Zander behauptet, der Begriff »Christus tauche« in der Mystik im Aufgang ...« nur als »Referat« einer fremden Position auf.

Auf S. 552 schreibt Zander:

»... beispielsweise tauchte der Begriff ›Christus‹ nur als Referat einer fremden Position auf (vgl. GA 7,40).

Im Kapitel über Jacob Böhme steht der Satz, von dem Zander behauptet, in ihm tauche Christus bloß als Referat einer fremden Position auf.

Steiner sagt hier im Hinblick auf die protestantischen Theosophen Valentin Weigel und seine Vorgänger Sebastian Frank und Caspar Schwenckfeldt: »Ihnen ist nicht der Jesus wertvoll, den das Evangelium predigt, sondern der Christus, der in jedem Menschen als dessen tiefere Natur geboren werden kann, und der ihm Erlöser vom niederen Leben und Führer zu idealer Erhebung sein soll.« (GA 7, 1. Aufl., S. 94.)

Aus dem ganzen Verlauf der Darstellungen des Buches ist ohne weiteres klar, dass dieser Christus, der in jedem Menschen als dessen tiefere Natur geboren werden kann, mit dem »Allgeist«, dem »Kern der Welt«, dem »Urwesen«, dem »Sohn«, dem »höheren Wesen« gleichzusetzen ist, von dem Steiner auf den vorangehenden 93 Seiten als jenem geistigen Wesen gesprochen hat, zu dessen Erleben die Erfahrung der Erweckung führt.

Es ist der mystische Christus, nach dem die protestantischen Theosophen gesucht haben, von dem Steiner in seinem Buch über das »Christentum als mystische Tatsache« ausführlicher sprechen wird. Insofern handelt es sich um eine Schlüsselstelle des ganzen Buches. Es ist ebenso klar, dass Steiner hier wiederum auf historische Vorläufer hinweist, die dieselbe Erfahrung gesucht haben, auf die er sich fortlaufend als seine eigene beruft.

Angesichts dieser Tatsache erscheint es höchst willkürlich, wenn Zander behauptet, »Christus« tauche hier bloß als Referat einer fremden Position auf.

Jesus kommt laut Zander im »Christentum als mystische Thatsache« von 1902 keine »besondere« Stellung zu. Er sei lediglich ein Eingeweihter »unter vielen«.

Auf S. 554 schreibt Zander:

»Die entscheidende Pointe ist allerdings der Graben zu Steiners späterer theosophischer Absolutheitsposition ›des Christus‹: Jesus, nicht ›der Christus‹ (wie Steiner meist sagte) firmierte im Herbst 1902 als Eingeweihter, und zwar signifikanterweise als einer unter vielen.«

Das Christentum wird von Steiner im »Christentum als mystische Tatsache« 1902 als historischer Gipfelpunkt einer langen Mysterienentwicklung dargestellt. »Jesus Christus« erscheint in dieser Entwicklungsreihe als »einzig-großer Initiierter«.

Steiner vergleicht Buddha und Jesus, die beide den archetypischen Lebenslauf des Initiierten durchlebt haben, der in gebräuchlichen traditionellen Formen geschildert wurde. Beide Lebensläufe verlaufen parallel, von der Verkündigung bis zu Versuchung und Verklärung. Der Tod Buddhas entspricht der Verklärung Jesu. Buddha endet als »Lichtkörper«. Der wichtigste Teil im Leben Jesu: Leiden, Sterben und Auferstehung, beginnt aber erst mit dieser von Buddha erreichten Stufe. »Das Jesus-Leben enthält mehr als das Buddha-Leben.« (GA 8, 1. Aufl. 1902, S. 60 f.) Buddha gelangt auf eine Stufe, wo das göttliche Licht in ihm zu leuchten beginnt, er wird zum »Weltlicht« und stirbt. Jesus hingegen geht über Buddha hinaus. Durch sein Leiden und Sterben betritt er eine höhere Stufe der Initiation. Er stirbt, ohne dass das Weltlicht, das Geistige verschwindet. Er aufersteht. Er tritt »als Christus« vor seine Gemeinde. Buddha zerfließt in das »selige Leben des Allgeistes«, Jesus »erweckt diesen Allgeist noch einmal in menschlicher Gestalt ins gegenwärtige Dasein.« (S. 86)

Das »Christentum als mystische Tatsache ...« 1902 schildert den Weg, der von Buddha zu Christus führt. Er schildert, wie die Initiation Jesu über jene des Buddha hinausgeht, indem das »Wort« nicht nur die Seele Jesu durchklärt (astrales Weltlicht), sondern auch sein Fleisch (göttliches Leben). Der Logos wird in Jesus Fleisch: er durchdringt mit seinem Leben das  Leben und den Leib Jesu. Der Sohn Gottes wird in Jesus nicht nur in dessen Seele geboren, sondern auch in dessen Leib.

