben Jahre weiter zurück, als er es Pauline Specht geschrieben hatte: Nicht erst 1893, sondern bereits 1886 habe er die gleiche ›Gesinnung‹ wie Nietzsche gezeigt (ebd.).«

Wenn Steiner in seinem Nietzschebuch davon spricht, er habe bereits 1886 Ansichten vertreten, die jenen Nietzsches vergleichbar seien, dann deutet er auf seine »Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung« und blickt ohne Zweifel auf das, was er in diesem Werk im 19. Kapitel über die menschliche Freiheit ausgeführt hat.

Schon dort wendete sich Steiner gegen die Normethik und verankerte die Freiheit in der individuellen moralischen Produktivität des Menschen. Dem menschlichen Wollen sprach er Souveränität zu, weil es lediglich vollführe, was in der Persönlichkeit als Gedankeninhalt liege. Der freie Mensch lasse sich nicht von einer äußeren Macht Gesetze geben, sondern sei sein eigener Gesetzgeber.

Im Grunde ist diese Position bereits Anarchismus. Steiner spricht hier vom Weltengrund, der im Denken des Menschen in Erscheinung tritt. Des Menschen Ziele sind mit jenen des Weltengrundes identisch, weil sich in dessen Einsichten der Weltenlenker darlebt, der sich alles Eigenwillens begeben hat, um alles von des Menschen Willen abhängig zu machen.

In den »Grundlinien« bereits ist jener prometheische Ton vernehmbar, der später in der »Philosophie der Freiheit« noch schärfer metaphysikkritisch moduliert wird. Die Kritik an der ontologischen und ethischen Metaphysik (dem Dogma der Offenbarung und der Pflichtethik) ist keineswegs ein Ergebnis der Übernahme Nietzschescher Positionen, sondern geht viel eher auf Steiners Schillerlektüre zurück, dessen geisteswissenschaftlicher Methode er ja in den »Grundlinien« folgt. »Auf dass der Mensch sein eigener Gesetzgeber sein könne, müssen alle Gedanken auf außermenschliche Weltbestimmungen u. dgl. aufgegeben werden«, schreibt Steiner bereits 1886. (GA 2, S. 125.)

Von diesem Boden aus konnte Steiner eine Sympathie zur besonderen Form entwickeln, in der die Kritik an Ideologie und Normethik in Nietzsches Werk in Erscheinung trat. Darüber hinaus kehren im Nietzschebuch erkenntnistheoretische Passagen und solche über die Entwicklungsstufen des moralischen Bewusstseins wieder, die nahezu wörtlich bereits in der »Philosophie der Freiheit« enthalten sind. Der panegyrische Ton, den Steiner in seinem Nietzschebuch anschlägt und die identifikatorische Geste, mit der er in dessen Hauptteil Nietzsches Kerngedanken referiert, so dass es schwer fällt, zwischen Referat und eigenen Positionen Steiners zu unterscheiden, können auch als Stilexperiment gesehen werden.

Wenn Zander behauptet, »in den Grundpositionen« habe Steiner Nietzsche »euphorisch zugestimmt« und dessen Kritik an der Metaphysik und allen Idealismen »übernommen«, dann ist diese Behauptung in mehrfacher Hinsicht problematisch.

Wie gezeigt, hat Steiner die Grundpositionen, die er hätte übernehmen sollen, bereits lange vor dem Erscheinen seines Nietzschebuches vertreten. Schon 1886 hat er den transzendenten Weltengrund in das menschliche Denken verlegt, zu einem Teil der individuellen Wirklichkeitserfahrung erklärt. Diese Position kehrt in der »Philosophie der Freiheit« wieder, in der die »Konsequenzen des Monismus« im Satz zusammengefasst werden: »Das mit dem Gedankeninhalt erfüllte Leben in der Wirklichkeit ist zugleich das Leben in Gott.« (GA 4, »Die Philosophie der Freiheit«, Dornach 1978, S. 250.) Um diese Position einzunehmen, bedurfte Steiner keines Nietzsche.

Nicht erst in der »Philosophie der Freiheit« ist der naiv realistische Sittlichkeitsstandpunkt, der ein »mit sinnlich wahrnehmbaren Eigenschaften ausgestattetes« göttliches Wesen (GA 4, S. 174. ) zum Quell der menschlichen Sittlichkeit erhebt, überwunden, sondern bereits in den frühen Goetheschriften.

