Angeblich lasse Steiner in der »Philosophie der Freiheit« eine klare Bestimmung des Begriffs der moralischen Phantasie vermissen und vertrete die Ansicht, das Handeln des Menschen beruhe auf der Kenntnis der Naturgesetze und sei deswegen »nur« reproduktiv.

Auf S. 529 schreibt Zander:

»Der ›freie Geist‹ benötige zur Durchsetzung seiner ›Ideen‹ ›moralische Phantasie‹ (ebd., 193), aber was Steiner darunter verstand, ließ er offen. Sie werde vom Individuum ›produziert‹ (ebd., 194), aber zugleich beruhe Handeln auf der Kenntnis der ›Naturgesetze‹, sei also insoweit doch nur reproduktiv ...«

Weder läßt Steiner »offen«, was er unter »moralischer Phantasie« versteht, noch behauptet er, das freie Handeln des Menschen beruhe auf Naturgesetzen und sei deswegen »nur reproduktiv«.

Die höchste Form von Motiven ist für die »Philosophie der Freiheit« der reine Begriff, die begriffliche Intuition. Moralische Intuitionen werden durch das Denken hervorgebracht, so wie Erkenntnisintuitionen auch. Sie sind die besonderen Sittlichkeitsmaximen, die das Denken des Menschen für einzelne Fälle erzeugt. Steiner skizziert im 9. Kapitel eine situative Ethik, bei der das einzelne Individuum den jeweils besonderen Situationen gegenüber aus seinem Intuitionsvermögen jene Motive zu Tage fördert, die sich aus diesem Vermögen ergeben. Die moralische Phantasie ist das Vermögen des Menschen, konkrete Vorstellungen aus der Summe seiner Ideen zu produzieren, so die Definition der »Philosophie der Freiheit«. »Konkrete Vorstellungen aus der Summe seiner Ideen heraus produziert der Mensch zunächst durch die Phantasie. Was der freie Geist nötig hat, um seine Ideen zu verwirklichen, um sich durchzusetzen, ist also die moralische Phantasie. Sie ist die Quelle für das Handeln des freien Geistes.« (GA 4, 1978, S. 193.)

Die moralische Phantasie, die die konkreten Vorstellungen aus den moralischen Intuitionen ableitet, wirkt mit der »moralischen Technik« zusammen, die ihrerseits auf der Erkenntnis der Gesetzmäßigkeiten des Erscheinungsgebiets beruht, in das der Mensch handelnd eingreifen will. Die Kenntnis dieser Gesetzmäßigkeiten (sog. »Erkenntnisbegriffe«) bestimmt aber nicht den Inhalt des Handelns, sondern vermittelt die Kenntnis der Bedingungen, unter denen dieser Inhalt der Wahrnehmungswelt eingeprägt werden kann. Die Erkenntnisbegriffe der moralischen Technik modifizieren den ideellen Inhalt der moralischen Intuitionen, so wie die Wahrnehmungen die Begriffe modifizieren (individualisieren), die auf sie bezogen werden. Die moralische Phantasie bringt also etwas Neues zur Wahrnehmungswelt hinzu, sonst wäre eine Veränderung dieser Wahrnehmungswelt gar nicht möglich, und das Handeln wäre in der Tat bloß reproduktiv. Indem der Mensch produktiv Vorstellungen künftiger Handlungen erzeugt, betätigt er seine moralische Phantasie. Indem er diese Vorstellungen der Erscheinungswelt einprägt, ohne deren »gesetzmäßigen Zusammenhang« zu durchbrechen, handelt er situativ-evolutiv.

Steiner über das Zusammenspiel von moralischer Phantasie und moralischer Technik:

»Die moralische Phantasie muß, um ihre Vorstellung zu verwirklichen, in ein bestimmtes Gebiet von Wahrnehmungen eingreifen. Die Handlung des Menschen schafft keine Wahrnehmungen, sondern prägt die Wahrnehmungen, die bereits vorhanden sind, um, erteilt ihnen eine neue Gestalt.

