Wenigstens einmal sollte auf den hämischen Ton aufmerksam gemacht werden, in dem Zander das religiöse Ringen von Menschen abhandelt, die in tiefen Glaubenskrisen steckten und sich nach einer lebendigen Beziehung zu Christus sehnten.

Auf S. 1623-24 schreibt Zander:

»Diese Verwerfungen müssen sich durch die gesamte Tagung gezogen haben ... Schon zu diesem Zeitpunkt legte sich Steiner normativ fest: ›Erlösung oder Selbsterlösung, das ist das aut – aut, das eben auftritt.‹ [S. 334] Einen Tag später affirmierte Steiner die Selbsterlösung [S. 401], aber Neuhaus fasste am 6. Oktober nach ... Neuhaus war nicht zufrieden. In den allerletzten Minuten des Kurses, nachdem mehrfach über die Beichte gesprochen worden war, drängte Neuhaus Steiner zu einer Antwort auf die Frage, wie sich Sündenvergebung und Selbsterlösung zueinander verhielten. Steiner applizierte daraufhin das Selbsterlösungsprogramm, das er schon 1914 entworfen hatte [S. 640] ... Die Beichte sei das ›kraftstärkende‹ Sakrament und bewirke keine Vergebung ... Steiner hatte sich letztlich nicht um die Klarheit seiner theosophischen Position gedrückt. Ob er das leistungskritische Herzstück der christlichen Gnadenlehre in der Debatte um die Selbsterlösung verstanden hat, scheint mir unwahrscheinlich.«

Wenn man der Frage nach Erbsünde, Gnade und Erlösung nachgeht, wie sie von Steiner im zweiten Theologenkurs behandelt wird, offenbart sich erst, wie grauenhaft verlogen Zander mit den heiligsten Fragen des christlichen Lebens umgeht.

Sehen wir uns seine Behauptungen im einzelnen an.

»Erlösung oder Selbsterlösung: das ist das entweder – oder.«

In Wirklichkeit sagt Steiner das Gegenteil:

»Erlösung oder Selbsterlösung, das ist das aut-aut, das eben auftritt. Man glaubt, man könne die Anthroposophie einfach als unchristlich bezeichnen, weil man meint, sie müsse von einer Selbsterlösung des Menschen sprechen. Nun, die Sache liegt nicht so. Dieses aut-aut ist eigentlich für die Anthroposophie gar nicht so, wie man es annimmt, vorhanden.« (GA 343, 4. Oktober 1921, Dornach 1993, S. 334)

»Einen Tag später affirmierte Steiner die Selbsterlösung.«

In Wirklichkeit sagte Steiner das Gegenteil:

»Um dieser Erbsünde entgegenzuwirken, meine lieben Freunde, da gibt es keine Selbsterlösung, da gibt es eben nur die Erlösung durch den Christus, die Erlösung durch den Anblick des durch das Mysterium von Golgatha gehenden Christus ...

So, meine lieben Freunde, kann es keine andere Erlösung von der Erbsünde geben als diejenige durch den Christus Jesus; die anderen Sünden sind Folgesünden. Die individuellen Sünden werden von dem Menschen begangen, weil er eben durch die Erbsünde schwach sein kann, zur Sünde hinneigen kann. Diese individuellen Sünden finden ihren Ausgleich in dem, was durch Selbsterlösung erreicht werden muss; sie müssen durch Selbsterlösung im Verlaufe des irdischen oder überirdischen Lebens ausgeglichen werden. Dasjenige aber, was die Ursünde ist, die Mutter aller übrigen Sünden, das konnte nur durch die Erlösungstat des Christus aus dem Menschengeschlechte herausgenommen werden.« (GA 343, 5. Oktober 1921, Dornach 1993, S. 400-402)

Auch wenn es so scheint, als würde Steiner hier die »Selbsterlösung affirmieren«, scheint es nur so, denn er fährt fort:

