Auch im medizinischen Kontext geriert sich Zander als investigativer Journalist. Er enthüllt geheime Erwartungen und neue Zugeständnisse Steiners.

Auf S. 1491-1492 schreibt Zander über Steiners Vorträge Anfang Oktober 1920 über »Physiologisch-Therapeutisches auf Grundlage der Geisteswissenschaft«:

»Anfang Oktober 1920 machte Steiner in dem nächsten medizinischen Vortragsblock nach dem ersten Ärztekurs erneut deutlich, dass er zumindest als zuverlässig anthroposophisch eingestuften Ärzten bereit war, das Rednerpult zu überlassen. Hinter der kryptischen Eröffnungspassage in der Gesamtausgabe (›Der Vortragende ist noch nicht da. Ich hoffe, dass er bald kommt‹ [GA 314,11]) verbirgt sich Steiners Erwartung, dass Ludwig Noll die Eingangsvorträge halten würde:

›Der erste Vortrag von Dr. Noll sollte beginnen, alles war versammelt, aber Dr. Noll war nicht da. Man wartete – aber Dr. Noll kam nicht. Es war auch von ihm keine Nachricht eingetroffen. Plötzlich verbreitete sich irgendwie das Gerücht, dass Dr. Noll nun kommen würde und zwar durch den Westeingang. Alles erhob sich, Dr. Steiner ging durch den Mittelgang Dr. Noll freudig entgegen – aber es stellte sich heraus, dass es ein Missverständnis gewesen und dass kein Dr. Noll gekommen war. Nachdem eine halbe Stunde gewartet worden war, entschloss sich Dr. Steiner, selbst einen medizinischen Vortrag zu halten. … Wie mir gesagt wurde, traf nach dem Vortrag von Dr. Noll ein Telegramm ein, dass er am nächsten Tag zu seinem Vortrag kommen würde. Später kam noch ein zweites, das mitteilte, dass er überhaupt nicht kommen würde‹.[Zitiert nach Schmiedel, Aufzeichnungen]

Letztendlich scheiterte die kollegiale Einbeziehung von Ärzten. Die vielen Ärztekurse bestritt Steiner in den kommenden Jahren allein. Allerdings gibt es Indizien, dass er sich in dieser Rolle nur begrenzt wohlfühlte. Mehrfach meinte er, fast entschuldigend, nur ›aphoristisch‹ sprechen zu können200 und realisierte, dass seine Ausführungen manchmal ein ›buntes Allerlei‹ waren (GA 313,134). Den leidlich systematischen Bogen des ersten Ärztekurses hat Steiner später nicht mehr gespannt.«

Anmerkung 200: »Er wolle ›gewissermaßen aphoristisch auf einiges hindeuten‹ (GA 314,53 [9.10.1920]), trage leider ›nur kursorisch, aphoristisch‹ vor (ebd., 131 [27.10.1922]), es sei ›nur möglich, manches aphoristisch hier anzudeuten‹ (GA 316,121; vgl. auch 123 [9.1.1924]).«

Die Eröffnungspassage aus Steiners Vortrag vom 7. Oktober 1920 ist keineswegs kryptisch, Zander selbst zitiert ja die »Aufzeichnungen« Oskar Schmiedels, der den Hintergrund der vier Vorträge zum Thema »Physiologisch-Therapeutisches auf Grundlage der Geisteswissenschaft« vom 7. bis 9. Oktober 1920 schildert. Ludwig Noll, der eigentlich diese Vorträge halten sollte, erschien ohne Nachricht nicht zu seinem ersten Vortrag und entschuldigte sich später per Telegramm für alle seine weiteren Vorträge. Die Herausgeber von GA 314 kommentieren die angeblich kryptischen Sätze wie folgt:

»Vom 1. September bis 16. Oktober 1920 fanden nach der Eröffnung des ersten Goetheanumbaues in Dornach ›anthroposophische Hochschulkurse‹ statt. In diesen Kursen sollte nach dem Willen der Veranstalter (Verein Goetheanismus und Bund für anthroposophische Hochschularbeit) die geisteswissenschaftliche Arbeit auf verschiedenen Lebensgebieten durch verschiedene Redner öffentlich dargestellt werden.