Was sich jedoch gewandelt hat, sind die sprachlichen Ausdrucksformen für diesen ethischen Individualismus und die philosophischen Referenztexte, mit denen sich Steiner auseinandersetzt, um diese Position zu entwickeln bzw. zu erläutern. Schließlich interpretiert Steiner Nietzsches Idee des Übermenschen weitgehend im Sinne seiner Konzeption des freien Menschen, und weist deshalb auch darauf hin, dass der Übermensch nur gedacht werden kann, wenn er durch die moralische Phantasie ergänzt werde. (GA 5, »Friedrich Nietzsche, ein Kämpfer gegen seine Zeit«, Tb-Ausgabe 1963, Kap. 29, S. 91 f. )

Trotz aller »Euphorie« wird an einer entscheidenden Stelle die Ergänzungsbedürftigkeit eines Fundamentalbegriffs von Nietzsches Philosophie deutlich zum Ausdruck gebracht: »Die moralische Phantasie fehlt in Nietzsches Ausführungen. Wer dessen Gedanken zu Ende denkt, muss notwendig auf diesen Begriff kommen. Aber andererseits ist es auch eine unbedingte Notwendigkeit, dass dieser Begriff der Nietzscheschen Weltanschauung eingefügt wird. Sonst könnte gegen dieselbe immerfort eingewendet werden: Zwar ist der dionysische Mensch kein Knecht des Herkommens oder des ›jenseitigen Willens‹, aber er ist ein Knecht seiner eigenen Instinkte.« (GA 5, S. 92. )

Steiner lässt seine Kritik an Nietzsche mit der Bemerkung ausklingen, er habe die von diesem nicht ausgesprochenen letzten Konsequenzen seiner Weltanschauung gezogen, und meint, wahrhafte Bildung nehme das Große einer Persönlichkeit auf, verbessere kleine Irrtümer oder denke halbfertige Gedanken zu Ende. (GA 5, S. 94) Damit bekundet er Nietzsche gegenüber eine ähnliche Haltung wie auch Goethe gegenüber.

Im April 1900 verfechte Steiner als »passionierter Nietzscheaner« gegen Lou Andreas-Salomé eine mechanistische Interpretation der »Ewigen Wiederkunft«, meint Zander, um dann im Sommer 1900 »mit seiner Nietzsche-Verehrung« zu »brechen« und Nietzsches Pathologie in den Vordergrund zu stellen.

Auf S. 519-520 schreibt Zander:

»Noch im April 1900 stellte er sich gegen die von Lou Andreas-Salomé verfochtene These, Nietzsches Wiederkunftslehre habe den ›Charakter einer mystischen Offenbarung‹ angenommen (GA 31,556). Vielmehr sei sie, ›nicht anders als naturwissenschaftlich‹ (ebd., 555), geradezu ›mechanisch‹ (ebd., 556) zu interpretieren.

Aber im Sommer 1900 wendete sich das Blatt ... Am 27. Juli veröffentlichte er eine Erörterung über ›Die Philosophie Friedrich Nietzsches als psycho-pathologisches Problem‹ (GA 5,127-152) in der er faktisch mit seiner Nietzsche-Verehrung brach.«

Das Gegenteil ist richtig.

In dem von Zander als Beleg herangezogenen Aufsatz Steiners vom April 1900 heißt es über die Idee der Ewigen Wiederkunft: »Wer im Sinne der rationellen Mechanik denkt, muß wie Dühring die «ewige Wiederkunft» bekämpfen. Wollte Nietzsche sie verteidigen, so durfte er nicht für diese eine mechanische Conception allein, sondern er musste für die ganze mechanische Naturanschauung die Gegen-Meinung aufstellen. Er musste zeigen, dass diese ganze mechanische Auffassung nicht so unumstößlich sei, wie sie von Leuten vom Schlage Dührings gehalten wurde.« (GA 31, S. 557.)