»Erlösung von der Erbsünde bedeutet, ein solches Verhältnis zu dem historischen Christus zu haben, der durch das Mysterium von Golgatha gegangen ist, dass dieses Verhältnis auf geistig-seelische Art ebenso wahr durch unsere Adern pulst, wie auf physische Art das Blut durch unsere Adern pulst. Das ist die Kraft, das ist die Stärke, die man die Glaubenskraft und die Glaubensstärke nennen kann. Nicht einen abstrakten Begriff soll man suchen für den Glauben, sondern diese Stärke, diese Kraft soll man suchen für den Glauben. Glauben heißt, in seiner Seele zu dem Christus hin eine solche Stärke und eine solche Kraft zu finden, dass diese seelische Kraft, diese seelische Stärke so groß ist wie dasjenige, was die Blutsbande in uns bewirken können. Dann finden wir den Weg zu dem einheitlichen Christus der ganzen Menschheit, zu jenem einheitlichen Christus, der durch das Ereignis von Golgatha auch die wirkliche objektive Ursache für jeden subjektiven Erlösungsvorgang ist. Dann aber suchen wir nicht mehr in äußeren Zeichen den Erlösungsvorgang, dann suchen wir im Gegenteil auch durch die Sakramente dasjenige, was die reale Beziehung der Menschenseele zu dem Christus ist ... Dann suchen wir auch nicht auf eine abstrakte oder mystische Art ein Verhältnis zu einem Christus, der uns entschwindet, dann gründen wir im Menschengeist und im Menschenherzen und im Ganzmenschlichen ein wahlverwandtschaftliches Verhältnis zu dem Christus, wie wir ein blutsverwandtschaftliches Verhältnis haben zu dem Leben des Vatergottes, insofern sich dieses Leben eben in dem Blute der Menschheit, das heißt in dem Lebensschöpferischen der Menschheit auf dem physischen Gebiete ausdrückt.

Damit habe ich versucht, die subjektive Seite des Erlösungsgedankens vor Sie hinzustellen. Ich glaube nicht, dass man in der heutigen Zeit aus anderen Voraussetzungen, aus anderen Antezedenzien heraus zu einem objektiven Verstehen des subjektiven Erlösungsgedankens kommen kann. (GA 343, 5. Oktober 1921, Dornach 1993, S. 404-405)

Auch wenn also der Mensch das seinige dazu beitragen muss, sich von den Sünden zu entsühnen, die er begangen hat, so ist die Voraussetzung dieser Möglichkeit seines subjektiven Beitrags, also der sogenannten Selbsterlösung, die objektive Tatsache der Erlösung der Menschheit durch Christus.

»Die Beichte bewirke keine Vergebung.«

Das Gegenteil ist wahr. Die sakramentale Buße, die Beichte und die anschließende Vergebung, haben sehr wohl eine Wirkung, wie Steiner im Gespräch mit Constantin Neuhaus ausführt:

»Constantin Neuhaus: Wir haben gestern gehört, dass wir uns von der persönlichen Sünde selber erlösen müssen. Wie hängt das mit dem Karma zusammen? Welchen Platz hat die Verzeihung, die sakramentale Buße nach diesen Voraussetzungen?

Rudolf Steiner: Ich habe gestern unterschieden den ganzen Fortgang, der in der Erlösung und in der Erbsünde liegt. Nun, bei der Verzeihung, nicht wahr, da handelt es sich darum, dass wir Verzeihung für irgend etwas bekommen. Wofür wir Verzeihung bekommen und was wir an der Verzeihung erleben, ist natürlich, wenn man durchaus auf das Karma rekurrieren will, in das Karma eingeschlossen. Ich meine, die beiden Dinge, also die Tat und die Verzeihung dafür, hängen karmisch zusammen. Sie werden ja natürlich kaum annehmen, dass es sich um eine Verzeihung handeln kann, zu der man gar nichts tut. Allerdings, sobald wir von der Kirche reden als einer ernsthaftigen Gemeinschaft, kann auch noch mit Einschluss der Karmaströmung durchaus gelten, dass die Kirche als solche gewisse Dinge mit auf sich nimmt, die der einzelne in seinen Taten tut, wodurch also die Kirche eine Art Kollektivkarma übernehmen würde. Da ist natürlich dann wiederum die Gegenleistung die Zugehörigkeit zur Kirche.

