Dem Fragment »Anthroposophie« widmet Zander in seinem Buch ein Kapitelchen von 2 Seiten. Nach all dem Material, das Steiner in den vorangegangenen Jahren zu Detailfragen der okkulten Erkenntnis und zum Schulungsweg veröffentlicht habe, soll ihm 1909/10 eine »theosophische Summe« vorgeschwebt sein, um die er sich in diesen Jahren bemühte. Diese These ist ein weiteres Beispiel für die Konstruktion eines falschen Kontextes.

Das Kapitel »Das Fragment einer theosophischen Synthese (1909/10)« (S. 674-676) eröffnet Zander mit den Sätzen:

»1910 sass Steiner an einem systematisierenden, stark erkenntnistheoretisch ausgerichteten Buch zu seiner Weltanschauung. Die ›Theosophie‹ war 1904 und die ›Geheimwissenschaft‹ 1909 erschienen, zum Schulungsweg hatte er viel Material publiziert, und so mag Steiner eine theosophische Summe ins Auge gefasst haben. Im Umfeld der achten Generalversammlung der deutschen Sektion hatte er im Oktober 1909 Überlegungen zu einer ›Anthroposophie‹ im Rahmen der Theosophie vorgetragen, in der dieser später zentrale Terminus vermutlich erstmalig in programmatischer Absicht fiel.«

Die These das Buch »Anthroposophie« sei von Steiner als »theosophische Summe« intendiert gewesen, erscheint umso merkwürdiger, als er ja eine solche »theosophische Summe« mit seiner »Geheimwissenschaft im Umriss« gerade veröffentlicht hatte. Das Fragment kann also wohl kaum von ihm als »Summe« intendiert worden sein. Es verfolgt vielmehr eine ganz andere Absicht. Das kann eine nähere Analyse der Texte zeigen, die in diesem Zusammenhang zu erörtern sind.

Doch zunächst zu Zanders Erzählungen. Im Oktober 1909 soll Steiner das erste Mal den Ausdruck Anthroposophie »programmatisch« verwendet haben, – wie nicht anders zu erwarten – um sich von der theosophischen Tradition abzugrenzen. Zander zieht zum Beleg die Vorträge heran, die bei der Generalversammlung 1909 gehalten wurden und heute im GA-Band »Anthroposophie, Psychosophie, Pneumatosophie« enthalten sind. (Die Vorträge fanden zwischen dem 23. und 27.10.1909 in Berlin statt, siehe GA 115, 2001.)

Gleich zu Beginn des ersten dieser vier Vorträge spricht Steiner von der neuen Epoche, die nach sieben Jahren theosophischer Arbeit (1902-1909) beginne. Mit seinen Vorträgen über Anthroposophie knüpfe er an ein Motiv an, das bei der Gründungsversammlung der Deutschen Sektion 1902 bereits aufgeleuchtet habe. Er spielt auf jene Vortragsreihe an, die er im Kreis der Kommenden zum Thema »Von Zarathustra bis Nietzsche. Entwicklungsgeschichte der Menschheit an der Hand der Weltanschauungen von den ältesten orientalischen Zeiten bis zur Gegenwart, oder Anthroposophie« hielt. Schon damals war mit dem Begriff »Anthroposophie« ein Programm, das Programm einer Entwicklungsgeschichte der Menschheit als Bewusstseinsgeschichte verbunden, wie man dem Titel dieser Vorträge entnehmen kann. Es trifft also auch nicht zu, dass der Begriff »Anthroposophie« von Steiner erstmals 1909 »programmatisch« verwendet wurde.

In seinen Vorträgen zur »Anthroposophie« bringt Steiner 1909 die Anthroposophie in eine mittlere Position zwischen Theosophie und Anthropologie. Die Weisheit vom Göttlichen und die naturwissenschaftliche Erkenntnis vom Menschen, die sich gegenseitig durchdringen und befruchten, führen zu einer Anthroposophie, einer Weisheit, die sowohl der geistigen als auch der leiblichen Seite des Menschen gerecht wird. Während die Theosophie in der Gefahr schwebt, im Aufschwung zu den höchsten spirituellen Höhen, über dem Betrachten des Göttlichen, die irdische Realität aus den Augen zu verlieren, und die gewöhnliche wissenschaftliche, anthropologische Betrachtungsweise den Menschen verliert, kann die Anthroposophie, die eine mittlere Perspektive einnimmt, das Menschliche und das Göttliche in ihrer Beziehung zueinander erkennen, den Ausdruck des Göttlichen in der menschlichen Natur und die menschliche Natur, insoweit sie zum Göttlichen hinaufragt. Theosophie entsteht, wenn das Göttliche sich durch den Menschen ausspricht, Anthroposophie, wenn der Mensch sich über das ausspricht, was über ihm und unter ihm ist, und es durch sich selbst beleuchtet.

Steiner kritisiert in seinem einleitenden Vortrag die zeitgenössische Anthropologie – die ja zu dieser Zeit im Wesentlichen Rassenanthropologie war – wegen ihres Naturalismus, durch den sie sich unter das dem Menschen Mögliche hinunter begebe. Er spricht geradezu von einem »untermenschlichen« Standpunkt der Anthropologie: »Die Anthroposophie ist eine geistige Erkenntnis der Welt, die sich rein auf den mittleren, menschlichen Standpunkt stellt, und nicht auf den untermenschlichen, wie etwa die Anhropologie.« (GA 115, 2001, S. 22)

Steiner schildert, wie sich aus einer alten Theosophie im Lauf der Jahrtausende die Theologie als Begriffswissenschaft vom Göttlichen entwickelt habe und nun der Anthropologie gegenüberstehe. So wie jene die Anschauung des Göttlichen verloren hatte, so die Anthropologie die Anschauung des Menschlichen. Anthroposophie kann nicht mit den Mitteln der bloßen Philosophie begründet werden, sie muss vielmehr zu den Quellen der Geistanschauung zurück, aus denen die Philosophie ihrerseits entstanden ist. Im Folgenden charakterisiert Steiner am Beispiel des Menschen die unterschiedlichen Betrachtungsweisen. Die Theosophie versteht den Menschen aus der gesamten Kosmogonie. Sie geht bis zum Alten Saturn und den Hierarchien zurück, um den physischen Leib des Menschen und seine unterschiedlichen Organe zu erklären (herzuleiten). Die Anthropologie wendet sich durch sinnliche Beobachtung allein diesen Organen zu, seziert sie, untersucht sie mit dem Mikroskop, beschreibt ihren Aufbau, ihre Funktionen.