Darüber hinaus schildert Steiner im »Christentum als mystische Thatsache« drei unterschiedliche Dimensionen der Kreuzigung: eine makrokosmische, die in den griechischen Mysterien erlebt wurde, bei der das Welten-Ich auf das Kreuz des Kosmos gespannt wurde und die Gottheit sich in die Schöpfung opferte, eine mystische, die dieses kosmische Gottesopfer nachvollzog und schließlich die historische Kreuzigung.

In dieser dreifachen Unterscheidung liegt der Entwurf einer Christologie, die Darstellung der Entwicklungsstufen des Logos, der Weltseele, des Sohnes in ihrer schrittweisen Annäherung an die Menschheit. Sie durchdringt erst als Weltseele die Schöpfung des Vaters und ist in dieser kosmogonisch ausgebreitet, sie zieht sich als wiedergeborener Logos in der Seele des ägyptischen und griechischen Mysten mikrokosmisch-abbildlich zusammen, um prophetisch auf die Fleischwerdung vorauszuweisen. Sie wird in Jesus Fleisch und aufersteht in diesem, um der ganzen Menschheit einen Weg zur Erweckung des Logos-Christos auf mystischem Wege zu weisen.

Blickt man auf den ganzen Gedankengang des »Christentums als mystische Tatsache ...« von 1902, dann wird deutlich, dass Steiner nicht nur dem »Eingeweihten« Jesus, der »den Christus in sich gebracht« hatte, entgegen der Meinung Zanders, eine »einzig-große« Stellung zuwies, sondern dass er darüber hinaus auf die eine oder andere Weise auch die gesamte Mysterienentwicklung des Altertums in das Christentum münden ließ: das exoterische leitete diese Entwicklung auf die historische Kreuzigung ab, das esoterische leitete aus ihr einen Weg der mystischen Einweihung her, der nicht nur von ihr ausging, sondern zugleich zu ihr hinführte.

Das Christentum ist so oder so der entscheidende Wendepunkt in der Mysteriengeschichte, ja der Menschheitsgeschichte.

Steiner soll laut Zander seine Vorstellung von den Eingeweihten aus theosophischer Literatur übernommen haben, besonders aus den Büchern von Edouard Schuré. Aus Schurés »Sanctuaires d’ Orient« (»Heiligtümer des Orient«) soll Steiner allerdings nur zwei aus einer ganzen Reihe von Eingeweihten in sein Buch »Das Christentum als mystische Thatsache« aufgenommen haben, nämlich Plato und Jesus.

Auf S. 555 schreibt Zander:

»Schuré nannte zwar unter den Eingeweihten andere Exponenten (Rama, Krishna, Hermes, Moses, Orpheus, Pythagoras, Platon und Jesus ...) als Steiner, der aus dieser Reihe nur Platon und Jesus aufnahm (GA 8, passim), aber die Geschichtskonstruktion, die Geistesgeschichte als Entwicklung zu lesen, an deren Knotenpunkten große Eingeweihte stehen, ist identisch.«

Was ist das für eine Übernahme, wenn sich von einer Reihe von acht Eingeweihten nur zwei bei Steiner finden? Es ist völlig willkürlich, von einer Beeinflussung durch Schuré zu sprechen, wenn Steiner nur Plato und Jesus als Eingeweihte betrachtet. Es ist wohl auch kaum anzunehmen, dass Steiner Plato und Jesus erst durch Schuré kennengelernt hat. Es ist vollends grotesk, wenn man all die Eingeweihten berücksichtigt, von denen im »Christentum als mystische Tatsache« tatsächlich die Rede ist.