Nicht wahr, das Karma als solches so abstrakt zu nehmen, ist immer etwas schwierig, weil das Karma etwas sehr Kompliziertes ist. Man kann zum Beispiel sagen: Wenn man irgendwo im Leben einen Strich macht unter die positiven und die negativen Taten, also unter die guten und die bösen Taten, so bekommt man eine gewisse Lebensbilanz heraus. Aber diese Lebensbilanz kann ja durch den einen oder anderen Posten sogleich wiederum geändert werden. Es handelt sich durchaus nicht darum, dass das eine starre Bilanz ist, sondern es handelt sich darum, dass man tatsächlich in jedem Augenblick des Lebens eine Lebensbilanz hat. Es können aber durchaus auf der einen und auf der anderen Seite Posten stehen, die eben einfach dadurch dastehen, dass man irgendeiner Gemeinschaft angehört, die das dann auf sich nimmt. In der katholischen Kirche müsste das ganz konsequent auch so sein, dass, wenn sie den Anspruch macht, Sünden zu vergeben, sie diese Sündenlast nun als Kirche kollektivistisch auf sich nehmen müsste. Das ist auch der ursprüngliche Sinn der Sündenvergebung, das dem Einzelnen Abnehmen und das kollektivistische Aufsichnehmen; natürlich ist ein starkes Bewusstsein von einer solchen Verantwortung – wenigstens innerhalb der römisch-katholischen Kirche – gewöhnlich nicht vorhanden.

Constantin Neuhaus: Also wird das Böse wieder gut gemacht?

Rudolf Steiner: Ja.

Constantin Neuhaus: Ist das die Buße, wenn ich unmäßig gewesen bin und dann durch Mäßigkeit, durch Abstinenz die Sache wieder gut mache?

Rudolf Steiner: Das geht; ja, das geht.

Constantin Neuhaus: Und um das Gute zu tun, dafür bekomme ich die Kraft aus Christus?

Rudolf Steiner: Die Kraft aus Christus bekomme ich dazu, dass nicht die allgemein-menschliche Erbsünde schon mich hindert, die Kraft [zum Guten] zu haben. Ich habe überhaupt keine Kraft zum Guten in unserer heutigen Zeit nach dem Mysterium von Golgatha, wenn ich nicht diese Kraft von Christus in bezug auf die Erbsünde habe. Ich habe keine Kraft ohne die Tilgung der Erbsünde.« (GA 343, 6. Oktober 1921, Dornach 1993, S. 430-431.)

Im letzten Gespräch, am Nachmittag des 10. Oktober, kam Neuhaus noch einmal auf die Frage der Buße zurück. Steiner bestätigte hier erneut, die Wirksamkeit des Bußsakramentes:

»Constantin Neuhaus: Wenn wir uns von den persönlichen Sünden durch Selbsterlösung befreien müssen, wozu bedarf es da eines sakramentalen Bußaktes? Und wenn doch, wie wirkt dieser sakramentale Bußakt?

Rudolf Steiner: Nicht wahr, die Ursache, dass man eine persönliche Sünde begeht, liegt ja in der durch die allgemeine Sünde herbeigeführten Schwäche. Die persönliche Sünde beziehungsweise der ganz persönliche Teil der Sünde, wie ich das einmal dargestellt habe, muss in Selbsterlösung abgetragen werden. Aber ist es dann nicht möglich, bei etwas, was der Mensch durch sich selbst vollbringen soll, ihm dabei zu helfen? Das widerspricht ja durchaus nicht dem Selbstausgleichen, dass man ihm dabei hilft, dass man seine Kraft stärkt. Da ist also die sakramentale Handlung im wesentlichen das Kraftstärkende. Nun, was da gesagt werden muss, ist eigentlich, dass jede sakramentale Handlung kraftstärkend ist, dass jede sakramentale Handlung, nicht nur die Buße, dazu beiträgt, diese Kraft sich anzueignen, um die Selbsterlösung im Laufe der Erdenleben herbeiführen zu können. Also man kann das schon in ganz reinlichen Begriffen ausdrücken, wenn ich mich so ausdrücken darf. Es ist daher durchaus möglich, dass man sagt: Soviel als nur geschehen kann, soll dem Menschen nach dieser Richtung geholfen werden, eben weil er in bezug auf die persönliche Sünde auf die Selbsterlösung angewiesen ist.« (GA 343, 6. Oktober 1921, Dornach 1993, S. 640.)

Zander unterstellt Steiner in den Gesprächen über die Gründung der Christengemeinschaft einmal mehr Autoritarismus und das Streben nach einer eigenen Kirche.