Für die zweite Woche der Kurse war eine Vortragsreihe von Dr. med. Ludwig Noll, Kassel, vorgesehen mit dem Thema ›Physiologisch-Therapeutisches auf Grundlage der Geisteswissenschaft‹. Unerwartet war Dr. Noll im letzten Augenblick verhindert, nach Dornach zu kommen. An seiner Stelle übernahm es Rudolf Steiner, in vier Vorträgen über das angekündigte Thema zu sprechen.« (GA 314, Dornach 1989, S. 327)

Steiner musste also, nachdem das versammelte Publikum eine halbe Stunde vergeblich auf den Vortragsredner gewartet hatte, selbst die geplanten Vorträge halten. Allein aus dieser Tatsache erklären sich seine wiederholten Hinweise auf den »aphoristischen« Charakter seiner Ausführungen und es ist auch nicht verwunderlich, dass diese Vorträge nicht »so leidlich systematisch« sind, wie Zander süffisant bemerkt. Aber selbst Steiners wiederholte Hinweise auf den aphoristischen Charakter seiner Darstellungen haben einen anderen Sinn, als den von Zander unterstellten. Sie dokumentieren nicht, dass er sich in seiner Rolle »nur begrenzt« wohlfühlte, oder sich wegen eines subjektiv bedingten Unbehagens gedrungen fühlte, sich zu entschuldigen oder dass er trotz seiner Verblendung irgendwann doch »realisierte«, dass er »nur ein buntes Allerlei« bot.

Um dies einzusehen, reicht es, die eine oder andere der von Zander zitierten Belegstellen im Kontext nachzulesen. Zu Beginn seines letzten Vortrags, am Abend des 9. Oktober, bemerkt Steiner:

»Heute Abend möchte ich Ihnen noch einzelne Ergänzungen geben zu jenen Vorträgen, die ich in diesen Tagen hier unfreiwillig habe halten müssen. Ich möchte gewissermaßen aphoristisch auf einiges hindeuten, das doch aufklärend noch wirken kann auf dasjenige, was als Prinzipien für eine Befruchtung gerade des medizinisch-therapeutischen Studiums durch die Geisteswissenschaft dienen kann. Es wird ja selbstverständlich aus den Gründen, die ich schon heute morgen angedeutet habe, nicht sehr in Details eingegangen werden können, nicht so sehr wegen der Kürze der Zeit – das auch natürlich –, sondern vor allen Dingen darum, weil dennoch die Detailerkenntnisse einer eigentlichen fachlichen Auseinandersetzung vorbehalten werden müssen, wiederum aus den Gründen, die ich schon heute morgen vorgebracht habe. Jedoch möchte ich gerade nach dieser Richtung hin einiges noch beitragen, welches zum allgemeinen Verständnis des medizinischen Wesens führen kann, so dass gerade eine Art sozialer Wirkung aus diesem Teile geisteswissenschaftlich medizinischer Betrachtung hervorgehen kann, nämlich die Begründung eines gewissen Vertrauens zwischen Publikum und Ärzteschaft. Je besser das Verständnis sein wird, das man dem medizinischen Wesen wird entgegenbringen können, desto besser wird auch dieses medizinische Wesen wirken können.« (GA 314, S. 53)

Auch die Rede vom »bunten Allerlei« ist nicht etwa Ausdruck dafür, dass Steiner sein eigenes Ungenügen »realisiert« und zugestanden hätte. Steiner leitet den vorletzten Vortrag der Reihe »Geisteswissenschaftliche Gesichtspunkte zur Therapie« nämlich mit dem Satz ein:

»Es wird heute ein buntes Allerlei sein, was ich zu demjenigen, was auch mit Rücksicht auf unsere Heilmittel gesagt worden ist, noch an mannigfaltigstem eben hinzufügen möchte.« (GA 313, Vortrag vom 18. April 1921, Dornach 1984, S. 134) Zur bereits ausgebreiteten Fülle des Stoffe und der Vielfalt der Gesichtspunkte kommt also noch einiges Mannigfaltige hinzu.

Sein Unverständnis grundlegender Begriffe der Anthroposophie projiziert Zander auch in Steiners Ausführungen zur Medizin hinein. So postuliert er auch hier, wie an anderen Orten, bei Steiner einen krassen Materialismus, weil er Steiners spirituelle Deutung körperlicher Vorgänge nicht zu denken vermag.

Auf S. 1495 schreibt Zander:

»Der geborene Gegner der geistigen Medizin war der Materialismus ... Doch neben Steiners konfessorischem Antimaterialismus stand seine prinzipielle Akzeptanz der empirischen Medizin, wodurch er sich an wesentliche Elemente ihrer Konzeption band. So ist bei vielen, etwa psychischen Erkrankungen, deutlich, dass der Schatten des Materialismus länger war, als Steiner ihn wahrhaben wollte.