Um ein bestimmtes Wahrnehmungsobjekt oder eine Summe von solchen, einer moralischen Vorstellung gemäß, umbilden zu können, muß man den gesetzmäßigen Inhalt (die bisherige Wirkungsweise, die man neu gestalten oder der man eine neue Richtung geben will) dieses Wahrnehmungsbildes begriffen haben. Man muß ferner den Modus finden, nach dem sich diese Gesetzmäßigkeit in eine neue verwandeln läßt. Dieser Teil der moralischen Wirksamkeit beruht auf Kenntnis der Erscheinungswelt, mit der man es zu tun hat. Er ist also zu suchen in einem Zweige der wissenschaftlichen Erkenntnis überhaupt. Das moralische Handeln setzt also voraus neben dem moralischen Ideenvermögen und der moralischen Phantasie die Fähigkeit, die Welt der Wahrnehmungen umzuformen, ohne ihren naturgesetzlichen Zusammenhang zu durchbrechen. Diese Fähigkeit ist moralische Technik. Sie ist in dem Sinne lernbar, wie Wissenschaft überhaupt lernbar ist. Im allgemeinen sind Menschen nämlich geeigneter, die Begriffe für die schon fertige Welt zu finden, als produktiv aus der Phantasie die noch nicht vorhandenen zukünftigen Handlungen zu bestimmen. Deshalb ist es sehr wohl möglich, daß Menschen ohne moralische Phantasie die moralischen Vorstellungen von andern empfangen und diese geschickt der Wirklichkeit einprägen. Auch der umgekehrte Fall kann vorkommen, daß Menschen mit moralischer Phantasie ohne die technische Geschicklichkeit sind und sich dann anderer Menschen zur Verwirklichung ihrer Vorstellungen bedienen müssen.« (GA 4, 1978, S. 193-194)

Wie man sieht, behauptet Steiner nirgends, das Handeln des Menschen »sei« nur reproduktiv. Von »Naturgesetzen« ist nicht im Hinblick auf die moralische Phantasie die Rede, sondern im Hinblick auf die «moralische Technik«, die Fähigkeit, Objekte der Wahrnehmungswelt umzuformen, ohne deren »gesetzlichen« Zusammenhang zu durchbrechen. Da durch das Handeln auch in soziale oder psychologische Zusammenhänge eingegriffen wird, spricht Steiner auch allgemein vom »gesetzmässigen Inhalt«, »der bisherigen Wirkungsweise«, der »Gesetzmäßigkeit« des jeweiligen Wahrnehmungsgebietes.

Ein konkretes Beispiel für dieses Zusammenspiel moralischer Fähigkeiten ist die Wirksamkeit Steiners im Rahmen der deutschen Sektion der Theosophischen Gesellschaft. Hier bemühte Steiner sich darum, seine moralischen Intuitionen einem sozialen Erscheinungsgebiet einzuprägen, ohne dessen gesetzmäßigen Zusammenhang zu durchbrechen: mit anderen Worten, den Inhalt der Anthroposophie im diskursiven und sozialen Rahmen der theosophischen Traditionen zu entfalten. Ergebnis ist jene allmähliche Transformation der theosophischen Tradition, die Zander so verwirrt, weil er die Bedeutung der situativen Immanenz, die handlungslogisch Steiners Freiheitsverständnis zugrunde liegt, nicht durchschaut. Was Steiner im 12. Kapitel der »Philosophie der Freiheit« an Überlegungen über die moralische Phantasie entwickelt, ist eine subtile Analyse des Zusammenspiels von Erkenntnis und Freiheit, die durch die Tätigkeit des Vermögens, das imstande ist, Ideen, Intuitionen zu individualisieren, miteinander in Einklang gebracht werden. Freiheit ist Handeln aus Liebe zum Objekt, ein Handeln, das das Objekt nicht vergewaltigt, sondern aus seiner Kenntnis heraus die Vorstellungen entwickelt, die dieses Objekt mit dem Intuitionsgehalt des Handelnden durchdringen.