Die Anthroposophie geht nun ebenso wie die Anthropologie vom Untersten, vom physischen Menschen aus, bleibt aber nicht bei dessen sinnlichem Erscheinungsbild stehen, sondern steigt von diesem zum Geistigen auf. Das »Sinnlichste« am Menschen sind seine Sinne. Deswegen beginnt die Anthroposophie mit einer Betrachtung der menschlichen Sinnesorganisation, um von dieser zu seinen »höheren« Wesensgliedern aufzusteigen. Die anthroposophische Untersuchung der Sinnesorganisation führt zu einer Erweiterung der Anthropologie, zu einer Sinneslehre, die zehn Sinne unterscheidet.

In den folgenden Vorträgen entwickelt Steiner eine komplexe Lehre von den Sinnen, Sinnesfeldern, Sinnestätigkeiten und ihren Beziehungen zu den verschiedenen Wesensgliedern des Menschen und zur Hierarchienwelt. Diese Ausführungen hätten Zander die Gelegenheit geboten, ein weiteres zentrales Thema der Anthroposophie, die Sinneslehre, für die es in der theosophischen Literatur keinerlei Parallelen gibt, zu erörtern und in einer Querschnittsstudie die Entwicklung dieses Themas im Werk Steiners, zu dem auch eine Reihe von Monographien in der anthroposophischen Sekundärliteratur vorliegen, zu diskutieren. Er hätte an der Entwicklung dieser Sinneslehre zeigen können, wie die geistige Forschung von Steiner im Lauf der Jahre vorangetrieben wurde, bis 1917 erstmals in der Publikation »Von Seelenrätseln« eine öffentliche Darstellung der inzwischen erweiterten Lehre erfolgte. (Siehe GA 21, 1917, Dornach 1976, S. 142 ff.)

Aber nichts dergleichen geschieht. Der historische Ort, an dem Steiner ein neues Kapitel in seiner Werkentwicklung aufschlägt, geht ungenutzt vorüber, das systematisch Spezifische dieses Ortes wird von Zander ausgeblendet.

Ein Musterbeispiel für sinnzerstörende Dekontextualisierung ist das Kapitel »Theosophische Erkenntnistheorie«. Mit diesem Thema beschäftigt sich Zander auf fünf Seiten. Er bemängelt die Abwesenheit eines »systematischen epistemologischen Diskurses« in Steiners Theosophie. Dieser Mangel ist aber lediglich darauf zurückzuführen, dass Zander als Textbasis für seine Behandlung dieses Themas fast nur die verschiedenen Vorreden der »Geheimwissenschaft im Umriss« heranzieht.

Auf S. 676 schreibt Zander in Anmerkung 496:

»Ein systematischer epistemologischer Diskurs fehlt bei Steiner. Die Gründe dafür liegen möglicherweise in der Inadäquanz dessen, was Steiner ein Erlebnis (hier: ›erlebtes Denken‹ [GA 21,137] nennt einerseits und der philosophischen Theorie andererseits. Steiner bemühte sich, die ihn überzeugende Wirkung des theosophischen Erlebnisses mit einem philosophischen Überbau zu sichern, aber nur nachträglich und ohne intensive Reflexionen. Diese Schnittstelle ist der Lebensphilosophie des 19. Jahrhunderts als Problem natürlich gut bekannt, doch bezieht sich Steiner nicht auf die einschlägigen Debatten.«

Was die »Theosophische Erkenntnistheorie« anbetrifft, hat Zander vor allem Mängel zu beklagen. Was er in erster Linie bemängelt, ist die Abwesenheit eines »systematischen epistemologischen Diskurses« in Steiners Theosophie, also das Fehlen einer Reflexion über die Wege und Methoden des (wissenschaftlichen) Erkennens. Seine theosophische Erkenntnistheorie habe Steiner immer wieder aphoristisch in Texte eingestreut, aber nie systematisiert. Zander interessiert sich aber, trotz der denkbar allgemeinen Formulierung der Fragestellung (»Epistemologie«) vor allem für eines: für die Verhältnisbestimmung von Geistes- und Naturwissenschaft. Merkwürdigerweise zieht er als Textbasis für seine kursorische Behandlung dieses Themas fast nur die verschiedenen Vorreden der »Geheimwissenschaft im Umriss« heran.

Ist alles, was Steiner zur Methodologie der Geisteswissenschaft und zu ihrer Erkenntnistheorie zu sagen hatte, in diesen Vorreden enthalten? Natürlich nicht. Man erinnere sich nur an den Zusatz zur Neuauflage der »Philosophie der Freiheithttp://www.anthroweb.info/rudolf-steiner-werke/ga04-philosophie-der-freiheit/ga-04-konsequenzen.html« 1918: »Die geistige Wahrnehmungswelt kann dem Menschen, sobald er sie erlebt, nichts Fremdes sein, weil er im intuitiven Denken schon ein Erlebnis hat, das rein geistigen Charakter trägt. Von einer solchen geistigen Wahrnehmungswelt sprechen eine Anzahl der von mir nach diesem Buche veröffentlichten Schriften. Diese ›Philosophie der Freiheit‹ ist die philosophische Grundlegung für diese späteren Schriften. Denn in diesem Buche wird versucht, zu zeigen, daß richtig verstandenes Denk-Erleben schon Geist-Erleben ist.« (GA 4, 1978, S. 256.)