... Als Grund für Hysterie gab er 1920 ›das zu große Selbständigwerden der Stoffwechselprozesse‹ an (GA 312,41), wenngleich, wie er einen Tag später ergänzte, ›unter den etwas ferneren Ursachen der Hysterie auch seelische Ursachen liegen‹ (ebd., 58). ...  Und 1920 äußerte er die Überzeugung, ›der menschliche Wille‹ sei ›von Leber, Milz und den anderen Unterleibsorganen … gestützt‹. Folgerichtig ›muss‹ die ›Geisteswissenschaft‹ bei Geisteskrankheiten zur ›physischen Behandlung‹ führen, während bei physischen Erkrankungen ›das Seelische‹ mitwirken solle (GA 312,378). Die Zuspitzung auf physische Faktoren bei Geisteskrankheiten ergibt zwar den schönen Chiasmus, dass körperliche Krankheiten geistig und geistige Krankheiten körperlich behandelt werden sollen, aber die rhetorische Figur verdeckt nicht die materialistische Dimension in Steiners Erläuterung. ...

Steiner suchte letztlich nach einem ganzheitlichen, Körper, Seele und Geist umgreifenden Modell. Indem er aber die empirische und geistige Medizin jeweils ohne Abstriche in seine Konzeption zu integrieren suchte, trat neben den dominierenden Spiritualismus in Einzelfragen immer wieder ein krasser Materialismus.«

Zander unterstellt, wenn auf das Zusammen- und Ineinanderspiel geistiger, seelischer und körperlicher Vorgänge hingewiesen wird, stets »Materialismus«. Wenn Steiner einen Zusammenhang zwischen »Stoffwechselvorgängen« und »Hysterie« postuliert, wittert Zander den »Schatten des Materialismus«. Die Frage ist, ob Stoffwechselvorgänge aus Steiners Sicht »rein materiell« sind oder ob er seelische Vorgänge auf materielle Prozesse »reduziert«, was erforderlich wäre, um von Materialismus sprechen zu können. Natürlich ist dies nicht der Fall. Stoffwechselvorgänge sind die geistigsten Prozesse im menschlichen Organismus überhaupt: »Im Stoffwechsel- und Gliedmaßensystem hat man, wenn man diese in voller Aktion, in der Entfaltung ihrer notwendigen oder möglichen Verrichtungen betrachtet, ein sinnlich-übersinnliches Bild des rein übersinnlichen Intuitiven.« (GA 26, Dornach 1998, S. 29) Hinter diesem rein übersinnlichen Intuitiven verbirgt sich wiederum die höchste der himmlischen Hierarchien, die Seraphim, Cherubim, und Throne. In meditativer Form ausgedrückt:

»Menschenseele!
Du lebest in den Gliedern,
Die dich durch die Raumeswelt
Im Geistesmeereswesen tragen:

Übe Geist-Erinnern
In Seelentiefen,
Wo in waltendem
Weltenschöpfer-Sein
Das eigne Ich
Im Gottes-Ich
Erweset;

Und du wirst wahrhaft leben
Im Menschen-Welten-Wesen.

Denn es waltet der Vater-Geist der Höhen
In den Weltentiefen Sein-erzeugend.

Seraphim, Cherubim, Throne,
Lasset aus den Höhen erklingen,
Was in den Tiefen das Echo findet;

Dieses spricht:
Ex deo nascimur.

Das hören die Elementargeister
Im Osten, Westen, Norden, Süden:
Menschen mögen es hören.«

(GA 233, Dornach 1991, S. 159-160)

Vergleichbares gilt für sogenannte Organprozesse, etwa die Prozesse, die sich in der Leber oder der Milz abspielen, die für Steiner selbstredend nicht nur eine materielle, sondern auch eine seelisch-geistige Seite haben. Der menschliche Wille, der sich auf Leber, Milz oder andere Unterleibsorgane stützt, ist deswegen nicht »materiell«, ebensowenig wie diese Organe »materiell« sind.

Zander dürften Anschauungen bekannt sein, wie Steiner sie in seinen Prager Vorträgen zur »Okkulten Physiologie« 1911 entwickelt hat, da er diese Vortragsreihe en passant erwähnt:

»Nun sprechen wir ..., wenn wir im Sinne unserer Geisteswissenschaft von solchen Organen sprechen wie Milz, Leber, Galle, Nieren, Lungen und so weiter, ... zunächst gar nicht von dem, was man physisch sehen kann, sondern wir bezeichnen damit die in diesen Organen wirkenden Kraftsysteme, die übersinnlicher Natur sind. ... Wie haben wir uns nun das Verhältnis dieses übersinnlichen Kraftsystems zu dem, was sinnliche Materie ist, zu denken?