Auf S. 1624 schreibt Zander:

»An diesem Tag [dem 4. Oktober] ging es um eine Verpflichtungserklärung (GA 343, 354 f., 365 f.), die den Primat der Anthroposophie und die Geheimhaltung der Kursnachschriften forderte ... Geyer ... wollte weiterhin freie Gemeinden innerhalb der Kirchen gründen (ebd. 359) ... Steiner hingegen arbeitete, kaum verdeckt, auf eine Trennung hin. Mehrfach repetierte er einen Satz der Verpflichtungserklärung: ›Ein Anknüpfen innerhalb der Kirche werde ich nur dort anstreben, wo die Reinheit des Impulses dadurch nicht gefährdet ist. (ebd., 360)«

Auch diese Ausführungen Zanders sind durch und durch verlogen.

Zunächst entsteht durch seine Schilderung der Eindruck, als sei die sogenannte »Verpflichtungserklärung« von Steiner ausgegangen, als habe er den »Primat der Anthroposophie« gefordert. Die Erklärung (genauer: der erste Entwurf einer »Erklärung zur Mitarbeit an einer religiösen Erneuerung«) war jedoch von einigen Teilnehmern verfasst worden.

Der erste Punkt des Entwurfs, der Zander Anlass gibt, vom »geforderten Primat der Anthroposophie« zu reden, lautete:

»Ich erkenne an, dass die Anthroposophie in entscheidenden Punkten die für eine religiöse Erneuerung heute vorauszusetzende neue Weltanschauung ist und über die nötigen Erkenntnisquellen für den neu zu gewinnenden Kultus verfügt.«

Diesen Punkt kommentierte Steiner in der Besprechung wie folgt:

»Das im ersten Punkte [Geforderte]: ›Ich erkenne an, dass die Anthroposophie in entscheidenden Punkten die Grundlage für eine neue Weltanschauung ist‹, das würde man nicht einmal [sagen] dürfen, wenn man es gewissermaßen von den Mitgliedern einer Anthroposophischen Gesellschaft verlangte; es könnte einem gar nicht einfallen, von den Mitgliedern die anthroposophische Weltanschauung zu verlangen. Wenn jemand aus seinem freien Willen heraus Atheist ist und er tritt in die Anthroposophische Gesellschaft ein, um in freier Weise sich mit dem, was da gemacht wird, auseinanderzusetzen, so kann er das durchaus. Es ist vielleicht in der Realität die einzige Möglichkeit, das zu realisieren, was der Anzengruber sagt: So wahr ein Gott im Himmel ist – ich bin ein Atheist! – Das ist ein berühmter atheistischer Schwur.

Aber man muss sich klar sein darüber, dass das, was in der Anthroposophischen Gesellschaft [richtig] ist, nicht eigentlich möglich ist für Sie, denn Sie schaffen doch aus einer gewissen Kontinuität heraus, Sie erkennen gewisse Voraussetzungen an. Nur würde ich zum Beispiel nicht glauben, dass der erste Punkt in einer so strikten Weise eingehalten werden muss. Ich würde zum Beispiel gar nicht der Meinung sein: ›Ich erkenne an, dass die Anthroposophie in entscheidenden Punkten die für eine religiöse Erneuerung heute vorauszusetzende neue Weltanschauung ist.‹ Ich würde von meinem Gesichtspunkt aus – aber ich erzähle nur das, was ich meine –, ich würde also zum Beispiel lieber sagen: Ich erkenne an, dass man heute für eine religiöse Erneuerung notwendig hat, sein Augenmerk hinzuwenden nach denjenigen Erscheinungen, die heute aus ursprünglichen Quellen heraus behaupten, zur übersinnlichen Welt zu kommen, wie zum Beispiel die Anthroposophie. – Ich würde meinen, dass die Sache so besser läge. Aber, wie gesagt, ich will niemanden beeinflussen. Und ich will durchaus nicht einmal, dass Anthroposophie heute in der Welt dadurch vertreten werden sollte, dass man sagt, man müsse an sie anknüpfen, obwohl ich auch glaube, dass dasjenige, was ich gesagt habe, mehr im Geiste der Anthroposophie gesprochen ist, als wenn man sie, wenn auch in sehr freiem Sinne, zu einer Art Dogmatik macht, was sie gar nicht ist in Wirklichkeit.« (GA 343, 4. Oktober 1921, Dornach 1993, S. 354, 363-364)

Die Teilnehmer des Kurses arbeiteten den ersten Punkt nach Steiners Anregung um und gaben ihm folgende Fassung:

»Ich erkenne an, dass heute jede Bemühung um die religiöse Erneuerung zusammengehen muss mit der Bemühung um eine neue Weltanschauung, die behaupten kann, aus ursprünglichen Quellen heraus zur übersinnlichen Welt zu kommen, wie z.B. die Anthroposophie«. (GA 343, S. 365) Ob diese Fassung Steiners Vorstellungen eher entsprach, ist nicht bekannt.