Über das Wiederauftauchen der Idee der Ewigen Wiederkunft am Ende von Nietzsches Lebenswerk schreibt Steiner im selben Aufsatz vom April 1900: »Wenn später dann doch der Gedanke der ›Ewigen Wiederkehr‹ wieder auftaucht ... so kann dies keinen anderen Grund als den haben, dass die sich vorbereitende Erkrankung in ihm den Sinn dafür abstumpfte, wie wenig lebensfördernd dieser Gedanke ist ... Ich fürchte mich nicht vor dem pöbelhaften Vorwurf, dass ich kein wahrer Nietzsche-Verehrer sei, weil ich meine obige Überzeugung ausspreche ... dass die Vorstadien der Erkrankung in die letzte Phase des Nietzscheschen Philosophierens doch hineinspielen.« (GA 31, S. 567.)

Steiner geht es also nicht darum, zu beweisen, dass Nietzsches Idee der Ewigen Wiederkunft mechanisch zu interpretieren sei, er versucht vielmehr zu zeigen, dass Nietzsche gegen diese »mechanische Conception«, ja für die ganze mechanische Naturanschauung »eine Gegen-Meinung aufstellen musste«. Und diese betraf den Nachweis, dass wir an Ideen glauben müssen, auch wenn sie Irrtümer sind, weil sie sich als lebensfördernd erweisen.

Das Blatt wendet sich auch nicht im Sommer 1900, – es wendet sich überhaupt nicht, denn bereits im April spricht Steiner von Nietzsches Pathologie.

Für Zander dokumentiert die »Philosophie der Freiheit« Rudolf Steiners bloß die »unabgeschlossenen Suchbewegungen« des Jahres 1893. Abschätzig bezeichnet er den Titel des dritten Teils »Die letzten Fragen« als »vollmundig«.

Steiner gereicht es in Zanders Augen zum Vorwurf, dass er das Denken in diesem Buch nicht als »soziale Konstruktion«, sondern als »subjektunabhängiges Phänomen« begriffen habe. Steiner habe in der »Philosophie der Freiheit« das Denken (erstmals?) als Beobachtungsgegenstand ausgewiesen (was angeblich eine naturwissenschaftliche Begründungsform darstellt), aber weiterhin die »Prägung von Begriffen«, die er zwar als subjektiven Akt anerkenne, als bloß sekundär betrachtet.

Wenn Steiner davon spricht, das Denken schließe unsere besondere Individualität mit dem Kosmos als einem Ganzen zusammen, dann ist das für Zander ein »kosmologischer Überbau« mit »identitätsphilosophischen Formulierungen«, der in seiner Dissertation fehle. Der Status des Individuums sei dagegen »prekär«, die Individualität werde »negativ konnotiert«, der Einzelne als emotionales Wesen gegenüber dem denkenden »abgewertet«.

Auf S. 527 schreibt Zander:

»Die ›Philosophie der Freiheit‹ zerfällt in drei Teile: in eine Erkenntnistheorie, in eine Ethik und in einen vollmundig ›Die letzten Fragen‹ (GA 4,243) übertitelten Anhang ... Auch den Kern seiner Antwort hatte Steiner beibehalten: ein Denken, das er nicht als soziale Konstruktion, sondern als subjektunabhängiges Phänomen begriff. Allerdings hatte er die naturwissenschaftliche Begründung verstärkt, indem er das Denken als Beobachtungsgegenstand auswies. ... Die Prägung von Begriffen, die Steiner als subjektiven Akt anerkannte, galt ihm demgegenüber als sekundär.«

Und auf S. 528:

»Steiner gab seinen Vorstellungen damit einen kosmologischen Überbau mit identitätsphilosophischen Formulierungen, die so in seiner Dissertation fehlten.

Diese Konzeption spitzte allerdings die Frage nach dem Status des Individuums prekär zu. Nur unser ›Empfinden und  Fühlen‹ sei ›individuell‹ (GA 4,90).

Während ›wir‹ im ›Denken‹ das ›allgemeine Geschehen des Kosmos mitmachen‹, sei ›das Fühlen das, wodurch wir uns in die Enge des eigenen Wesens zurückziehen können‹ (ebd., 108 f.). Die Metaphorik der Enge konnotierte Individualität negativ, der einzelne wurde als emotionales Wesen gegenüber dem denkenden, das an der Weite und Allgemeinheit des Denkens partizipiere, abgewertet.«

Sehen wir uns diese Behauptungen im Einzelnen an. Das Denken sei subjektunabhängig, die subjektive Prägung von Begriffen bloß sekundär und das Denken nunmehr ein Beobachtungsgegenstand, meint Zander.