Ich glaube, es wird Ihnen nicht schwierig werden, zu denken, dass Kräfte durch den Raum gehen können, welche zunächst nicht sinnlich anschaubar sind.

Man braucht sich nur an folgendes zu erinnern: Wer zum Beispiel niemals etwas von der Realität der Luft in einer von Wasser entleerten Flasche gehört hat, der wird der Meinung sein, die Flasche sei ganz leer. Ein solcher physikalisch Unkundiger wird einigermaßen erstaunt sein zu sehen, dass, wenn wir eine leere Wasserflasche auf den Tisch stellen, einen gut anschließenden enghalsigen Trichter aufsetzen und rasch Wasser in den Trichter eingießen, wir das Wasser im Trichter behalten und es nicht in die Flasche hineinfließen kann, weil es durch den Gegendruck der Luft verhindert wird, in die Flasche einzudringen. Ein solcher Mensch wird dann gewahr, dass doch ein für ihn Unsichtbares in der Flasche darinnen ist, welches das Wasser zurückhält.

Denken Sie sich diesen Begriff etwas erweitert, so wird es auch nicht schwierig sein, sich vorzustellen, dass der Raum von Kraftsystemen durchdrungen sein kann, welche zunächst übersinnlicher Natur sind, so dass wir sie nicht mit dem Messer durchschneiden können und dass sie auch nicht angegriffen werden können, wenn ein physisches Organ, das ihr materieller Ausdruck ist, zum Beispiel die Milz, erkranken sollte.

Wir haben uns zu denken, dass ein übersinnliches Kraftsystem zu dem, was wir als physisch-sinnliches Organ sehen, in einem solchen Verhältnis steht, dass physische Materie sich in dieses Kraftsystem einlagert, angezogen von den Kraftpunkten und Kraftlinien, und dadurch zu einem physischen Organ wird. Wir können sagen: Der Grund, warum zum Beispiel an der Stelle der Milz ein physisch-sinnliches Organ sichtbar ist, ist ... der, dass dort in einer ganz bestimmten Weise Kraftsysteme den Raum ausfüllen, welche die Materie so heranziehen, dass sie sich in einer solchen Weise einlagert, wie wir es an dem äußeren Organ der Milz sehen, wenn wir es anatomisch betrachten.

So können Sie sich die verschiedensten Organe im menschlichen Organismus denken. Sie sind zuerst übersinnlich veranlagt und dann ausgefüllt unter dem Einfluss der verschiedensten übersinnlichen Kraftsysteme von physischer Materie. Daher müssen wir in diesen Kraftsystemen zunächst einen übersinnlichen Organismus sehen, der in sich differenziert ist, der in den verschiedensten Weisen die physische Materie sich eingliedert und dessen Kompliziertheit das physische, ihm eingegliederte Organ nur unvollständig zu folgen vermag.« (GA 128, Dornach 1991, Vortrag vom 24. März 1911, S. 89 ff)

Was den Zusammenhang zwischen seelischen Krankheiten und leiblichen Vorgängen anbetrifft, hat man sich demnach vorzustellen, dass jene Form des Zusammenwirkens von Organprozessen und seelisch-geistiger Aktivität, die dem gesunden Zustand zugrunde liegt, im Fall einer Krankheit beeinträchtigt ist. Dieses Zusammenwirken stellt sich im Konkreten komplexer dar, als Zanders abstraktes Gerede vermuten lässt.

»Wir müssen uns nur klar sein, dass gerade Geisteswissenschaft darauf hinweisen muss, wie sogenannte Geisteskrankheiten in den Organen in vieler Beziehung ihren Sitz haben und wie organische Erkrankungen schon sehr stark zusammenhängen mit seelisch-geistigen Wirkungen. Das ist ein schwieriges Kapitel. Der Materialismus, der auf der einen Seite bei sogenannten physischen Krankheiten ganz mechanisch oder chemisch vorgeht, der also den Menschen mehr oder weniger nur wie einen Apparat behandelt, der ist auf der anderen Seite angekommen, bei der Charakteristik der sogenannten Geisteskrankheiten im Grunde genommen eine bloße Beschreibung der psychischen Symptome geben zu können, weil diesem Materialismus eine Überschau über den Zusammenhang des Geistig-Seelischen und des Physisch-Leiblichen verlorengegangen ist.