Generell bemerkte er zum Vorhaben, diese Erklärung zu verabschieden und von den Teilnehmern, die dazu bereit waren, unterschreiben zu lassen:

»Sehen Sie, Sie müssen das durchaus so nehmen, dass ich nicht den geringsten Einfluss haben will auf dasjenige, was im Sinne eines solchen Schriftstückes geschehen soll. Aber nicht wahr, ich habe es gelesen, und ich betrachte seinen Inhalt für so seriös für den, der unterschreibt, dass gar nichts anderes als ungeheuer Seriöses daraus folgen kann, dass wirklich eine Tat folgen kann. Das muss ich auf die eine Seite stellen, und in dieser Richtung kann ich nur raten. Auf die andere Seite muss ich etwas anderes stellen. Wenn ich Zeit dazu hätte, würde ich Ihnen eine Sammlung von all den Dingen geben, die mir im Laufe des Bestehens der anthroposophischen Bewegung in Form solcher Schriftstücke begegnet sind innerhalb dieser Gesellschaft, wo sich Leute vorgenommen haben, dieses oder jenes zu tun. Es ist nichts anderes erfolgt, als dass solche Schriftstücke in meiner Papiersammlung liegen, und von denjenigen, welche dazumal unterschrieben haben, meist vergessen worden sind.« (GA 343, 4. Oktober 1921, Dornach 1993, S. 360-361)

Laut Zander wollte Geyer weiterhin freie Gemeinden innerhalb der Kirchen gründen, während Steiner kaum verdeckt auf eine Trennung hingearbeitet habe. Dabei habe er wiederholt einen Satz aus Punkt 2. des Entwurfes der Erklärung zitiert. Punkt 2. des Entwurfes lautete: »Ich erkläre meine Bereitschaft zur Vorbereitung und Gründung freier Gemeinden durch Realisierung der aus anthroposophischen Erkenntnisquellen gewonnenen Kultformen und Anregungen für Predigt und Unterweisung. Ein Anknüpfen innerhalb der Kirche werde ich nur dort anstreben, wo die Reinheit des Impulses dadurch nicht gefährdet ist.«

Geyers Position ist keineswegs so eindeutig, wie Zander suggeriert, vielmehr schwankte er, ob sich die religiöse Erneuerung innerhalb oder außerhalb der Kirchen realisieren lasse, ob eine solche Bewegung von den Kirchen entlassen oder wieder aufgesogen werden würde.

Die diesbezügliche Diskussion verlief wie folgt:

»Christian Geyer: ... Pastor Geyer schließt die Frage an, ob das Wirken zur Erneuerung des religiösen Lebens nicht innerhalb der Kirchenorganisation möglich ist nach der Art Rittelmeyers in Berlin, oder ob dies aufhört mit dem Augenblick, wo diese Zentralstelle ins Leben gerufen wird. ...

Rudolf Steiner: ... Das steht so in dem Punkt 2, dass ich mir eine größere Präzision nicht mehr denken kann: ›Ich erkläre meine Bereitschaft zur Vorbereitung und Gründung freier Gemeinden durch Realisierung der aus anthroposophischen Erkenntnisquellen gewonnenen Kultformen und Anregungen für Predigt und Unterweisung. Ein Anknüpfen innerhalb der Kirche werde ich nur dort anstreben, wo die Reinheit des Impulses dadurch nicht gefährdet ist.‹ – Ich kann mir es präziser eigentlich nicht mehr vorstellen, alles ist in Realität gegeben ...

Christian Geyer: Weist darauf hin, dass er schon bedeutende religiöse Bewegungen erlebt hätte, die dann so stark geworden sind, dass sich die Kirche vor die Frage gestellt sah, sie hinausziehen zu lassen oder sie aufzunehmen in ihre Organisation. Er findet, dass bezüglich des Verhältnisses der freien Gemeinschaften zu der Kirchengemeinschaft noch nichts Differenziertes ausgesprochen sei.