Zander behauptet, in der »Philosophie der Freiheit« sei Nietzsche von der Peripherie ins Zentrum des Textes gerückt, sie sei »eine nietzeanisch verschärfte Dissertation«, nachdem er kurz zuvor noch verkündet hat, die »Philosophie der Freiheit« enthalte weder eine explizite noch eine implizite affirmative Bezugnahme auf Nietzsche.

S. 530 schreibt Zander:

»Insbesondere Nietzsche war von der Peripherie ins Zentrum des Textes gerückt. Man kann die ›Philosophie der Freiheit‹ als nietzscheanisch verschärfte und auf populärere Rezeption umgelegte Dissertation lesen. Daß Steiner, wie er am Tag nach dem Erscheinen der ›Philosophie der Freiheit‹ schrieb, ›vom Nietzscheanismus völlig unbeeinflußt‹ sei (GA 39,187), ist weder inhaltlich noch angesichts seiner biographischen Nähe zu Nietzsche nachvollziehbar.«

Auf S. 517 heißt es dagegen:

»Noch am 28. Januar 1893, als er an der ›Philosophie der Freiheit‹ saß, hatte er ja definitiv Nietzsche als pathologischen Geist eingestuft, und in der Ende dieses Jahres gedruckten ›Philosophie der Freiheit‹ findet sich kein expliziter (und auch kein implizit affirmativer) Bezug auf Nietzsche.«

Wie Steiner es angestellt haben soll, ohne auch nur einen impliziten affirmativen Bezug seine Freiheitsphilosophie »nietzeanisch zu verschärfen« und Nietzsche »ins Zentrum des Textes zu rücken«, bleibt Zanders Geheimnis.

Unter den mannigfaltigen Wandlungen, die Zander Steiner andichtet, ist auch die vom naturfrommen Platoniker über den individualistischen Anarchisten zum Atheisten, die nach 1897 stattgefunden haben soll. Das Schlusskapitel der »Philosophie der Freiheit« und »Goethes Weltanschauung« bezeugen dies angeblich.

Auf S. 535 schreibt Zander:

»Man kann die Kosmologie pantheistisch oder atheistisch denken, ohne seinen philosophischen Ansatz in zentralen Punkten zu verändern. Eben diesen Weg ist Steiner gegangen. Die einzelnen Stufen bedürften einer genauen Durchsicht der Quellen, aber mit dem Schlußkapitel der ›Philosophie der Freiheit‹ und mit ›Goethes Weltanschauung‹ von 1897 waren die Karten auf dem Tisch. Hier war Steiner ein überzeugter Anhänger Nietzsches wie Stirners und Nihilist.«

Man muss die Texte Steiners hochgradig verbiegen, um zu den Schlüssen zu kommen, die Zander zieht. Diese Schlüsse lassen sich durch eine unvoreingenommene Lektüre nicht verifizieren.

Schon in den »Grundlinien einer Erkenntnistheorie ...« hat »Gott«, »der Weltengrund«, Einzug in das menschliche Denken gehalten. Bereits diese Ansicht Steiners harmoniert mit der Feststellung Nietzsches, Gott sei tot. »Tot« ist der metaphysische Gott, das bloß erschlossene Jenseits, lebendig aber ist das Göttliche, das der Mensch in sich selbst in seiner ideenschöpferischen erkennenden Tätigkeit und seiner moralischen Produktivität erfährt und entfaltet.

Das ist die letzte Konsequenz der in den »Grundlinien« 1886 geäußerten Auffassung, »der Weltengrund« habe sich vollständig in die Welt ausgegossen, sich seines Eigenwillens begeben, um alles von des Menschen Willen abhängig zu machen (GA 2, 1979, S. 125).