Dieses innige Verbundensein, das zeigt sich ja gerade, wenn wir das Ineinanderspielen des seelischen und des körperlichen Befindens konkret untersuchen. Fragen wir uns: Was ist denn eigentlich fördernd für Geisteskrankheiten? – Wenn der Mensch zunächst erkrankt, so treten subjektive Symptome auf, Schmerzsymptome, andere Befindenssymptome und so weiter. Diese Symptome, die bei akuten Erkrankungen ja am deutlichsten wahrzunehmen sind, die sich bei chronischen Erkrankungen eigentlich verwandeln, sind, ich möchte sagen, zunächst dasjenige, was der geistig-seelische Mensch tut, wenn er irgendeine Schädigung eines Organes hat: Er zieht sich daraus zurück. Der Schmerz ist nichts anderes, als dass Ich und astralischer Leib von dem physischen und Ätherleib sich zurückziehen, was natürlich verbunden sein kann gerade mit einem Zurückziehen des Ätherleibes. Aber das Wesentliche der Schmerzempfindung liegt ja im astralischen Leib und im Ich. Da ist in der Regel das Ich noch so stark, dass es den ganzen Gegenprozess, den subjektiven, den bewussten Gegenprozess desjenigen wahrnimmt, was in dem physischen Organe vorgeht. Wird die Krankheit eine chronische, dann zieht sich allmählich der Vorgang aus dem Ich zurück, und die Folge davon ist, dass dasjenige, was seelisch vorgeht, eigentlich nur noch auf den astralischen Leib sich beschränkt, dass also das Ich nicht teilnimmt an dem, was der astralische Leib mit dem Ätherleib zusammen leidet. Da kann zunächst die chronische Organerkrankung vor sich gehen; das Akute geht in ein Chronisches über. Wir haben es zu tun mit sich zurückziehenden bewussten psychischen Symptomen. Wir müssen, wenn wir Symptomatologie treiben wollen, schon auf das Tiefere des Menschen eingehen. Wir müssen, statt dass wir ihn fragen, wie er sich befindet, wo es ihm wehtut, ihn fragen, ob er gut oder schlecht schläft, ob er Arbeitslust hat. Also wir müssen dasjenige, was sich mehr über größere Zeiträume erstreckt, was mehr mit dem Werden des Menschen zusammenhängt, als Symptome ansehen, während wir das augenblicklich subjektive Empfinden als Symptom bei akuten Krankheiten ansehen können. Wir müssen gewissermaßen mehr auf den Lebenslauf des Menschen hinschauen als auf die Symptome, wenn es zum Chronischen kommt.

Nun aber kommt es zur gewöhnlichen physischen chronischen Erkrankung, wenn der ganze Vorgang so im Organ gehalten werden kann, dass astralischer Leib und Ätherleib richtig ihren Anteil nehmen an der Organwirkung und so viel als nötig ist, in die Organwirkung hineinsenden. Ist der Kranke so konstituiert, dass er ertragen kann ein unordentliches Hereinwirken des astralischen Leibes auf dem Umweg durch den Ätherleib in sein Organ, ist der Kranke also so geartet, dass er den abnormen Zusammenhang seines astralischen Leibes mit seiner Leber über einen gewissen kritischen Punkt hinwegbringt, so dass gewissermaßen die Leber nicht merkt, dass der astralische Leib nicht ordentlich in sie hineinwirkt, dann, ich möchte sagen, erholt sich die Leber, aber sie gewöhnt sich an das unordentliche Hineinwirken des astralischen Leibes. Das braucht dann nur lange genug fortzuschreiten und es macht den umgekehrten Weg in das Seelische hinein. Das, was die Leber aufnehmen sollte ins Physische, schiebt sie in das Seelische hinein, und wir haben die Depression, so dass also in einer gewissen Weise dadurch, dass der Mensch chronische Krankheiten über einen gewissen Punkt hin bis zu der abnormen Beziehung zum astralischen Leib hin übersteht, die Anlage gegeben wird zur sogenannten geistigen Erkrankung.

Wenn man diese Dinge einmal so betrachten wird, dann wird man über das Stadium der Pathographie hinauskommen. Heute redet man sehr viel von dem unregelmäßigen Verlauf der Vorstellungen, dem unregelmäßigen Verlauf der Willenshandlungen und so weiter. Aber solange man nicht weiß, wie durch das merkwürdige Zusammenwirken von Leber, Milz und den anderen Unterleibsorganen eigentlich dasjenige gestützt wird, was zuletzt in seiner höchsten seelischen Form als der menschliche Wille erscheint, so lange wird man nicht dazu kommen, das entsprechende physische Gegenbild für eine Pathographie wirklich zu finden. Man sollte schon gerade bei sogenannten Geisteskrankheiten daran denken können, die physische Behandlung einzuleiten. Das ist scheinbar ein Widerspruch, dass Geisteswissenschaft führen muss bei sogenannten Geisteskrankheiten auf physische Behandlung, während sie darauf hinweisen muss bei physischen Erkrankungen wiederum auf die Mitwirkung des Seelischen bei der Gesundung.« (GA 312, S. 376 ff.)