Ähnliche Bemerkungen finden sich auch über die »http://www.anthroweb.info/ga02_grundlinien.htmlGrundlinien einer Erkenntnistheorie ...http://www.anthroweb.info/rudolf-steiner-werke/ga02-grundlinien.html « und »http://www.anthroweb.info/ga03_wahrheit_und_wissenschaft.htmlWahrheit und Wissenschafthttp://www.anthroweb.info/rudolf-steiner-werke/ga03-wahrheit-und-wissenschaft.html«. (Ein Beispiel aus dem Jahr 1907: » Derjenige, der ... hinaufdringen will in die höheren Welten, muss sich an jenes Denken gewöhnen, das einen Gedanken aus dem andern hervorgehen lässt. Ein solches Denken ist entwickelt in meiner ›Philosophie der Freiheit‹ und ›Wahrheit und Wissenschaft‹. Diese Bücher sind nicht so geschrieben, dass man einen Gedanken nehmen und an eine andere Stelle hinsetzen könnte; sie sind vielmehr so geschrieben, wie ein Organismus entsteht; ebenso wächst ein Gedanke aus dem andern hervor. Diese Bücher haben gar nichts zu tun mit dem, der sie geschrieben hat. Er überließ sich dem, was die Gedanken selbst in ihm erarbeiteten, wie sie sich selbst gliederten.«  GA 99, 06.06.1907, 1985, S. 159-160.)

Diesen Schriften kommt eine herausragende Bedeutung auf dem Schulungsweg der Rosenkreuzer-Theosophie, d.h. für die Methodologie, zu, da sich der Schüler durch sie jenes reine Denken aneignen kann, das sich nicht auf sinnliche Wahrnehmungen stützen muss, dessen Entwicklung Ziel des Studiums, der ersten Stufe des Schulungsweges ist.

Aber nicht nur für den Schulungsweg kommt diesen Schriften eine herausragende Bedeutung zu, sondern eben auch für die philosophische Rechtfertigung der Geisterkenntnis, d.h. für die Rechtfertigung dieser Geisterkenntnis mit den Mitteln des gewöhnlichen, sich über die Voraussetzungen seines Erkennens aufklärenden Bewusstseins. Diese Rechtfertigung glaubte Steiner durch seine philosophischen Schriften erbracht zu haben, die, wie er in einem Aufsatz 1912 schreibt, den Beweis führten, »dass der Vorgang des reinen Denkens selbst schon sich als die erste Stufe derjenigen Vorgänge erweist, durch welche übersinnliche Erkenntnisse erlangt werden.« (GA 35, »Die Geisteswissenschaft als Anthroposophie und die zeitgenössische Erkenntnistheorie«, 1912, Dornach 1965, S. 320.)

Hier erfolgt ein expliziter Hinweis auf die »Grundlinien einer Erkenntnistheorie ...«, an den Steiner die Bemerkung anschließt: »Meine früheren Schriften behandeln das reine Denken so, dass ersichtlich ist, ich zähle dieses durchaus zu den Verrichtungen des ›schauenden Bewusstseins‹. Ich sehe in diesem reinen Denken die erste, noch schattenhafte Offenbarung der geistigen Erkenntnisstufen.« (GA 35, »Die Geisteswissenschaft als Anthroposophie und die zeitgenössische Erkenntnistheorie«, 1912, Dornach 1965, S. 321.)

Seine späteren Schriften, so Steiner weiter, beruhten auf der Voraussetzung, dass der Mensch die höheren geistigen Erkenntniskräfte in der gleichen Art entwickle, wie das reine Denken. Auch 1917 hat er diese Auffassung betont, und zugleich darauf hingewiesen, dass seiner Ansicht nach ein geradliniger Weg von der »Philosophie der Freiheit« zur Anthroposophie hinführe. (»Im Zusammenhange meiner Veröffentlichungen ist meine ›Philosophie der Freiheit‹ die erkenntnistheoretische Grundlegung für die von mir vertretene anthroposophisch orientierte Geisteswissenschaft. Ich habe dies in einem besonderen Abschnitt meines Buches ›Die Rätsel der Philosophie‹ dargelegt. Ich habe in diesem Abschnitt gezeigt, wie ein gerader Weg von meiner Schrift ›Wahrheit und Wissenschaft‹ und meinem Buche ›Philosophie der Freiheit‹, nach meiner Auffassung, zur ›Anthroposophie‹ führt.« GA 21, 1917, Dornach 1976, S. 62. Siehe hierzu: Lorenzo Ravagli, Meditationsphilosophie. Untersuchungen zum Verhältnis von Philosophie und Anthroposophie, München 2000.)

Was heißt dies nun für den »systematischen Diskurs über die theosophische Epistemologie«, den Zander so schmerzlich vermisst? Es heißt nichts anderes, als dass die gesamte Theosophie ein einziger systematischer Diskurs über Epistemologie, über das menschliche Erkennen ist. In ihm sind Ontologie, die Lehre vom Seienden und Epistemologie, die Lehre von der Erkenntnis dieses Seienden, untrennbar ineinander verschränkt, denn die wahre Lehre vom Seienden ist die Lehre von der Erkenntnis dieses Seienden. In diesem Sinne können die »Mystik im Aufgang ...«, das »Christentum als mystische Tatsache ...«, die »Akasha-Chronik«, »Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten«, die »Theosophie« und die »Geheimwissenschaft im Umriss« als epistemologische Werke gelesen werden, denn sie alle schildern die Wege, auf denen man zur Erkenntnis des Seienden gelangt. Und zwar nicht nur insofern, als sie den spezifischen esoterischen Schulungsweg beschreiben, sondern auch insofern, als sie die Begriffe entwickeln, durch die das Seiende erkannt werden kann. Die begriffliche Entwicklung der »Theosophie« (Anthroposophie) ist zugleich die Darstellung des Weges zur Erkenntnis dieser Begriffe.