Ähnlich formulieren die »Einleitungen in Goethes Naturwissenschaftliche Schriften« von 1887, »der Weltlenker« habe sich seiner Macht begeben, habe alles an den Menschen abgegeben, mit Vernichtung seines Sonderdaseins und dem Menschen die Aufgabe zuerteilt: »wirke weiter«:

»Der Weltlenker hat sich seiner Macht begeben, hat alles an den Menschen abgegeben, mit Vernichtung seines Sonderdaseins, und dem Menschen die Aufgabe zuerteilt: wirke weiter. Der Mensch findet sich in der Welt, erblickt die Natur, in derselben die Andeutung eines Tieferen, Bedingenden, einer Intention. Sein Denken befähigt ihn, diese Intention zu erkennen. Sie wird sein geistiger Besitz. Er hat die Welt durchdrungen; er tritt handelnd auf, jene Intentionen fortzusetzen. Damit ist die hier vorgetragene Philosophie die wahre Freiheitsphilosophie. Sie läßt für die menschlichen Handlungen weder die Naturnotwendigkeit gelten, noch den Einfluß eines außerweltlichen Schöpfers oder Weltlenkers. Der Mensch wäre in dem einen wie in dem andern Fall unfrei. (GA 1, Dornach 1973, S. 200.)

Was heißt »Vernichtung seines Sonderdaseins« anderes als: »Gott ist tot«?

Insofern ist schon der Goetheinterpret Steiner »Atheist«, weil er die außerweltliche Existenz Gottes, dessen transzendentes Sonderdasein verneint. Aber gleichzeitig ist das Göttliche in die Welt eingeflossen, es kommt nur darauf an, es zu suchen und zu finden. Da es nun im Menschen erscheint, wenn er es denn zur Erscheinung bringt, fällt diesem die Aufgabe zu, die Schöpfung schon im Erkennen und aus diesem folgend auch in seinem Handeln zu vollenden.

Was Steiner in seinem angeblichen Atheismus Ende der 1890er Jahre radikalisiert, ist diese Überzeugung von der ontologischen Dignität des menschlichen Erkennens. »Atheist« ist er nur insofern, als er die dogmatische Behauptung einer transzendenten Sonderexistenz des Göttlichen, wie sie von der Theologie bis heute verkündet wird, und all die damit verbundenen erkenntnispolitischen und moralischen Machtansprüche der Sachwalter dieses Transzendenten auf Erden bekämpft.

»Die Außenseite der Natur«, so Steiner in der ersten Auflage von »Goethes Weltanschauung« 1897, »lernt der Mensch durch die Anschauung kennen; ihre tiefer liegenden Triebkräfte enthüllen sich in seinem eigenen Innern als subjektive Erlebnisse ... Träte nie ein Mensch der Welt gegenüber, so käme diese zweite Hälfte nie zur  lebendigen Erscheinung, zum vollen Dasein. Sie wirkte zwar als verborgene Kräftewelt, aber es wäre ihr die Möglichkeit entzogen, sich in einer eigenen Gestalt zu zeigen. ... « (Goethes Weltanschauung, 1. Aufl., S. 45-47.)

Steiner rückt Goethes Weltanschauung 1897 sogar in eine vergleichbare Nähe mit der Erfahrungsart der Mystik. Aber während der Mystiker »die sinnliche Beobachtung und das vernunftgemäße Denken« in sich »abtötet« und »durch eine Steigerung des Gefühlslebens« die »wirkende Gottheit unmittelbar in sich« zu fühlen meint, schöpft »der Bekenner« Goethescher Weltanschauung gerade aus den beiden vom Mystiker verachteten Erkenntnisquellen. Er flüchtet sich nicht in abnorme Geisteszustände, sondern ist der Ansicht, dass die gewöhnlichen Verfahrensarten des Geistes »einer solchen Vervollkommnung« fähig sind, dass der Mensch »das Schaffen der Natur in sich erleben kann«. (GA 6, Goethes Weltanschauung, 1. Aufl., S. 60.)

Die Mystiker verachten die Klarheit der Ideen, sie halten sie für oberflächlich und kalt.

»Sie ahnen nicht, was Menschen empfinden, welche die Gabe haben, sich in die belebte Welt der Ideen zu vertiefen ... Wer von der Kälte der Ideenwelt spricht, der kann Ideen nur denken, nicht erleben. Wer das wahrhafte Leben in der Ideenwelt lebt, der fühlt in sich das Wesen der Welt in einer Wärme wirken, die mit nichts zu vergleichen ist. Er fühlt das Feuer des Weltgeheimnisses in sich auflodern«. (GA 6, Goethes Weltanschauung, 1. Aufl., S. 60-61.)