Kennt Steiner nur Plato und Jesus als Eingeweihte? Ein Blick in das »Christentum als mystische Thatsache« belehrt eines besseren.

Die Reihe der Initiierten eröffnet Plutarch (GA 8, 1. Aufl. 1902, S. 8) auf ihn folgen Menippus und Aristides (S. 8), Plato und Sophokles (S. 9), Cicero (S. 20), Heraklit (S. 26), Empedokles (S. 34), Pindar (S. 35), Pythagoras (S. 36).

Eine zentrale Rolle spielt Plato als Mystiker, dem ein ganzes Kapitel gewidmet ist (S. 40-57). Die Reihe setzt sich fort mit Solon (S. 49), Sallust (S. 49), Plotin (S. 61) und Goethe (S. 66).

Der Gedankengang wendet sich dann den ägyptischen Mysterien zu, es werden keine Personen mehr genannt, sondern seelisch-geistige Wandlungsprozesse unter Berufung auf das »Ägyptische Totenbuch« in der Ausgabe von Lepsius (1842) beschrieben. Weiter geht es zum Christentum, den Evangelien und der Apokalypse als Schriften, die von Eingeweihten verfasst wuden und den essenischen Eingeweihten, aus deren Reihen Jesus als »einzig-großer« Eingeweihter hervorgegangen ist.

Die einzige indische Gestalt, die im »Christentum« von 1902 eine Rolle spielt, ist Buddha, dem auf S. 63-64 ein Gleichnis zugeschrieben wird, das vom Aufstieg der Seele zum Göttlichen spricht und dessen in archetypischen Formen beschriebenes Eingeweihtenleben im Kapitel über die ägyptische Mysterienweisheit mit den archetypischen Schilderungen des Jesuslebens verglichen wird (S. 82-87).

Steiner hat laut Zander den »Reinkarnationskomplex« »über hinduistische Vorstellungen« aufgenommen und dies erst nach der Veröffentlichung des »Christentum als mystische Tatsache« 1902. Die Reinkarnation fehle auch dem Terminus und der Sache nach im »Christentum als mystische Tatsache« von 1902.

Auf S. 556 schreibt Zander:

»Der Bezug auf die Upanischaden dokumentiert ..., daß Steiner den Reinkarnationskomplex über hinduistische Vorstellungen, vermittelt wohl durch die Theosophie, kennenlernte. Seine späteren Behauptungen, den Zugang zur Reinkarnationsvorstellung über europäische Autoren gewonnen zu haben ..., sind im Licht dieser Passage als sekundäre Traditionskonstruktion zu bewerten.«

Auf derselben Seite in Anmerkung 35:

»Die Reinkarnation als Terminus wie als Sache fehlte 1902 auch in dem Buch ›Das Christentum als mystische Thatsache‹.«

Der Befund, der sich aus einer Lektüre des «Christentums als mystische Tatsache« von 1902 ergibt, zeigt etwas ganz anderes.

Das »Christentum als mystische Tatsache« von 1902 spricht über Reinkarnation und »Karma« in Anknüpfung an die griechischen Mysterien, an die Pythagoräer, an Plato und die Essäer, nicht an indische Überlieferungen.

Der Myste, der in die griechischen Mysterien eingeweiht war, durfte sich sagen: »Ich habe in mir ein höheres ›Ich‹ entdeckt, aber dieses ›Ich‹ reicht hinaus über die Grenzen meines sinnlichen Werdens; es war vor meiner Geburt, es wird nach meinem Tode sein. Geschaffen hat dieses ›Ich‹ von Ewigkeit; schaffen wird es in Ewigkeit. Meine sinnliche Persönlichkeit ist ein Geschöpf dieses ›Ich‹. Aber es hat mich eingegliedert in sich; es schafft in mir; ich bin sein Teil ... Einen Dämon nannten die Mysten die Kraft, die also in ihnen aufleuchtete. Sie waren das Ergebnis dieses Dämons ... Es war ein Wesen, das zwischen ihnen, als sinnlichen Persönlichkeiten, und zwischen der allwaltenden Weltenkraft, der Gottheit, stand.« (GA 8, 1. Aufl. 1902, S. 19.)