Wozu dann aber die epistemologischen Exkurse im engeren Sinn, das Schulungskapitel der »Theosophiehttp://www.anthroweb.info/rudolf-steiner-werke/ga09-theosophie.html«, »Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?http://www.anthroweb.info/rudolf-steiner-werke/ga10-wie-erlangt-man.html«, »Die Stufen der höheren Erkenntnishttp://www.anthroweb.info/rudolf-steiner-werke/ga12-stufen.html«, das Schulungskapitel der »Geheimwissenschaft im Umrisshttp://www.anthroweb.info/rudolf-steiner-werke/ga13-geheimwissenschaft.html«, die Zander in diesem Zusammenhang alle ignoriert? Ihr Sinn liegt in der Explikation, der Selbstreflexion der ideellen Strukturen der zuvor implizit entwickelten Methode. Während die Erkenntnismethode in den inhaltlichen Kapiteln der Werke nach 1900 lediglich implizit entfaltet wird, enthalten die Schulungskapitel explizite Darstellungen dieser Methode. In diesen expliziten Darstellungen sind die Anthropologie und die Kosmogonie wiederum implizit enthalten. (In dieser Durchdringung von Epistemologie und Ontologie ist Steiners Anthroposophie der Mystik Philo von Alexandriens verwandt: Die Geschichte der Schöpfung ist zugleich die Geschichte der Seele auf dem Weg zu Gott.)

Wenn schon nicht zu erwarten ist, dass Zander die wechselseitige Fundierung von Seins- und Erkenntnislehre durchschaut, warum geht er in seiner Diskussion über die Erkenntnislehre der Theosophie nicht wenigstens auf »Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Weltenhttp://www.anthroweb.info/rudolf-steiner-werke/ga10-wie-erlangt-man.html« ein? Warum erörtert er in diesem Zusammenhang nicht »Ein Weg zur Selbsterkenntnishttp://www.anthroweb.info/rudolf-steiner-werke/ga16-weg-zur-selbsterkenntnis.html« (GA 16) oder »Die »Die Stufen der höheren Erkenntnishttp://www.anthroweb.info/rudolf-steiner-werke/ga12-stufen.html«, die Steiner als »Erkenntnislehre der Geheimwissenschaft« bezeichnet (GA 12, 1979, S. 15.) oder die Schulungskapitel der Grundwerke? Der Grund für diese Zurückhaltung kann nur darin liegen, dass er gezwungen wäre, seine These vom epistemologischen Defizit in Steiners Werk fallen zu lassen.

Ein Meisterstück dekontextualisierender Entstellung bietet auch Zanders Behandlung der Themen »Meister« und Steiner als esoterischer Lehrer in der frühen Sektionsarbeit der Theosophischen Gesellschaft. Die betreffende Passage glänzt durch Auslassungen und tendenziöse Interpretationen.

Auf S. 706 schreibt Zander:

»Im Sommer 1903 waren die Meister für ihn ›Mahatmas‹ und ›tibetanische Lehrer‹ (GA 88,154), er übernahm ihre von Blavatsky kundgegebenen ›Namen‹ wie ›Meister K. H‹, also Koot Hoomi (ebd., 195 [Dezember 1903]) und ›Meister Morya‹ (GA 266a,111 [9.7.1904]), er las ›ihre‹ Briefe als autoritative Schriften (GA 88,195). Er bezeichnete sich ›nur‹ als ›das Mittel‹, die Gedanken der Meister zum Ausdruck zu bringen. (GA 266a,111 [9.7.1904]). ›Ich kann und darf nur soweit führen‹, schrieb er an einen (namentlich in der Gesamtausgabe nicht genannten) ›Schüler‹ am 11. August 1904, ›als der erhabene Meister, der mich selber führt, mir die Anleitung gibt‹ (GA 264,33). Und ein Vierteljahr später, am 15. Dezember, teilte er mit, dass ihm die Meister das Recht zur Veröffentlichung der Regeln der Esoterischen Schule gegeben hätten (ebd., 32).«

Mit dem Begriff der »Meister« verhält es sich ebenso, wie mit anderen traditionellen Begriffen der Theosophie: entscheidend ist, welche Bedeutung Steiner diesem Begriff im von ihm entwickelten Diskurszusammenhang gab und nicht, welche Bedeutung sie in dem Diskurszusammenhang hatten, aus dem er sie übernahm. Der Skandal um die Mahatma-Briefe und den Hodgson-Report, der Steiner zweifellos bekannt war, hinderte ihn jedenfalls nicht daran, die Vorstellung der »Meister« der spirituellen Entwicklung positiv aufzugreifen. Zander versucht auch für diese Vorstellung wieder eine theosophische Genealogie aufzuzeigen, die sich als ebenso brüchig erweist, wie die Beweiskette für Steiners angebliche Besant-Verehrung und die Lehrzeit, die er bei ihr verbracht haben soll.

Dass Steiner die von Blavatsky »kundgegebenen Namen« für die Meister übernommen habe, belegt Zander durch einen Hinweis auf den weiter oben besprochenen Brief an Günther Wagner (der Briefwechsel mit Wagner in den Quellen), in dem Steiner den erwähnten Brief Koot Hoomis als Meditationsinhalt empfahl und durch einen Vortrag vom 9. Juli 1904, der in einer zweieinhalbseitigen Nachschrift durch Franz Seiler vorliegt.