Was Steiner wohl meint, wenn er von der »belebten Welt der Ideen«, vom »Erleben der Ideen«, vom »wahrhaften Leben der Ideenwelt« im Menschen spricht? Wie sind solche Sätze mit der antimetaphysischen, »naturalistischen«, »atheistischen« »nihilistischen« Ausrichtung vereinbar, der Steiner angeblich in dieser Zeit verfallen ist? »Das Wirksame aller übrigen Dinge kommt im Menschen als Idee zur Erscheinung; das Wirksame im Menschen ist die Idee, die er selbst hervorbringt.« (GA 6, Goethes Weltanschauung, 1. Aufl., S. 77.) Der Erkenntnisprozess des Menschen ist eine Fortsetzung des Schöpfungsgeschehens, was in der Natur als kraftende Idee wirkt, den Sinnen jedoch nicht unmittelbar anschaubar ist, das bringt der tätige Geist des Menschen zur Erscheinung und verwirklicht es in seinem Handeln.

In all diesen Schilderungen des wahrhaften Lebens der Ideenwelt steckt mehr, als bloß ein naturalistischer Nominalismus oder Antiessentialismus. Im Gegenteil: der Essentialismus ist zur mystischen Erfahrung gesteigert, auch wenn diese rein in ideeller Form zum Ausdruck gebracht wird. Und für »atheistisch« kann man diese epistemische Ontologie nur halten, wenn man an jener transzendentalistischen Gottesidee festhält, die Steiner gerade überwinden wollte.

Unter dem Titel »Steiners Weg in die Theosophie« beschäftigt sich Zander auch mit dem Buch »Die Mystik im Aufgange des neuzeitlichen Geisteslebens und ihr Verhältnis zu modernen Weltanschauungen« von 1901. Angeblich soll dieses Buch belegen, dass Steiner im Herbst 1901 zu einer spiritualistischen Weltsicht »rekonvertiert« sei und die in den 1890er Jahren »atheistisch gedachte Welt« nun »spirituell reinterpretiert« hätte.

Seite 551-552 schreibt Zander:

»Im Vorwort (September 1901) sowie in der ›Einführung‹ und im ›Ausklang‹, also in den mutmasslich zuletzt geschriebenen Texten, finden sich die tagesaktuellen Positionen des in diesen Monaten zu einer spiritualistischen Weltsicht (re-) konvertierenden Steiner ...«

»Die für seine intellektuelle Biographie entscheidenden Neujustierungen liegen in der spirituellen Interpretation der Ende der 1890er Jahre noch atheistisch gedachten Welt.«

Dass Steiner die Welt in den 1890er Jahren nicht atheistisch gedacht hat, geht aus den weiter oben wiedergegebenen Zitaten hervor. Auf einige Passagen aus den »Grundlinien«, »Wahrheit und Wissenschaft«, der »Philosophie der Freiheit« und »Goethes Weltanschauung«, die von der erkenntnismystischen Vereinigung des Menschen mit der Essenz der Welt und der Wiedergeburt dieser Welt im Erkennen sprechen, sei hier wenigstens kurz hingewiesen. Von diesen her kann von einer »Respiritualisierung der Welt« nach 1900 ohnehin keine Rede sein. Die geistige Wiedergeburt der Dinge im menschlichen Erkennen ist ein zentrales Motiv der philosophischen Schriften bereits vor der Jahrhundertwende.