Das ganze dritte Kapitel der »Philosophie der Freiheit« dient dem Nachweis, dass das Denken vom menschlichen »Subjekt« hervorgebracht wird, also, was sein Erscheinen im menschlichen Bewusstsein anbetrifft, gerade nicht subjektunabhängig ist. »Eben weil wir es selbst hervorbringen«, so Steiner, »kennen wir das Charakteristische seines Verlaufs, die Art, wie sich das dabei in Betracht kommende Geschehen vollzieht.« (GA 4, Dornach 1962, S. 44.)

Das Denken ist »unsere geistige Tätigkeit«. (GA 4, 1962, S. 44.)

Die Beobachtung des Denkens, ist die wichtigste, die wir machen können, weil wir etwas beobachten, dessen »Hervorbringer wir selbst sind«. (GA 4, 1962, S. 44.)

»Innerhalb des Weltinhaltes erfasse ich mich in meinem Denken als in meiner ureigensten Tätigkeit«. (GA 4, 1962, S. 46.)

»Ich gebe meinem Dasein den bestimmten, in sich beruhenden Inhalt der denkenden Tätigkeit.« (GA 4, 1962, S. 47)

Hier tritt das Subjekt sogar in der ersten Person Singular auf und bezeichnet das Denken als seine Tätigkeit, sein Erzeugnis. Auch in den folgenden Kapiteln ist von dieser ursprünglichen Produktivität des Subjekts bei der Hervorbringung des Denkens die Rede:

»Insoferne der Mensch einen Gegenstand beobachtet, erscheint ihm dieser als gegeben, insoferne er denkt, erscheint er sich selbst als tätig. Er betrachtet den Gegenstand als Objekt, sich selbst als das denkende Subjekt«. (GA 4, 1962, kursiv durch Steiner, S. 60.)

»Wenn das Denken den Blick auf seine eigene Tätigkeit richtet, dann hat es seine ureigene Wesenheit, also sein Subjekt, als Objekt zum Gegenstand«. (GA 4, 1962, S. 60.)

Und das alles fasst Zander mit der Behauptung zusammen, das Denken werde von Steiner »subjektunabhängig« gedacht.

Wenn ich mein Denken beobachte, so das Subjekt der »Philosophie der Freiheit«, »dann beobachte ich selbst, was ich selbst vollbringe«. (GA 4, 1962, S. 50.)

Das Denken als »Beobachtungsgegenstand« ist auch kein neues Thema.

Bereits die »Grundlinien« behandeln das Denken als »Beobachtungsgegenstand«, nur heißt Beobachtung dort »höhere Erfahrung in der Erfahrung«. Dieser höheren Erfahrung des Denkens ist sogar ein ganzes Kapitel gewidmet. (Das achte Kapitel »Das Denken als höhere Erfahrung in der Erfahrung«.)

Darin heißt es u.a.:

»Nur beim Denken kann das Prinzip der Erfahrung in seiner extremsten Bedeutung angewendet werden ... Wenn wir irgendeinen Gedanken fassen, so wissen wir bei aller Unmittelbarkeit, dass wir mit seiner Entstehungsweise innig verknüpft sind ... Beim Gedanken bin ich mir klar« sagt das Subjekt der »Grundlinien«, »dass jenes Werden [des Gedankens] ohne meine Tätigkeit nicht möglich ist«. (GA 2, »Grundlinien«, 1979, S. 45-47.)

Und in »Wahrheit und Wissenschaft« ist das Denken als Beobachtungsgegenstand etwas, was als gegeben aufgefasst werden kann, obwohl es seiner innersten Natur nach nicht gegeben, sondern von uns erzeugt ist:

»Gegeben in unserem Sinne kann alles werden, auch das seiner innersten Natur nach Nicht-Gegebene. Es tritt uns dann eben bloß formal als Gegebenes entgegen, entpuppt sich aber bei genauerer Betrachtung von selbst als das, was es wirklich ist«, nämlich als von uns Erzeugtes. (GA 3, Wahrheit und Wissenschaft, 1980, S. 57.)