Angeblich stehen sich bei Steiner divergierende Konzepte der Krankheitsbegründung unvermittelt gegenüber.

Auf S. 1498 schreibt Zander:

»Als Verursacher identifizierte er [sic!] den ersten theosophischen Jahren geistige Wesen, später sprach er lieber von anonymen, etwa ›außerirdischen, außerterrestrischen Kräften‹ (GA 312,29). Dazu kam das Karmakonzept als Krankheitsbegründung, so dass divergierende Konzepte nebeneinander bestanden.«

Bei den von Zander angeführten Darstellungen über Krankheitsursachen handelt es sich nicht um divergierende Konzepte, sondern um ein und dieselben Faktoren, auf die mit unterschiedlichen Begriffen in unterschiedlichen Kontexten hingewiesen wird. Geistige Wesen sind ihrer Natur nach »außerterrestrisch«, auch wenn sie auf der Erde wirken. Ein Aspekt der Entstehung von Krankheit besteht darin, dass die Wirksamkeit solcher kosmischen geistigen Wesen auf der Erde »deplaziert« ist, und dadurch Unregelmäßigkeiten (im Menschen, in der Natur) hervorruft. Wenn der Mensch diese Wirksamkeit in seine eigene Organisation einbezieht, entsteht aus diesem Einbezug ein Karma der Einseitigkeit, das nach Ausgleich verlangt. Die ausgleichenden Ursachen können von außen, aber auch aus dem Inneren des menschlichen Wesens (aus seinen Organen) wirken. Ahriman ist, um ein Beispiel zu nennen, das Karma Luzifers, sowohl im kosmologischen Zusammenhang, als auch im einzelnen Menschen. Von Divergenz kann also keine Rede sein, sondern nur von Komplexität. Der Eindruck der Divergenz entsteht bei Zander durch seine Neigung zur »Komplexitätsreduktion«, um eines seiner Lieblingsworte zu verwenden.

Dies wird auch deutlich, wenn man jene Ausführungen im Kontext liest, in denen laut Zander von »anonymen« »außerterrestrischen« Kräften die Rede ist. Sie zeigen nicht nur, dass sich Steiner in die Tradition der europäischen spirituellen Medizin stellt, sondern auch, dass er mit seinen einleitenden Ausführungen zu seinem ersten Medizinerkurs den Blick der Anwesenden phänomenologisch auf die kosmischen Bildekräfte lenkt, die nicht nur bei der Gestaltbildung, sondern auch bei der Entstehung von Gesundheit und Krankheit in Betracht zu ziehen sind. Steiner führt unter anderem aus:

»Wenn man so wie Paracelsus von dem Archäus spricht, wenn man so spricht, wie wir sprechen von dem Ätherleib des Menschen, so fasst man eigentlich etwas zusammen, das da ist, das man aber seinem eigentlichen Ursprunge nach nicht verfolgt. Denn würde man es seinem eigentlichen Ursprunge nach verfolgen, so müsste man in der folgenden Art vorgehen. Man müsste sagen: Der Mensch hat einen physischen Organismus, der ist im wesentlichen aus Kräften konstituiert, die aus dem Irdischen wirken, und er hat einen ätherischen Organismus, der ist im wesentlichen aus Kräften konstituiert, die aus dem Umkreise des Kosmos wirken. Unser physischer Organismus ist gewissermaßen ein Ausschnitt der ganzen Organisation der Erde. Unser Ätherleib und auch der Paracelsussche Archäus ist ein Ausschnitt aus demjenigen, was nicht zur Erde gehört, was also von allen Seiten des Kosmos ins Irdische hereinwirkt. So dass also Paracelsus dasjenige, was man früher einfach als das Kosmische im Menschen bezeichnete und was mit der hippokratischen Medizin untergegangen ist, zusammengefasst sah in seiner Anschauung eines ätherischen Organismus, der dem physischen zugrunde liegt. Er hat dann nicht weiter untersucht – er hat ja im einzelnen zwar hingedeutet, aber eben nicht weiter untersucht –, mit welchen außerirdischen Kräften das im Zusammenhang steht, was in diesem Archäus eigentlich wirkt. ...«

Wie Steiners Hinweise zu verstehen sind, sagt er selbst im hier zitierten Vortrag: »Sie werden es begreifen, dass ich hier in diesen Vorträgen, die ja nur in einer beschränkten Anzahl gehalten werden können, hauptsächlich dasjenige gebe, was Sie sonst in Büchern oder Vorträgen eben nicht finden, und dasjenige voraussetze, was man eben sonst finden kann. Ich glaube nicht, dass es besonders wertvoll wäre, wenn ich Ihnen irgendeine Theorie geben würde in Aufstellungen, die Sie sonst auch finden könnten. Daher verweise ich Sie an diesem Punkt an dasjenige, was sich Ihnen ergeben kann, wenn Sie einfach miteinander vergleichen das, was Sie sehen, wenn Sie vor sich stellen ein Menschenskelett und das Skelett, sagen wir eines Gorillas, eines sogenannt hochstehenden Affen.« ...