In diesem finden sich zwei Sätze über die Meister des Ostens: »Meister Morya gibt uns Aufschluss über das Ziel der menschlichen Entwicklung. Er ist es, welcher die Menschheit ihrem Ziele zuführt. Meister Kuthumi ist derjenige, welcher uns die Wege zu diesem Ziele weist.« (GA 266/1, 1995, S. 111)

In diesen Belegstellen besonders affirmative Bezugnahmen auf die theosophischen Meister zu erkennen, fällt schwer.

Auch die Bemerkung Zanders, Steiner habe die »Meister-Briefe« »als autoritative Schriften« gelesen, – die wiederum eine Interpretation des Briefes an Günther Wagner darstellt –, ist – milde ausgedrückt – eine Überinterpretation.

Vielmehr macht ja Steiner in diesem Brief gerade deutlich, dass in der betreffenden Äußerung nur der »siebte Teil« der theosophischen Teilwahrheiten angedeutet sei. Auch die Bemerkung, er sei nur das »Mittel, die Gedanken der Meister zum Ausdruck zu bringen«, stammt wieder aus dem zweieinhalbseitigen Stenogramm Franz Seilers.

Zander zitiert im Folgenden die Bemerkung Steiners vom 11. August 1904 gegenüber einem Schüler, er dürfe nur so weit führen, als der erhabene Meister, der ihn führe, Anleitung gebe und behauptet, dieser Schüler werde in der Gesamtausgabe »nicht namentlich genannt«.

Nun, Zander zitiert hier die von Hella Wiesberger verfasste Einleitung zu GA 246, S. 33. Wenn er ein wenig nachgeschlagen hätte, hätte er feststellen können, dass sich diese Sätze in einem auf S. 66-68 abgedruckten Brief an Doris und Franz Paulus finden. (GA 264, 1984, S. 66. – Der Brief im Wortlaut hier.) Pikanterweise unterschlägt Zander auf diese Weise einen bemerkenswerten Kontext. Steiner weist in diesem Brief nämlich die Zumutung zurück, die er darin empfand, dass Doris Paulus ihn als »Führer« bezeichnet hatte (!): »Sie sind so lieb, mich in Ihrem Briefe ›Führer‹ zu nennen. Ich kann und darf nur so weit führen, als der erhabene Meister, der mich selbst führt, mir die Anleitung gibt.« (GA 264, 1984, S. 66.) Um wen es sich bei diesem Meister handelt, teilt Steiner nicht mit, dass es sich um keinen östlichen Meister handeln kann, ist allerdings klar.

Zander zitiert darauf sogar eine Seite aus der Einleitung Hella Wiesbergers, auf der Steiners Äußerung vom 15. Dezember 1904 angeführt wird, die Meister hätten ihm die Erlaubnis zur Veröffentlichung von Schulungsregeln erteilt. Aber interessanterweise zitiert er nicht einen Vortrag, den Hella Wiesberger als grundlegend für Steiners Verständnis der »Meister« erachtet und auf eben dieser selben Seite heranzieht. Zander muss diese Passage gelesen haben. Ihr Inhalt muss aber so sehr seinen ideologischen Grundentscheidungen widersprochen haben, dass er sie nur ignorieren konnte.

In diesem Vortrag vom 13. Oktober 1904, einem der frühesten öffentlichen Vorträge, die dokumentiert sind, legt Steiner dar, dass die aus Sinnetts »Esoterischem Buddhismus« bekannten Meister dem europäischen Denken nicht absonderlich erscheinen müssten, wenn sie vor dem Hintergrund des spirituellen Evolutionsgedankens gedacht würden. Aber diese sogenannten Meister bräuchten »für uns« nichts weiter als Anreger auf geistigen Gebieten zu sein. »Allerdings geht deren Entwicklung weit über das Maß hinaus, das die landläufige Kultur bietet ... sie fordern aber nicht den Glauben an irgendeine Autorität, nicht den Glauben an irgendein Dogma. Sie appellieren an nichts anderes als an die eigene menschliche Erkenntnis und geben Anleitung, durch bestimmte Methoden die Kräfte und Fähigkeiten, die in jeder Menschenseele liegen, zu entwickeln ...« (GA 53, 1957, 13.10.1904, S. 29.)

Diese Auffassung hat Steiner aber nicht nur gegenüber der Öffentlichkeit vertreten, um vielleicht im Arkanraum, fern von der ungebildeten Masse, das Gegenteil zu lehren, er hat sie auch gegenüber den Theosophen vertreten und zwar bereits im Februar 1904. In seine Vorträge über die Welt des Geistes für die Mitglieder der Berliner Loge fügt er am 4. Februar 1904 einen Exkurs über die »geistigen Führer der Menschheit«, die »Mahatmas« ein, die sich in der höheren geistigen Welt finden lassen. (GA 88, 04.02.1904, 1999, S. 116 ff.)

Diese sind so weit entwickelt, dass sie die Menschheit belehren können. Wer den geistigen Sinn entwickelt, kann mit diesen geistigen Lehrern kommunizieren. Er lernt ihre Sprache verstehen, und ihm erwächst die Verpflichtung, die empfangenen Mitteilungen in die alltägliche Sprache zu übersetzen. Steiner verwendet hier dieselbe Denkfigur, die er in anderem Zusammenhang auch auf die Symbolsprache der Akasha-Chronik anwendet. Das Wort der Chronik, das dem inspirativen Bewusstsein entzifferbar bzw. vernehmbar ist, erscheint hier als Gespräch der Geister. Die Theosophie ist ein solches, in die Alltagssprache übersetztes Geistergespräch. Die Koinzidenz von Hören und Lesen kommt in den folgenden Sätzen zum Ausdruck, wenn Steiner sagt, nachdem man »lesen« gelernt habe, verstehe man die »urewigen Gesetze des Weltendaseins«. (GA 88, 04.02.1904, 1999, S. 117.)