Aber nie wird diese Beobachtung als eine »naturwissenschaftliche« im engeren Sinn (durch ein Fernrohr z.B.) ausgegeben, sondern als eine geistige Beobachtung beschrieben, die der naturwissenschaftlichen methodisch analog bzw. gleichwertig ist. Die geistige Beobachtung des Denkens ist die erste und einzige übersinnliche Erfahrung, die das Subjekt in den philosophischen Schriften Steiners machen kann. Aber es ist eine geistige Erfahrung, die die Realität des Geistigen verbürgt.

Die »subjektive Prägung von Begriffen ist« in der »Philosophie der Freiheit« »bloß sekundär«, behauptet Zander.

Der Ausdruck »subjektive Prägung« ist grundsätzlich irreführend. Begriffe werden durch das Subjekt geprägt, deswegen sind aber die Prägungen nicht notwendigerweise »subjektiv«. »Subjektiv« ist in der »Philosophie der Freiheit«, »was auf das Subjekt bezogen ist«, »objektiv« »was auf das Objekt bezogen ist«.

Zander berücksichtigt ausserdem nicht die subtile Unterscheidung der »Philosophie der Freiheit« zwischen Begriffen und Vorstellungen, die in diesem Werk als »individualisierte Begriffe« aufgefasst werden, ebensowenig wie die Unterscheidung zwischen Subjekt und Individualität.

Während die Begriffe oder Ideen auf sich selbst beruhende Gesetzmäßigkeiten, Inhalte des Denkens sind, die nicht vom Subjekt geschaffen, wohl aber hervorgebracht werden, sind Vorstellungen durch das denkende Subjekt geprägte, individualisierte Begriffe. Diese Individualisierung erfolgt durch den Bezug der Begriffe auf Wahrnehmungen. Und sie ist keineswegs sekundär, sie ist der Inhalt des menschlichen Erkennens.

»Die Vorstellung ist ein individualisierter Begriff ... Die volle Wirklichkeit eines Dinges ergibt sich uns im Augenblicke der Beobachtung aus dem Zusammengehen von Begriff und Wahrnehmung. Der Begriff erhält durch eine Wahrnehmung eine individuelle Gestalt ... « (GA 4, 1978, S. 107) und bildet als Vorstellung den Inhalt unserer individuellen Lebenserfahrung. Die Fähigkeit, Begriffe zu individualisieren, ist also für die Herausbildung der Individualität von fundamentaler Bedeutung, sie ist der substantielle Beitrag des erkennenden Subjekts zur Prägung der Begriffswelt. Sie ist nicht sekundär, nicht einmal für die Begriffswelt, aber erst recht nicht für das Subjekt.

Das Denken, das unsere besondere Individualität mit dem Kosmos als einem Ganzen zusammenschließt, soll laut Zander ein »kosmologischer Überbau mit identitätsphilosophischen Formulierungen« sein, der in Steiners Dissertation fehle.

Sehen wir uns »Wahrheit und Wissenschaft« daraufhin an! Die »praktische Schlussbetrachtung« der Dissertation zieht ein Fazit der erkenntniswissenschaftlichen Untersuchungen. Sie spricht nicht nur vom »innersten Kern der Welt«, der sich im Wissen des Menschen auslebt, sondern auch von der »gesetzmäßigen Harmonie des Weltalls«, vom »Hineinleben in den Weltengrund« durch das menschliche Erkennen: »Wir haben gesehen, dass sich in unserem Wissen der innerste Kern der Welt auslebt. Die gesetzmäßige Harmonie, von der das Weltall beherrscht wird, kommt in der menschlichen Erkenntnis zur Erscheinung. ... Das ist das Wesen des Wissens, dass sich in ihm der in der objektiven Realität nie aufzufindende Weltengrund darstellt. Unser Erkennen ist – bildlich gesprochen – ein stetiges Hineinleben in den Weltengrund«. (GA 3, 1980, S. 90.)