»Nun ist das höchst Eigentümliche dieses, dass wir uns ja gewöhnlich heute darauf beschränken, zu vergleichen die Knochen oder die Muskeln der höheren Tiere mit den Knochen und Muskeln der Menschen, aber dabei nicht das nötige Gewicht legen auf diese Formumwandelung [die der Vergleich zwischen dem Skelett eines Gorillas und eines Menschen sichtbar macht]. In der Anschauung dieser Formumwandelung muss man ein Wesentliches und Wichtiges suchen. Denn sehen Sie, diese Kräfte, die müssen ja da sein, die entgegenwirken den Kräften, die beim Gorilla die Gestalt bilden. Diese Kräfte müssen ja da sein, diese Kräfte müssen ja wirken. Wenn wir diese Kräfte suchen werden, werden wir wieder finden dasjenige, was verlassen worden ist, indem die alte Medizin filtriert worden ist vom hippokratischen System. Wir werden wiederum finden, dass diese Kräfte im Kräfteparallelogramm irdischer Natur sind und diejenigen Kräfte, die sich mit diesen irdischen Kräften im Kräfteparallelogramm vereinigen, so dass eine Resultierende entsteht, die nun nicht irdischen Kräften ihren Ursprung verdankt, sondern außerirdischen, außerterrestrischen Kräften, diese Kräfte müssen wir außerhalb des Irdischen suchen. Wir müssen Zugkräfte suchen, die den Menschen zur Aufrichtestellung bringen, aber nicht nur zur Aufrichtestellung bringen, wie sie beim höheren Tier vorhanden ist zuweilen, sondern so zur Aufrichtestellung bringen, dass die in der Aufrichtestellung wirkenden Kräfte zugleich Bildekräfte sind. Es ist ja ein Unterschied, ob der Affe, der aufrecht geht, dennoch Kräfte hat, die massig entgegenwirken, oder ob der Mensch sein Knochensystem schon so ausbildet, dass diese Ausbildung in der Richtung von Kräften wirkt, die nicht-irdischen Ursprungs sind. Man kann einfach, wenn man richtig anschaut die Form des menschlichen Skeletts, sich nicht darauf beschränken, den einzelnen Knochen zu beschreiben und ihn zu vergleichen mit dem Tierknochen, sondern wenn man das Dynamische im Aufbau des menschlichen Skeletts verfolgt, dann kann man sich sagen: das findet man in den übrigen Reichen der Erde nicht, da treten uns Kräfte auf, die wir mit den übrigen zu dem Kräfteparallelogramm vereinigen müssen. Es entstehen Resultierende, die wir nicht finden können, wenn wir bloß auf die Kräfte Rücksicht nehmen, die außerhalb des Menschen vorhanden sind. Es wird sich also darum handeln, einmal diesen Sprung vom Tier zum Menschen ordentlich zu verfolgen. Dann wird man nicht nur beim Menschen, sondern auch beim Tier den Ursprung des Krankheitswesens finden können. Ich kann Sie nur nach und nach auf diese Elemente hinweisen, wir werden aber aus ihnen, weitergehend, sehr vieles finden können.« (GA 312, Vortrag vom 21. März 1920, Dornach 1999, S. 19 ff.)

Ein weiteres Konzept der Krankheitsbegründung findet Zander bei den »mythologischen Wesen« Luzifer und Ahriman.