Vergleicht man diese Ausführungen mit den Äußerungen Alfred Percy Sinnetts in seinem »Esoterischen Buddhismus« wird der Abgrund deutlich, der Steiner von Sinnett trennt. Während sich Sinnett auf mündliche und schriftliche autoritative Mitteilungen indischer und tibetischer Meister, sowie auf mediumistische Methoden als die beiden Quellen der Lehren beruft, die er in seinem »Esoterischen Buddhismus« vorträgt (Alfred Percy Sinnett, Die esoterische Lehre oder Geheimbuddhismus, Leipzig 1884, S. 21-22), lehnte Steiner beide Verfahren, die Berufung auf autoritative Mitteilungen dritter und mediumistische Methoden von Anfang an ab.

Aufgrund der von ihm eingenommenen, reduktionistischen soziologischen Perspektive kann Zander im »Arkanwissen« und seiner Dialektik von Geheimnis und Enthüllung nichts anderes erkennen, als ein Machtspiel. Der Titel dieses Unterkapitels lautet: »Geheimnis als Machtfaktor«.

Auf S. 722 schreibt Zander:

»Es gab keine ›reale‹ Alterität im Arkanbereich der Theosophie, keine Erkenntnisse, die sich grundlegend von dem allen zugänglich gemachten Wissen unterschieden hätten, sondern nur die Zuweisung von besonderer Bedeutung an Gegenstände, die die Mitglieder als geheime deklarierten und die in dieser Funktion Abgrenzung nach aussen und Kohäsion nach innen herstellten.

...

Zudem stellte sein [Steiners] Drang an die Öffentlichkeit in der Hoffnung, die Konkurrenz mit den empirischen Naturwissenschaften und der kritischen Geschichtswissenschaft bestehen zu können, die theosophische Arkandisziplin unter Publikationsvorbehalt.«

Es ist nur konsequent, wenn Zander in der Dialektik von Geheimnis und Enthüllung, aus der von ihm eingenommenen reduktionistischen soziologischen Perspektive nichts anderes erkennen kann, als ein Spiel mit der Macht.

Das Entscheidende ist jedoch nicht, dass der Arkanbereich ein besonderes Wissen für sich beansprucht, sondern dass dieses »Wissen« in anderer Art erfahren wird. Den Arkanbereich unterscheidet vom Profanbereich nicht der Wissensinhalt, sondern die Erfahrungsart.

Bereits durch die Veröffentlichung in Rede und Schrift wird das Arkane profan. Es in die Arkanität zurück zu erheben, ist nur möglich, wenn der durch die Veröffentlichung Angesprochene sich durch das mitgeteilte Wissen in jenen Erfahrungsraum begibt, aus dem die Veröffentlichung hervorgegangen ist. Dieser Erfahrungsraum kann durch keine Veröffentlichung profaniert werden, da er seinem Wesen nach »geheim« ist. Andererseits ist kein Wissen, das aus diesem Erfahrungsraum in die Öffentlichkeit getreten ist, geheim oder ein Arkanum.

Hier kehrt dasselbe Unverständnis wieder, das bereits Zanders Umgang mit dem Thema »esoterische Schule«, ja, seinen gesamten Umgang mit der Anthroposophie kennzeichnet.

Ebensowenig, wie die Anthroposophie aus profanen Bildungsinhalten der damaligen Zeit oder aus anderen theosophischen Publikationen abgeleitet werden kann, ist es möglich, die spezifische Natur des Arkanbereichs, das Geheime, aus dem Offenbaren, dem Veröffentlichten abzuleiten. Vielmehr wurzelt alles Öffentliche im Geheimen, alles Offenbare im Arkanen. Letzteres macht ersteres erst möglich, und verleiht diesem seinen Gehalt.

Insofern erhält die »Zuweisung besonderer Bedeutung« einen ungeahnten Sinn. In der Tat gibt es im »Arkanbereich« der Theosophie oder Anthroposophie keinen anderen Inhalt als in ihrem »Profanbereich«, aber darum geht es auch nicht. Es geht vielmehr gerade um diese Zuweisung einer anderen Bedeutung, einer realen Bedeutung des Wissens für die einzelne Seele und für die Gemeinschaft, die sich durch diese Zuweisung von besonderem Sinn erst konstituiert.

Die Arkangemeinschaft entsteht durch einen Akt der Bedeutungszuweisung, in dem das Profane in die Sphäre des Arkanen erhoben wird und dadurch erst seinen wahren Sinn enthüllt. Denn das Heilige, das profaniert wird, indem es ausgesprochen wird, muss von jenen, denen es erscheint, in seinen Ursprungsraum zurück versetzt werden, damit es die Person heiligen kann, die es in sich einlässt.

Der Sinn eines Mantras besteht nicht darin, dass man von seinem gedanklichen Inhalt Kenntnis erlangt, sondern darin, dass es die Seele zu einer Erfahrung führt, durch die sie eine Wandlung erfährt. Der Sinn des initiatorischen Wissens besteht nicht in seinem intellektuellen Informationsgehalt, sondern in seiner transformativen Kraft, die es nur entfalten kann, wenn sich derjenige, der in den Besitz dieses Wissens gelangt, dieser transformativen Kraft öffnet. Diese transformative Kraft kann es jedoch nur entfalten, wenn sie ihm vom Eigner dieses Wissens zuerkannt wird. Der Schritt vom intellektuellen Wissen um den Inhalt des Arkanums zum Beginn seiner transformativen Wirksamkeit muss vom Schüler bewusst und willentlich gegangen werden. Deshalb konnte Steiner gelegentlich die Meditation auch als die einzige wirklich freie Handlung bezeichnen.