Rudolf Steiner: Aber eigentlich doch. Ich finde doch, dass es klar ist, denn [es heißt]: ›Ein Anknüpfen innerhalb der Kirche werde ich nur dort anstreben, wo die Reinheit des Impulses dadurch nicht gefährdet ist.‹ Also das würde in sich schließen: wenn jemand in einer solchen freien Gemeinde sagt, sie gefährde die Reinheit des Impulses nicht, so ist es möglich, dass er in einer solchen Gemeinde innerhalb der Kirche wirkt. Das ist eigentlich in dem Satz drinnen.« (GA 343, 4. Oktober 1921, Dornach 1993, S. 359-360)

Im Anschluss an die von ihm geäußerten Zweifel über den Sinn der beabsichtigten Erklärung wies Steiner auf die Notwendigkeit hin, zur Tat zu schreiten und präzisierte:

»Ich verstehe darunter nicht, dass Sie übermorgen so und so viele Kirchen bilden. Das ist es nicht, was ich darunter verstehe, aber das tatsächliche Hinarbeiten, und sei es nur in einem kleinen Kreise möglich, das tatsächliche Hinarbeiten auf ein bestimmtes, ganz konkretes Ziel. Das konkrete Ziel steht ja da, aber es muss eben auch tatsächlich zugleich die Möglichkeit der ganz ernsten Arbeit geschaffen werden, die nicht eine bloße Vereins- oder sonstige Arbeit ist, sondern die sich bewusst ist, ein weltgeschichtliches Tun damit zu vollbringen. Das ist dasjenige, was ich meine.« (GA 343, 4. Oktober 1921, Dornach 1993, S. 361)

Es grenzt schon an Irrwitz, wie Zander manchmal Dogmatismus in Steiner hineininterpretiert.

Auf S. 1625 schreibt er:

»Auch mit seinen institutionellen Plänen hielt Steiner nicht hinter dem Berg, wie auf die Frage nach einer ›bischöflichen Kirchenverfassung‹ deutlich wurde. ›Mir scheint es notwendig, … dass Sie etwas mit dem Werden der Sache rechnen.‹ (ebd., 625) Mit derartigen dogmatischen Festlegungen machte sich Steiner keine Freunde.«

Jeder, der halbwegs bei Verstand ist, wird erkennen, dass Steiner die Teilnehmer ermahnte, sich nicht über Fragen den Kopf zu zerbrechen, die im Moment überhaupt nicht aktuell waren. Nicht so Zander. Steiner antwortete auf die Frage nach einer künftigen Kirchenverfassung bevor noch eine Kirchengemeinde entstanden war:

»Frage: Gehört zum neuen Kultus nicht auch eine bischöfliche Kirchenverfassung?

Rudolf Steiner: Mir erscheint notwendig, meine lieben Freunde, dass Sie etwas mit dem Werden der Sache rechnen. Wir sind wirklich noch nicht so weit, dass wir nötig haben, uns über eine bischöfliche Kirchenverfassung jetzt schon tiefer einzulassen. Dass sich so etwas wie eine Kirchenverfassung ergeben wird, das ist ja ohne Zweifel. Aber übersehen Sie denn nicht, dass dasjenige, was wir als Anfängliches des Kultus – und das genügt zunächst – hier vor unsere Seelen haben treten lassen, wirklich ohne eine ganz ausgearbeitete bischöfliche Kirchenverfassung geübt wird? Dasjenige, was dann zu tun sein wird, um überhaupt im Kultus den Anfang zu machen, da halte ich dafür, dass es eben getan wird, wenn dieser Anfang gemacht werden kann. Ich glaube nicht, dass es günstig wäre, jetzt mit Kultusformen und Weihen zu beginnen, bevor die Sache soweit feststeht, dass die einzelnen, die da für diese Erneuerung des religiösen Lebens eintreten wollen, in ganz fester Weise ihre volle Aufgabe haben. Dann sind wir soweit, dass wir sagen können: Wenn die Betreffenden nun ihre Gemeinde gesammelt haben, dann beantworten wir die Frage, wie das nun im einzelnen gemacht werden soll.« (GA 343, 10. Oktober 1921, Dornach 1993, S. 625)

Zander erwähnt einen »schweren Konflikt« zwischen Steiner und Friedrich Rittelmeyer an der Jahreswende 1922/23.