Die »Grundlinien« sprechen vom »Weltengrund«, der sich in die Welt vollständig ausgegossen hat, dessen »höchste Erscheinungsform das Denken des Menschen« ist (GA 2, 1979, S. 125), sie sprechen dem Menschen die Aufgabe zu, durch sein Erkennen den »Weltprozess«, das »Schöpfungswerk« zum Abschluss zu bringen, die »wahrste Gestalt der Natur«, die »letzte wahre Gestalt« in seinem Geist zur Erscheinung zu bringen (GA 2, 1979, S. 85). Im zweiten Band der »Einleitungen« 1887 bemächtigt sich das Denken der Idee und »verschmilzt« dadurch »mit dem Urgrunde des Weltendaseins«, mit dem es »auf seiner höchsten Potenz eins« wird. »Das Gewahrwerden der Idee in der Wirklichkeit ist die wahre Kommunion des Menschen.« (GA 1, 1973, S. 126). Für »Wahrheit und Wissenschaft« ist die Erkenntnis eine »Freiheitstat« des Menschen, ein »freies Erzeugnis des Menschengeistes«, das nicht Vorhandenes wiederholt, sondern ein neues Weltgebiet erzeugt, der Mensch ist durch sein Erkennen der »tätige Mitschöpfer des Weltprozesses«, sein Erkennen das »vollendetste Glied im Organismus des Universums« (GA 3, 1980, S. 11, 12.), in dem sich der »innerste Kern der Welt auslebt« (GA 3, 1980, S. 90). In der »Philosophie der Freiheit« stellt das Denken das Element dar, »das unsere besondere Individualität mit dem Kosmos zu einem Ganzen zusammenschließt«, indem der Mensch denkt, ist er das »all-eine Wesen, das alles durchdringt« (GA 4, 1978, S. 91). Er ergreift in seinem Denken das »gemeinsame Urwesen, das alle Menschen durchdringt«, »das mit dem Gedankeninhalt erfüllte Leben in der Wirklichkeit ist zugleich das Leben in Gott.« (GA 4, 1978, S. 250). »Goethes Weltanschauung« spricht davon, dass die Dinge durch den erkennenden Menschengeist »aus ihrer Verzauberung erlöst« werden (GA 6, 1. Aufl., S. 45-47).

Über die »Mystik im Aufgang des neuzeitlichen Geisteslebens ...« vermerkt Zander, dass zwar die meisten von Steiner behandelten Mystiker »Christen« seien. Aber die christliche Tradition spiele keine Rolle und der Begriff »Christus tauche« nur als »Referat« einer fremden Position auf.

Auf S. 552 schreibt Zander:

»Spezifisch christliche Positionen, die für Steiner später wichtig wurden, bleiben in dieser Schrift ephemer. Natürlich waren die meisten seiner ›Mystiker‹ Christen, aber im systematischen Kern seiner Argumentation kam Steiner ohne Referenzen auf die christliche Tradition aus; beispielsweise tauchte der Begriff ›Christus‹ nur als Referat einer fremden Position auf (vgl. GA 7,40).«

Das erste Kapitel der »Mystik« Rudolf Steiners setzt mit Hegel, Plotin und Proklus ein, nicht etwa mit Mahatmas, den Veden oder Upanishaden, wie man erwarten müßte, wenn Zanders These zuträfe, Steiner habe seine gesamte Theosophie aus der Lektüre der Adyar-Theosophie geschöpft. In diesem Kapitel wird Hegel als Gedankenmystiker eingeführt, der in seinem Denken ähnliche spirituelle Erfahrungen wie Meister Eckhart und Valentin Weigel durchlebt habe. Der Philosophe Spinoza wird mit der Überzeugung zitiert, die menschliche Seele besitze eine zureichende Erkenntnis vom ewigen und unendlichen Wesen Gottes. In diese Reihe philosophischer Mystiker gehörte nach Steiner auch Johann Gottlieb Fichte.

Was ist die Grundlage ihrer gedankenmystischen Erfahrung? Die Beobachtung der eigenen Denktätigkeit. Bei jeder anderen Art von Erkenntnis liege der Gegenstand außer uns, bei der Selbsterkenntnis stünden wir innerhalb des Gegenstandes. Die übrigen Gegenstände, so Steiner, träten uns fertig gegenüber, in unserem Selbst seien wir Schaffende, die das, was sie erzeugen, in sich selbst beobachten.