Was für das Binnenverhältnis des esoterischen Schülers zum transformativen Wissen gilt, trifft ebenso für den Arkanraum der Gemeinschaft zu, die sich als Initiationsgemeinschaft versteht. Die Hochschule für Geisteswissenschaft existiert nur, insofern ihre Mitglieder sie durch ihren Willensentschluss konstituieren, indem sie den Schritt vom bloßen Wissen über die Initiationserkenntnis zur Selbsttransformation durch dieses Wissen machen.

Auf die Tatsache, dass die Natur des Esoterischen sich nur durch bewusste Anstrengung und willentliche Entscheidungen von Menschen erschließt, die sich in dessen gemeinschaftlichen Dienst stellen, machte bereits Plato in seinem 7. Brief aufmerksam. (Siehe dazu die Ausführungen von Johannes Kiersch in »Vom Land aufs Meer. Steiners Esoterik in verändertem Umfeld«, Stuttgart 2008, S. 60ff.)

Der Unterschied des Esoterischen vom Exoterischen kann auch an den verschiedenen Texten verdeutlicht werden, die Steiner hinterlassen hat. Mindestens vier Textsorten können unterschieden werden: seine Schriften, seine öffentlichen Vorträge, die Vorträge für Mitglieder der Gesellschaft und die Redeformen der Esoterischen Stunden und Klassenstunden (unter diese letzte Kategorie fallen auch alle mantrischen Texte). Dies sind notwendige Differenzierungen, die Zander auch nicht im Ansatz in Betracht zieht.

(1) In seinen Schriften wendet sich Steiner durch voraussetzungslose begriffliche Erörterungen an ein Publikum, das nicht mehr als Interesse aufbringen muss, um den Inhalt dieser Texte zu verstehen. Indem es aber dieses Interesse aufbringt, begibt es sich bereits auf den Schulungsweg, der das an die Sinne gebundene Denken von dieser Abhängigkeit befreit. Das Lesen und Verstehen der Schriften, die von Nichtsinnlichem handeln, stellt die erste Stufe der geistigen Erweckung dar.

(2) Die öffentlichen Vorträge sind mit den Schriften vergleichbar. Allerdings sind sie stärker orts- und anlassbezogen und gehen in höherem Maß auf die besonderen Voraussetzungen des jeweiligen Publikums ein. Im Prinzip vollzieht sich aber in diesen Vorträgen dasselbe: auch hier wird durch begriffliche Erörterungen das Bewusstsein des Zuhörenden in einen Zustand versetzt, der über das an die Sinne gebundene Alltagsbewusstsein hinausführt.

(3) Die Mitgliedervorträge greifen sowohl in größere Höhen als Tiefen der Geistesschau aus und setzen ein höheres Maß an Urteilsfähigkeit und meist auch umfassende Vorkenntnisse voraus, zumal sich in ihnen über Jahre hinweg bestimmte Forschungsthemen entfalten, die immer wieder von neuen Gesichtspunkten aus beleuchtet werden. Gerade in den Mitgliedervorträgen, die, wie Steiner in seiner Autobiografie bemerkt, aus einem fortlaufenden Erkenntnisgespräch zwischen Mitgliedern und Redner entstanden (GA 28, 1962, S. 450-451), tritt diese sich im Lauf der Jahre entfaltende Multiperspektivität der Geisteswissenschaft deutlich zutage. Dies zeigt jede diachrone Untersuchung eines beliebigen Gegenstandes im Vortragswerk. Steiner selbst hat diese Multiperspektivität immer wieder als ein Merkmal der Geisterkenntnis und seiner Darstellungsart angesprochen. (So zum Beispiel im Jahr 1908: »Das anthroposophische Lernen ist nicht so wie das mathematische. Zuerst wird aufmerksam darauf gemacht, dass es zum Beispiel die vier Gruppenseelen gibt; damit sind zunächst nur die Namen gegeben. Dann wird irgendein Gesichtspunkt gewählt, und es wird die Sache von außen her beleuchtet. Und so kommen wir immer wieder von einer anderen Seite heran. Wir gehen um das, was zuerst hingestellt wurde, herum und beleuchten es von den verschiedensten Seiten her. Wer sich das gesagt sein lässt, wird niemals dazu kommen können, zu sagen, dass sich irgendwelche anthroposophischen Dinge widersprechen ... Die Verschiedenheit rührt von den verschiedenen Standpunkten, von denen aus man die Dinge betrachtet.« GA 107, 29.10.1908, 1988, S. 80)

Die unterschiedlichen Beleuchtungen, Charakterisierungen, Darstellungen sind immer abhängig von der Perspektive, vom Blickpunkt, der Fragestellung des Betrachters, Sie bedingen die jeweilige Sichtweise und erschließen die Einblicke, die sich in eine Sache vom aktuellen Gesichtspunkt aus ergeben. Deswegen ist auch kein einzelner Standpunkt allein richtig: »Meinungen und Standpunkte muss sich der Geisteswissenschafter abgewöhnen. Er hat keinen Standpunkt, weil alle Anschauungen sind wie Bilder, die von verschiedenen Standpunkten aus entstehen, und die so verschieden sind wie die Menschen, welche die Welt von den verschiedensten Seiten anschauen.« (GA 108, 23.11.1908, 1986, S. 46-47. Steiner fährt an der betreffenden Stelle fort: »Von einer Seite ist das Bild von materialistischer Anschauung, dann von anderen Seiten von einer spirituellen, einer mechanistischen, vitalistischen Anschauung ... Sie nicht nur theoretisch zu erkennen, sondern so zu leben mit einer Weltanschauung, dass sich alle Anschauungen wie Bilder von verschiedenen Seiten ausnehmen, das ist die innere Toleranz, um die es sich handelt. Es soll nicht Meinung und Meinung sich bekämpfen. Dann ergibt sich die innere und aus dieser die äußere Toleranz, die wir brauchen, wenn die Menschheit ihrem Heile in der Zukunft entgegen gehen will.«)