Heraklit sprach über diesen Dämon: »Dass ein Zeitliches wie ein Ewiges wirkt, dass es treibt und kraftet wie ein Ewiges: das ist das Eigentümliche der Menschenseele. ... Dieses Treibende und Kraftende ist sein Dämonisches ... Schlagend hat Heraklit auf diese Tatsache hingewiesen: ›Des Menschen Dämon ist sein Schicksal‹. So erweitert sich für Heraklit das, was im Menschen lebt, weit über das Persönliche hinaus. Dieses Persönliche ist der Träger eines Dämonischen. Eines Dämonischen, das nicht in die Grenzen des Persönlichen eingeschlossen ist, für welches Sterben und Geborenwerden des Persönlichen keine Bedeutung haben. Was hat dieses Dämonische mit dem zu tun, was als Persönlichkeit entsteht und vergeht? Eine Erscheinungsform nur ist das Persönliche für das Dämonische. Vorwärts und rückwärts fängt der Träger solcher Erkenntnis über sich selbst hinaus zu blicken an. Dass er Dämonisches in sich erlebt, ist ihm Zeugnis für die Ewigkeit seiner selbst. Und er darf jetzt nicht mehr diesem Dämonischen den einzigen Beruf zuschreiben, seine Persönlichkeit auszufüllen. Denn nur eine von diesen Erscheinungsformen des Dämonischen kann das Persönliche sein. Der Dämon kann sich nicht innerhalb einer Persönlichkeit abschließen. Er hat Kraft, viele Persönlichkeiten zu beleben. Von Persönlichkeit zu Persönlichkeit vermag er sich zu wandeln. Der große Gedanke der Seelenwandelung springt wie etwas Selbstverständliches aus den heraklitischen Voraussetzungen. Aber nicht allein der Gedanke, sondern die Erfahrung von dieser Wandelung ...«

Man darf sich durch die eigentümliche Wortprägung (»Seelenwandelung«) nicht irritieren lassen: das, wovon Steiner hier spricht, ist jedenfalls »der Sache nach« zweifellos die Reinkarnation.

Der Terminus Seelenwandelung ist lediglich eine Übersetzug des griechischen Ausdrucks »Metempsychosis«, dem begrifflichen Äquivalent des lateinischen »reincarnatio«.

Darauf deutet auch die Tatsache, dass der (bisher unveröffentlichte) Vortrag vom 23.11.1901, der diesem Kapitel zugrunde liegt, diese Anschauungen den Pythagoräern zuspricht und eindeutig von der »Reinkarnationsanschauung« der Pythagoräer redet.

Wörtlich heisst es in diesem Vortrag: »Es wird also etwas reinkarniert, das zwischen der Persönlichkeit – zu der die Sinnlichkeit gehört – und der Geistigkeit ist – zu der die Sinnlichkeit nicht mehr gehört ... Es wird der Anhänger des Pythagoräismus, wenn er Umschau hält ... im Bewusstsein nicht stehen bleiben dürfen bei der Persönlichkeit, sondern er wird übergreifen müssen zu anderen Individualitäten. Er wird innerhalb einer einzelnen Persönlichkeit nicht alles das finden können, was als Wesen in der Persönlichkeit lebt. Er wird finden, der Mensch ist aus sich selbst nicht erklärbar. Nur dann, wenn er gegenüber der Einzelheit, der Persönlichkeit ... annimmt, dass die Individualität bleiben kann, sich inkarnieren kann in anderen Einzelheiten, so dass für die Individualität eine Reihe von Entwicklungsstufen, eine Reihe solcher Persönlichkeiten in Betracht kommt, wird er die Erklärung finden. Und hier haben sie auch die Form, welche bei den Pythagoräern der [Re-]Inkarnationsgedanke erhalten hat.« (Unveröffentlichtes Manuskript).