Auf S. 1626 schreibt Zander in Anmerkung 68:

» ... Um die Jahreswende 1922/23 hatte es auch schwere Konflikte zwischen Rittelmeyer und Steiner gegeben, der Rittelmeyer vorwarf, gegenüber en Gegnern der Anthroposophie, die sich auf einer Konferenz formiert hatten, zu konziliant gewesen zu sein; vgl. Wehr: Rittelmeyer (1998), 206-208.«

Der »schwere Konflikt zwischen Rittelmeyer und Steiner«, hat nicht um die Jahreswende 1922/23 stattgefunden, wie Zander behauptet. In der von ihm angeführten Quelle (Gerhard Wehr: Rittelmeyer, Seite 206-208) findet sich die Zeitangabe Frühjahr 1923. Richtig wäre Sommer 1923, da die Auseinandersetzung im Juli stattfand.

Anlass war der Abdruck einer Zuschrift des Vorsitzenden des evangelischen Volksbundes in Württemberg Dr. Lempp und die Stellungnahme Rittelmeyers zu dieser Zuschrift, die beide in der Zeitschrift »Anthroposophie« vom 12. Juli 1923 abgedruckt wurden. Da die Zuschrift Lempps Verleumdungen gegen Steiner enthielt, dessen enragierteste Gegner in Schutz nahm und Rittelmeyer Lempp zu vornehm behandelte, kritisierte Steiner sowohl den Abdruck der Zuschrift als auch Rittelmeyers Erwiderung auf einer Sitzung, die am 14. Juli 1923 in Stuttgart stattfand. (Bei den Gegnern handelt es sich um die »nicht-anthroposophischen Kenner der Anthroposophie, die im Oktober 1922 in Berlin eine apologetische Tagung durchgeführt hatten. Siehe dazu die Materialien: »Es gilt einen Kampf auf Tod und Leben«.)

Der Konflikt hatte übrigens nichts mit der Christengemeinschaft oder theologischen Fragen zu tun. Er änderte auch nichts an Rittelmeyers Einstellung zu Steiner oder an Steiners Einstellung zu Rittelmeyer.

Angeblich wurde die Christengemeinschaft von elitären Priestern gegründet, die zuerst an sich, an zweiter Stelle an Gebäuden und erst an dritter Stelle an Gemeinden interessiert waren.

Auf Seite 1628 schreibt Zander:

»In dieser Vorbereitung der Gründung realisierte sich ein Strukturprinzip der Christengemeinschaft, das schon in den beiden ersten Theologenkursen erkennbar war: Ihre Gründung erfolgte von oben nach unten. An allererster Stelle wurde eine Priesterschaft gebildet, dann begab man sich bis in den Bau von Gebäuden hinein an die Organisation der künftigen Gemeinschaft, und erst nachdem die Gründung vollzogen sein würde, war daran gedacht, Gemeinden zu bilden. Damit spiegelt sich in der Christengemeinschaft das Organisationsprinzip der Theosophie: Eine elitäre Schar von ›Eingeweihten‹, zumindest aber von geweihten Priestern, sollte die Führer der unerleuchteten Menschen stellen. Zwar hat die Christengemeinschaft durch Synoden das monarchische Prinzip gemildert, aber das Konzept einer priesterzentrierten Kultkirche nicht umgestoßen.«

Durch die Rede von Gebäuden in der Mehrzahl, suggeriert Zander, dass den Gründern der Christengemeinschaft die Erstellung von Gebäuden wichtiger war als die Gründung von Gemeinden. Es handelte sich aber nur um ein Haus. Außerdem ist die Behauptung falsch, »erst nachdem die Gründung vollzogen sein würde, war daran gedacht, Gemeinden zu bilden«. Aus dem häufig von ihm zitierten Buch von Rudolf Gädeke »Die Gründer der Christengemeinschaft« geht hervor, dass Hermann Heisler schon von Sommer 1921 bis zum Frühjahr 1922 in vielen deutschen Städten kleine Gruppen um sich gesammelt hatte, die er auf die künftige Gründung vorbereitete (S. 500 f.); ebenso, dass die späteren Gründer vom Mai bis zum Juli 1922 sich schon in vielen deutschen Städten um eine Gemeindebildung bemühten (S. 28). Auch Joachim Sydow, den Zander öfter zitiert, berichtet von diesen vorbereitenden Gemeindebildungen.