Steiner zieht in den folgenden Kapiteln Autoren der christlichen Mystikgeschichte heran, die eine analoge Erfahrung wie die von ihm beschriebene in den Vorstellungen ihrer Zeit zum Ausdruck gebracht haben. Er bezieht sich auf diese Autoren nicht als Quellen, aus denen er schöpft, er zieht sie heran, um an diesen Quellen die ihm selbst vertraute Erfahrung zu erläutern. Es geht ihm offenbar darum, eine Kontinuität von Erfahrungen zu verdeutlichen, die bis in den Anbruch der Neuzeit zurückgeht, will er doch zeigen, dass die mystische Erfahrung nicht im Widerspruch zur empirischen Methode der neuzeitlichen Naturwissenschaft steht. Und diese historische Kontinuität ist, entgegen Zanders These von der nicht vorhandenen christlichen oder abendländischen Ausrichtung, genuin abendländisch-christlich. Dabei weist Steiner strikt jede Form von Vorstellung des Geistes oder des Geistigen zurück, die nicht durch die Erfahrung abgedeckt ist, wobei Erfahrung im Sinne der »Grundlinien einer Erkenntnistheorie ...« die geistige Erfahrung des Denkens einschließt.

In diesem Sinne greift Steiner im folgenden Kapitel Meister Eckhart auf, der »durchglüht war von der Empfindung, dass im Geist des Menschen die Dinge als höhere Wesenheiten wiedergeboren werden«. (GA 7, 1. Aufl., S. 22.) Eckhart wollte dem Inhalt des Christentums nichts hinzufügen, »aber er wollte diesen Inhalt auf seine Art neu hervorbringen«.(GA 7, 1. Aufl., S. 22.) Diesen Satz kann man als programmatische Aussage deuten, die für Steiner selbst Gültigkeit besitzt. Auch er will in der »Mystik« dem Christentum nichts hinzufügen, sondern dessen Inhalt auf neue Art hervorbringen. So wendet er sich mit Eckhart gegen das Dogma der Offenbarung, das voraussetze, das Wesen der Dinge komme dem Menschen von außen zu, entweder durch übernatürliche Offenbarung (wie bei Thomas von Aquin) oder durch die Autorität der Kirche (wie bei Augustinus). Für Eckhart ist laut Steiner klar, dass Gott und Ich im Erkennen eins sind. (GA 7, 1. Aufl., S. 24.) Dieser Überzeugung liege die Erfahrung des »inneren Sinnes« zugrunde, jene Erfahrung des Denkens, die Steiner im Einleitungskapitel der »Mystik« beschrieben hat.

Aufgrund dieser Erfahrung kann Eckhart von der Geburt des Sohnes im Menschen sprechen. Der Sohn wird in Gott und in mir geboren. Gott, so Steiner, Eckhart zitierend, weiter, »ist Mensch geworden, dass ich Gott werde«. (GA 7, 1. Aufl., S. 24.) Eckhart unterscheide deutlich zwischen dem äußeren, sich auf die Sinne stützenden und dem inneren, durch Denkerfahrung erweckten Menschen. Diesem letzteren ist klar, dass das Wesen der Dinge der äußeren Sinneserfahrung nicht zugänglich ist. Denn die Sinne sind physikalische Apparate. Ihre Funktion besteht darin, den geistigen Inhalt der Erfahrung zu unterdrücken, damit der Mensch durch sein Denken diesen geistigen Inhalt zur Sinneserfahrung hinzufügen kann.

Was aus der kurzen Analyse der ersten Auflage der »Mystik« hervorgeht, ist, dass Steiner bereits vor seiner Übernahme des Amtes als Generalsekretär vor dem theosophischen Publikum eine Form von Theosophie, Gottesweisheit, vortrug, die ganz an abendländische Traditionen anknüpfte. Steiner hat seine Gottesweisheit nicht erst durch die theosophische Literatur aufgenommen, wie Zander mutmaßt, sondern bereits vorher ausgebildet. Er vertrat bereits 1901 eine christliche Theosophie, für die das Erleben des Göttlichen im Menschen, des Christus in der menschlichen Seele, zentral war. Insofern behauptete Steiner später in seinem »Lebensgang« völlig zu Recht, dass »niemand im Unklaren darüber« bleiben musste, dass er nur die Ergebnisse seines eigenen forschenden Schauens vorzutragen und was für eine Form von Theosophie er zu vertreten gedachte.