Aber nicht nur die Schlussbetrachtung der Buchausgabe spricht diese Sprache, sondern auch der Text der Dissertation, wenn er dem Denken des Menschen die Fähigkeit zugesteht, die Essenz der Welt zur Erscheinung zu bringen:

»Unsere Erkenntnistheorie ... begründet die Überzeugung, dass im Denken die Essenz der  Welt vermittelt wird ... Im Denken allein ist das Element gegeben, welches alle Dinge in ihren Verhältnissen zueinander bestimmt«. (GA 3, 1980, S. 85.)

Die Individualität glaubt Zander, werde in der »Philosophie der Freiheit« negativ konnotiert, der Einzelne als emotionales Wesen gegenüber dem denkenden abgewertet.

In der »Philosophie der Freiheit« handelt ein ganzes Kapitel (das Kapitel »Die menschliche Individualität«) von dieser Individualität. Selbstgefühl, Lust und Schmerz werden hier als Individuationsprinzipien beschrieben, die dem Menschen einen Wert verleihen, der ihm aus dem Denken allein nicht zukommt: »Wären wir bloß denkende und wahrnehmende Wesen, so müsste unser ganzes Leben in unterschiedsloser Gleichgültigkeit dahinfließen. ... Erst dadurch, dass wir mit der Selbsterkenntnis das Selbstgefühl, mit der Wahrnehmung der Dinge Lust und Schmerz empfinden, leben wir als individuelle Wesen, deren Dasein nicht mit dem Begriffsverhältnis erschöpft ist, in dem sie zu der übrigen Welt stehen, sondern die noch einen Wert für sich haben«. (GA 4, 1978, S. 109.)

Das Wesen, dem durch sein Fühlen »ein Wert für sich« zugeschrieben wird, soll abgewertet werden? Eine wahrhafte Individualität, heißt es vielmehr im Kapitel über »die menschliche Individualität«, wird nicht derjenige sein, der sich im allgemeinen Weltleben denkend verliert, sondern der, »der am weitesten hinaufreicht mit seinen Gefühlen in die Region des Ideellen«. (GA 4, 1978, S. 110.)

Auch aus dem zweiten Teil der »Philosophie der Freiheit« hat Zander einige Sätze ausgezogen, um daran abwegige Behauptungen zu knüpfen. Sittliche Prinzipien, die von außen wirken, soll es in der »Philosophie der Freiheit« nicht mehr geben, im Gegensatz zur Dissertation.

Zander schreibt auf S. 528:

»Eine sittliche Ordnung, ›sittliche Prinzipien von außen‹ (ebd., 178) gebe es nicht. So weit hatte er sich in seiner Dissertation nicht vorgewagt. Die Probleme eines konsistenten Verständnisses von Steiners Vorstellungen wachsen mit diesem ethischen Kapitel gewaltig.«

Und auf S. 529:

»Schließlich blieb auch die Antwort auf die Frage, wie das Individuum zu ethischen Entscheidungen komme, nebulös. Steiner behalf sich mit der Einführung neuer Begriffe: Freiheit sei die Wahlfreiheit, ›Intuitionen‹ auszuwählen (GA 4,191), wobei die Intuition formal bestimmt blieb, etwa: ›Sie ist für das Denken, was die Beobachtung für die Wahrnehmung ist.‹ (ebd., 95)«

Die Behauptung, Steiners Dissertation habe äußere Sittlichkeitsprinzipien nicht ebenso abgelehnt, wie die »Philosophie der Freiheit«, ist unzutreffend.

Die entsprechenden Sätze aus der »praktischen Schlussbetrachtung« von »Wahrheit und Wissenschaft«, die den Ursprung der sittlichen Weltordnung in das Individuum verlegen, lauten wie folgt:

»Unser Handeln ist ein Teil des allgemeinen Weltgeschehens. Es steht somit auch unter der allgemeinen Gesetzmäßigkeit dieses Geschehens.

Wenn nun irgendwo im Universum ein Geschehen auftritt, so ist an demselben ein Zweifaches zu unterscheiden: der äußere Verlauf desselben in Raum und Zeit und die innere Gesetzmäßigkeit davon. Die Erkenntnis dieser Gesetzmäßigkeit für das menschliche Handeln ist nur ein besonderer Fall des Erkennens. Die von uns über die Natur der Erkenntnis abgeleiteten Anschauungen müssen also auch hier anwendbar sein.