Steiner fährt in der Buchfassung von 1902 fort und entwickelt den Gedanken der geistigen Selbstvererbung, den er 1904 im Kapitel über Wiederverkörperung und Schicksal der »Theosophie« wieder aufgreift. Schließlich führt er die Anschauung von den Persönlichkeiten, die am Dämon, dem Ewigen des Menschen in aufeinander folgenden Inkarnationen arbeiten, in den Gedanken des Schicksals oder Karma über: »Wer das Dämonische in sich gewahr wird, findet es nicht als ein unschuldvolles erstes vor. Er findet es mit Eigenschaften. Wodurch hat es diese? Warum habe ich Anlagen? Weil an meinem Dämon schon andere gearbeitet haben. Und was wird aus dem, was ich an dem Dämon wirke, wenn ich nicht annehmen darf, dass dessen Aufgaben in meiner Persönlichkeit erschöpft sind? Ich arbeite für eine spätere Persönlichkeit vor. Zwischen mich und die Welt-Einheit schiebt sich etwas, was über mich hinausreicht, aber noch nicht dasselbe ist wie die Gottheit. Mein Dämon schiebt sich dazwischen. Wie mein Heute nur das Ergebnis von Gestern ist, mein Morgen nur das Ergebnis von Heute sein wird: so ist mein Leben Folge eines andern, und es wird Grund sein für ein anderes. Wie auf zahlreiche Gestern rückwärts, und auf zahlreiche Morgen vorwärts der irdische Mensch, so blickt die Seele des Weisen auf zahlreiche Leben in der Vergangenheit, und zahlreiche Leben in der Zukunft. Was ich gestern erworben habe, an Gedanken, an Fertigkeiten, das benütze ich heute. ... Soll der vollkommene Geist ebensolche Voraussetzungen haben wie der unvollkommene? ... Geworden ist der Geist wie der Leib. Der Dämon in Goethe hat mehr Vorfahren als der in dem Wilden.« (GA 8, 1. Aufl. 1902, S. 31-33.)

Auch in der Buchfassung der Vorträge schreibt Steiner den Pythagoräern ein Wissen vom Ewigen in der Menschenseele zu, das sich nicht in der einzelnen Persönlichkeit erschöpfe, sondern über diese hinausgreife. (GA 8, 1. Aufl. 1902, S. 38.)

Vollends unverständlich sind Zanders Erzählungen, wenn man an die Behandlung Platos im »Christentum als mystische Tatsache« 1902 herantritt, der natürlich ebenfalls die Auffassung der Reinkarnation gelehrt hat, auf die Steiner im Kapitel »Die Mysterienweisheit und der Mythos« auch zu sprechen kommt. Vom Ewigen in der Seele des Menschen redet der »Phaidros«. Dort, wo Plato über das Ewige spricht, das sinnlich nicht wahrnehmbar ist, bedient er sich des mythischen Bildes, wie etwa des Bildes vom Seelengespann, das von zwei Pferden gezogen wird. Einige Seelen, so Steiner, erheben sich zur Ewigkeitsschau, andere nicht. Die ersteren bleiben unversehrt bis zum nächsten Umzug, die anderen müssen es mit einem neuen Umzug versuchen: »Mit diesen Umzügen« kommentiert Steiner, «sind die verschiedenen Seelenwandlungen gemeint. Ein Umzug bedeutet das Leben der Seele in einer Persönlichkeit ... Plato greift zum Mythos, um den Weg der ewigen Seele durch die verschiedenen Wandelungen hindurch darzustellen.« (GA 8, 1. Aufl. 1902, S. 63.)

Auch Plato lehrt also die »Seelenwandelung«, die »Reinkarnation«, die Entstehung verschiedener, aufeinander folgender Persönlichkeiten aus der ewigen Geist-Seele des Menschen.

Auch die griechischen Mythen und Mysterien lehrten nach Steiners Auffassung die Reinkarnation. Dies zeigt er am Demeter-Persephone-Mythos der Eleusinien. Was abwechselnd in der Unterwelt und der Oberwelt ist (Persephone), das ist die Seele des Menschen. »Die Ewigkeit der Seele, und deren ewige Verwandlung durch Geburt und Tod hindurch, wird symbolisiert.« (GA 8, 1. Aufl. 1902, S. 76.)

Die Seele stammt vom Unsterblichen, von Demeter, aber sie wurde vom Vergänglichen (Hades) entführt und ist zur Anteilnahme am Schicksal des Vergänglichen bestimmt worden. Sie ist mit dem Vergänglichen gesättigt, weil sie den Granatapfel genossen hat und kann daher nicht dauernd in den Höhen des Göttlichen wohnen. »Sie muss immer wieder zurück ins Reich der Vergänglichkeit.« (GA 8, 1. Aufl. 1902, S. 76.)