Auf S.. 1499 schreibt Zander:

»Seit 1909 arbeitete Steiner mit einem weiteren Konzept, der Polarität zweier mythologischer Wesen, von Ahriman und Lucifer ... Vor dem Ersten Weltkrieg benutzte er dieses Paar auch zur Erklärung von Krankheiten ... Es ist aber unübersehbar, dass diese mythologischen Gestalten nach dem Krieg durch weniger narrative Erklärungsformen zurückgedrängt oder ausgetauscht wurden.«

Es ist geradezu ein Witz, dass Zander die beiden »Weltprinzipien« und »Weltenkräfte« Luzifer und Ahriman, die für das anthroposophische Verständnis des Weltprozesses konstitutiv sind, als »mythologische Wesen« bezeichnet. Dass darin eine diskriminierende Absicht liegt, ist offensichtlich. Die Abwertung realer geistiger Wesenheiten zu »mythologischen Wesenq, zu bloßen »Konzepten« liegt in der Konsequenz des Zanderschen Nominalismus, der die Realität des Geistigen grundsätzlich leugnet. Dass auch in den späteren »weniger narrativen Erklärungsformen« Steiners, die stets mit Polaritäten und dem Prinzip des Ausgleichs arbeiten, diese sogenannten mythologischen Wesen immer mitanwesend sind und mitgedacht werden müssen, müsste eigentlich jedem klar sein, der auch nur mit den elementarsten Anfängen der Anthroposophie vertraut ist.

Eine unmittelbare Konsequenz des Zanderschen Nominalismus besteht darin, dass er überall, wo die geistige Anschauung als höhere Empirie zwischen kosmischen und irdischen Prozessen oder irdischen Prozessen untereinander vermittelt, Analogien und unterstellte Homologien sieht.

Auf S. 1499-1500 schreibt Zander:

»Steiners Denken ist stark von einer anschauenden Wahrnehmung geprägt ... Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass Steiner auch in seinen medizinischen Konzepten zu Modellen tendierte, die einer Eidetik ohne technische Hilfsmittel verbunden waren und die er durch Analogiekonstruktionen operationalisierte ... Das Funktionsprinzip derartiger Vorstellungen bildet die analoge Übertragung anschaulicher, lebensweltlicher Vorgänge auf den nicht unmittelbar sichtbaren Funktionsmechanismus von Krankheiten. Der Angelpunkt ist dabei die Verwandlung homologer Funktionen in analoge. Die abschottende Wirkung von Schalen soll auch den Heuschnupfen zurückhalten, die Mistel soll ihre Fähigkeit, ohne festen mineralischen Boden zu leben, zur Rückbildung eines Krebsgeschwulstes einsetzen, und die aufbauenden Kräfte der Enzianwurzel im Frühjahr sollen auch die Verdauung wieder in Gang bringen. Der Aufzählung analoger Elemente wird eine homologe Substruktur unterstellt, eine Grenze für die Verknüpfung heterogener Gegenstände durch ein analoges Denken gibt es dann kaum noch. Damit werden komplexe Zusammenhänge visuell erfassbar und können in nichtwissenschaftliches Wissen integriert werden. In der Geschichte der Diagnostik sind solche mit ästhetischen Analogien arbeitenden Modelle etwa als Signaturenlehre bekannt.«

Grundlage der Vergleichbarkeit und der Applikation des einen auf das andere ist nicht eine »substituierte Homologie« – bei dieser handelt es sich um eine Zandersche Projektion – , sondern die reale Identität von Prozessen und Kräften, die sich in diesen auswirken. Aufgrund der ideologischen Voraussetzungen seines Denkens – der grundsätzlichen Verneinung der Realität des Geistes – muss Zander das reale Bindeglied, das der Vergleichbarkeit des Verschiedenen zugrunde liegt, leugnen und kann daher nur von einer unterstellten Homologie reden. In Wahrheit ist aber Zander derjenige, dessen ganzes Denken auf Analogien und unterstellten Homologien beruht. Die Grundvoraussetzung seines Werkes, dass die Analogie zwischen der Theosophie und der Anthroposophie eine Homologie konstituiert, ist eine unbeweisbare Behauptung. Aufgrund der Ähnlichkeit von Terminologien, also von Worten, schließt er unablässig auf die Identität von Inhalten. All seine Versuche, Inhalte der Anthroposophie auf analoge Erscheinungen zu reduzieren, beruhen auf der Substitution von Homologien. Im vorliegenden Fall unterstellt er eine Homologie zwischen der sogenannten Signaturenlehre und der anthroposophischen Ontologie. Wie bodenlos diese Unterstellung ist, gesteht er jedoch selbst ein, wenn er sagt: »Ob und an welche Vorstellungen sich Steiner angeschlossen hat, ist allerdings augenblicklich unklar. Von der Laienmedizin bis zu esoterischen Signaturenlehren ist vieles denkbar.« Zanders Satz: »Der Aufzählung analoger Elemente wird eine homologe Substruktur unterstellt, eine Grenze für die Verknüpfung heterogener Gegenstände durch ein analoges Denken gibt es dann kaum noch«, erweist sich bei näherer Betrachtung als Formulierung eines methodischen Prinzips, das er selbst ubiquitär anwendet.