Sich als handelnde Persönlichkeit erkennen heißt somit: für sein Handeln die entsprechenden Gesetze, d.h. die sittlichen Begriffe und Ideale als Wissen zu besitzen. Wenn wir diese Gesetzmäßigkeit erkannt haben, dann ist unser Handeln auch unser Werk.

Die Gesetzmäßigkeit ist dann nicht als etwas gegeben, was außerhalb des Objektes liegt, an dem das Geschehen erscheint, sondern als der Inhalt des in lebendigem Tun begriffenen Objektes selbst. Das Objekt ist in diesem Falle unser eigenes Ich. Hat dies letztere sein Handeln dem Wesen nach wirklich erkennend durchdrungen, dann fühlt es sich zugleich als den Beherrscher desselben. Solange ein solches nicht stattfindet, stehen die Gesetze des Handelns uns als etwas Fremdes gegenüber, sie beherrschen uns; was wir vollbringen, steht unter dem Zwange, den sie auf uns ausüben. Sind sie aus solcher fremden Wesenheit in das ureigene Tun unseres Ich verwandelt, dann hört dieser Zwang auf. Das Zwingende ist unser eigenes Wesen geworden.

Die Gesetzmäßigkeit herrscht nicht mehr über uns, sondern in uns über das von unserm Ich ausgehende Geschehen. Die Verwirklichung eines Geschehens vermöge einer außer dem Verwirklicher stehenden Gesetzmäßigkeit ist ein Akt der Unfreiheit, jene durch den Verwirklicher selbst ein solcher der Freiheit. Die Gesetze seines Handelns erkennen heißt sich seiner Freiheit bewusst sein. Der Erkenntnisprozess ist, nach unseren Ausführungen, der Entwicklungsprozess zur Freiheit.« (GA 3, Dornach 1958, S. 86-87)

Diese Verlegung des Ursprungs der sittlichen Weltordnung in den Kern der menschlichen Individualität findet aber bereits in den »Grundlinien« statt.

Hier heißt es 1886:

»Ganz anders ist es mit Zugrundelegung unserer Erkenntnistheorie. Diese erkennt keinen anderen Grund der Wahrheiten, als den in ihnen liegenden Gedankeninhalt. Wenn daher ein sittliches Ideal zustande kommt, so ist es die innere Kraft, die im Inhalte desselben liegt, die unser Handeln lenkt. Nicht weil uns ein Ideal als Gesetz gegeben ist, handeln wir nach demselben, sondern weil das Ideal vermöge seines Inhaltes in uns tätig ist, uns leitet. Der Antrieb zum Handeln liegt nicht außer, sondern in uns. Dem Pflichtgebot fühlten wir uns untergeben, wir mußten in einer bestimmten Weise handeln, weil es so befiehlt. Da kommt zuerst das Sollen und dann das Wollen, das sich jenem zu fügen hat. Nach unserer Ansicht ist das nicht der Fall. Das Wollen ist souverän. Es vollführt nur, was als Gedankeninhalt in der menschlichen Persönlichkeit liegt. Der Mensch läßt sich nicht von einer äußeren Macht Gesetze geben, er ist sein eigener Gesetzgeber.

Wer sollte sie ihm, nach unserer Weltansicht, auch geben? Der Weltengrund hat sich in die Welt vollständig ausgegossen; er hat sich nicht von der Welt zurückgezogen, um sie von außen zu lenken, er treibt sie von innen; er hat sich ihr nicht vorenthalten. Die höchste Form, in der er innerhalb der Wirklichkeit des gewöhnlichen Lebens auftritt, ist das Denken und mit demselben die menschliche Persönlichkeit. Hat somit der Weltengrund Ziele, so sind sie identisch mit den Zielen, die sich der Mensch setzt, indem er sich darlebt. Nicht indem der Mensch irgendwelchen Geboten des Weltenlenkers nachforscht, handelt er nach dessen Absichten, sondern indem er nach seinen eigenen Einsichten handelt. Denn in ihnen lebt sich jener Weltenlenker dar. Er lebt nicht als Wille irgendwo außerhalb des Menschen; er hat sich jedes Eigenwillens begeben, um alles von des Menschen Willen abhängig zu machen. Auf daß der Mensch sein eigener Gesetzgeber sein könne, müssen alle Gedanken auf außermenschliche Weltbestimmungen u. dgl. aufgegeben werden. ...