Der Befund ist eindeutig: Nach Steiners Deutung der antiken Mysterien, war es der Sinn der Mysterieneinweihung, aller Mysterieneinweihung, das Bewusstsein und die Erfahrung von dem Ewigen in der Menschenseele zu erwecken, das über die einzelnen Persönlichkeiten hinausgreift und sich nicht in diesen erschöpft. Das gilt auch für die ägyptischen Mysterien, die ebenso das Bewusstsein von diesem Ewigen im Mysten hervorriefen, es gilt von den Essäern, die den historischen Hintergrund des Jesus bildeten, für deren ganze Lebensführung der Gedanke von der Seelenwandelung, der Reinkarnation, eine notwendige Voraussetzung bildete (GA 8, 1. Aufl. 1902, S. 119.), und es gilt selbst vom Christentum, von der Einweihung, die Jesus an Lazarus vollzog, ganz zu schweigen von Jesus, dem »einzig-großen« Initiierten selbst. Insofern war die Anschauung von der Reinkarnation die esoterische Wahrheit auch des Ur-Christentums. Letzteres ergibt sich als logische Konsequenz aus den ganzen Ausführungen Steiners, wenn er dies auch nicht explizit ausspricht.

Angeblich hat Steiner ein Buch Leadbeaters über die »Astral-Ebene« 1903 in der Zeitschrift Luzifer »positiv« besprochen. Seine Besprechung lasse nichts von seiner späteren Ablehnung Leadbeaters erkennen.

Auf S. 560 schreibt Zander:

»Wie intensiv sich Steiner mit ›geistigen‹ Welten beschäftigte, belegt die Rezension von Leadbeaters (im Juli bereits angezeigter) ›Astral-Ebene‹ im September 1903, in der er die Kenntnis von Astral- und Devachan-Ebenen, also des theosophischen Konzeptes der Zwischenzustände, dokumentierte. Zugleich ahnte Steiner, dass er sich mit seiner positiven Besprechung, die nichts von der späteren Abwertung Leadbeaters (vgl. GA 28,297) durchscheinen lässt, außerhalb der Theosophie diskreditierte.«

Steiner stand Leadbeater bereits 1902 kritisch gegenüber, wie man aus seinen Briefen an Hübbe-Schleiden entnehmen kann. (Siehe den Brief vom 16. August 1902 hier). Die Kritik, die Steiner 1903 in seiner Rezension an Leadbeater übt, übergeht Zander stillschweigend.

Steiner spricht in seiner Rezension zunächst über die Schwierigkeiten der Erkenntnis übersinnlicher Regionen: die Vorurteile, die man aus der sinnlichen Welt mitbringt, können die Beobachtungen färben, man sieht unter Umständen Dinge, die gar nicht vorhanden sind und andere, die vorhanden sind, sieht man nicht. Nach diesen allgemeinen Einleitungen, die auf Leadbeater gemünzt sind, heißt es weiter: »Leadbeaters Darstellung kann ... auf Vollständigkeit keinen Anspruch machen. Sein Blick ist durchaus nicht unbefangen. Man findet in seiner Schrift die Zustände nach dem Tode bevorzugt, während die Erscheinungen vor und während der Geburt des Menschen durchaus nicht eine ihnen gebührende Darstellung gefunden haben. ... Ebenso bleibt von Leadbeater ein Gebiet in der Astralregion ganz unberührt, das auf unserem sinnlichen Felde dem entspricht, was wir ›Geschichte‹ nennen. ... Manches Komplizierte wird von Leadbeater zu glatt und einfach dargestellt. Wichtige Aufschlüsse über Zusammenhänge unter den Lebewesen, die wir gewinnen können [kursiv, L.R.], fehlen ganz. Was über die Behandlung des sogenannten Humors ... durch die mittelalterlichen Forscher gesagt wird ... ist unrichtig.« (GA 34, S. 429f. – Die »Rezension« Steiners im vollen Wortlaut.)

Obwohl Steiner »die Liste des Fehlenden noch sehr vermehren« könnte, empfiehlt er Leadbeaters Buch dennoch seinen Lesern, weil es die übersichtlichste und »in gewisser Beziehung beste Schrift« über dieses Gebiet sei.