Nur bei dieser Ansicht ist eine wahre Freiheit des Menschen möglich. Wenn der Mensch nicht in sich die Gründe seines Handelns trägt, sondern sich nach Geboten richten muß, so handelt er unter einem Zwange, er steht unter einer Notwendigkeit, fast wie ein bloßes Naturwesen.

Unsere Philosophie ist daher im eminenten Sinne Freiheitsphilosophie. Sie zeigt erst theoretisch, wie alle Kräfte usw. wegfallen müssen, die die Welt von außen lenkten, um dann den Menschen zu seinem eigenen Herrn im allerbesten Sinne des Wortes zu machen. Wenn der Mensch sittlich handelt, so ist das für uns nicht Pflichterfüllung, sondern die Äußerung seiner völlig freien Natur. Der Mensch handelt nicht, weil er soll, sondern, weil er will. Diese Ansicht hatte auch Goethe im Auge, als er sagte: ›Lessing, der mancherlei Beschränkung unwillig fühlte, läßt eine seiner Personen sagen: Niemand muß müssen. Ein geistreicher, frohgesinnter Mann sagte: Wer will, der muß. Ein dritter, freilich ein Gebildeter, fügte hinzu: Wer einsieht, der will auch.‹ Es gibt also keinen Antrieb für unser Handeln als unsere Einsicht. Ohne daß irgendwelcher Zwang hinzutrete, handelt der freie Mensch nach seiner Einsicht, nach Geboten, die er sich selbst gibt. Um diese Wahrheiten drehte sich die bekannte Kontroverse Kant- Schillers. Kant stand auf dem Standpunkte des Pflichtgebotes. Er glaubte das Sittengesetz herabzuwürdigen, wenn er es von der menschlichen Subjektivität abhängig machte. Nach seiner Ansicht handelt der Mensch nur sittlich, wenn er sich aller subjektiven Antriebe beim Handeln entäußert und sich rein der Majestät der Pflicht beugt. Schiller sah in dieser Ansicht eine Herabwürdigung der Menschennatur. Sollte denn dieselbe wirklich so schlecht sein, daß sie ihre eigenen Antriebe so durchaus beseitigen müsse, wenn sie moralisch sein will! Schillers und Goethes Weltanschauung kann sich nur zu der von uns angegebenen Ansicht bekennen. In dem Menschen selbst ist der Ausgangspunkt seines Handelns zu suchen.« (GA 3, Dornach 1960, S. 124-127)

»Wahrheit und Wissenschaft« beschränkt sich als epistemologische Untersuchung im Wesentlichen auf das menschliche Erkennen, das Werk fundiert aber in seinem sechsten Kapitel die Ethik in der »freien Selbstbestimmung«, die bereits für das Erkennen des Menschen konstitutiv ist.

Für die »Grundlinien« ist offensichtlich, dass eine »von außen« kommende sittliche Weltordnung des Menschen unwürdig ist.

Da es in der »Philosophie der Freiheit« nicht zu der von Zander unterstellten »Abwertung« des Individuums kommt, gibt es auch nicht die von ihm behaupteten Konsistenzprobleme. Die Frage, wie das Individuum zu ethischen Entscheidungen kommt, findet nicht eine »nebulöse Antwort«, und Steiner definiert die Freiheit des Menschen auch nicht als »Wahlfreiheit«, wie Zander meint.

Angesichts der Tatsache, dass die gesamte Untersuchung der »Philosophie der Freiheit« auf der Unterscheidung zwischen Wahlfreiheit und wirklicher Freiheit fußt, ist die letztere Behauptung Zanders geradezu skandalös. Wahlfreiheit ist für Steiner, wie er bereits im ersten Kapitel dieses Buches darlegt, jenes Missverständnis der Freiheit, gegen das all ihre Gegner ankämpfen, während sie von der wirklichen Freiheit keinen hinreichenden Begriff haben. Diesen hinreichenden Begriff der Freiheit zu entwickeln, ist das moralphilosophische Hauptziel des Buches.