Aber auch die Mitgliedervorträge wenden sich vornehmlich an das Verstehen und stellen den Gegenstand der geistigen Anschauung zwischen den Redner und das Publikum, das an der jeweils entwickelten Perspektive, von »diesem oder jenem Gesichtspunkt« aus, teilnimmt. (Liest man die Vorträge Steiners von diesem Gesichtspunkt aus, wird man feststellen, wie geradezu permanent darauf hingewiesen wird, dass ein Gegenstand jeweils von einem »bestimmten Gesichtspunkt« aus betrachtet wird.)

(4) Die im engeren Sinn esoterischen Texte bewegen sich auf einer völlig anderen Ebene. Hier tritt Steiner nicht als jemand auf, der über Erkenntnisse berichtet, sondern als performativer, auratischer Künstler und Künder, der die Teilnehmer eines Geschehens, das sich in der Rede entfaltet, unmittelbar an einem Erkenntnisprozess teilhaben lässt, der transformativen Charakter besitzt. So wie er selbst dem real Geistigen in den symbolischen Formen seiner Rede Gegenwart verleiht, durch es verwandelt wird, so werden die Zuhörer in diese Gegenwart einbezogen und erfahren durch die Rede, durch den Geist, der in ihr vergegenwärtigt wird, eine teilweise seelische Transformation. Deswegen konnte sich Steiner in manchen Fällen auch der Formel bedienen, nun spreche nicht er, sondern ein Meister der spirituellen Entwicklung durch ihn.

Diese Andersartigkeit des Sprechens, der identifikatorische im Unterschied zum objektivierenden Gestus in Mitglieder- oder öffentlichen Vorträgen, kann bereits an der ersten Esoterischen Stunde, die Steiner 1904 in Berlin gehalten hat, abgelesen werden. Franz Seiler hat diese Stunde aus der Erinnerung in Notizen festgehalten. (GA 264, 9.07.1904, 1984, S. 206-208)

Abgesehen von den Schriften, die Steiner selbst veröffentlichte, sind alle anderen Textsorten – von einigen weiteren sei hier abgesehen – schattenhafte Repräsentationen historischer Augenblicke, denen das Wesentliche fehlt, aus dem sie entstanden sind: die körperhafte Realpräsenz des Geistes, der in den mangelhaften Stenogrammen und Transskripten seine änigmatischen Spuren hinterlassen hat. Insofern sind diese Textsorten heute viel schwerer zugänglich, als die Schriften, da der Leser jenen Anteil der sinnlichen Präsenz des Geistigen und noch manches andere zu ihnen hinzufügen muss, das den größten Teil ihrer Wirksamkeit und Wirklichkeit ausmachte.

Esoterische Texte können nur verstanden werden, wenn es gelingt, sich in jene reale Situation zurück zu versetzen, in denen sie entstanden sind und sich die historischen und spirituellen Bedingungen zu vergegenwärtigen, die sie voraussetzen. Wenn der Leser von der Tatsache absieht, dass sie von einer konkreten Person zu anderen konkreten Personen in einem realhistorischen Zusammenhang gesprochen worden sind, und auch heute nur Bedeutung erlangen können, wenn er durch sie angesprochen wird, ebenso wie die ursprünglichen Adressaten, dann sind diese Texte sinnlos. Sie sind nur als performative Akte der geistigen Transformation sinnvoll, an denen Sprechender und Hörende in gleichem Maß teilhaben.

Zander behauptet, Steiner füge »auf den Schultern Edouard Schurés« Jesus im Sommer 1903 in die Reihe der großen Eingeweihten ein, und mache ihn, indem er von dessen »Meisterwort« spreche, zu einem der »theosophischen Eingeweihten«. Seine Behauptungen sind Beispiele für falsche Kontextualisierung.

Zander schreibt auf S. 790:

»Im Sommer 1903 plazierte Steiner auf den Schultern des ›genialischen‹ Edouard Schuré (GA 34,42) Jesus – wie schon 1902 – in die Reihe der ›großen Eingeweihten: Rama, Krishna, Hermes, Moses, Orpheus, Pythagoras, Platon und Jesus. Stufenweise sind durch diese Führer die Kräfte in die

Menschheit eingestrahlt worden‹ (ebd., 63). Neu war dabei wohl, dass er vom ›Meisterwort‹ Jesu sprach (ebd., 64), womit er ihn vermutlich unter die theosophischen ›Meister‹ einreihte.«

Weder ordnet Steiner Jesus »auf den Schultern Schurés« in die Reihe der großen Eingeweihten ein, noch spricht er von »Jesu Meisterwort«, um ihn zu einem »theosophischen Meister« zu machen.

Steiner schreibt in dem von Zander herangezogenen Aufsatz »Einweihung und Mysterien«:

»Wie also der Lehrer der Religion zu den Menschen verschiedener Entwickelungsstufen spricht, das macht er von den Geistes- und Herzensbedürfnissen derer abhängig, zu denen er sprechen soll.

Um das zu können, muss er den Kern der Weisheit, durch die er wirken soll, selbst in seiner Seele tragen; und die Art, wie er diesen Kern trägt, muss eine solche sein, dass sie ihn befähigt, zu jeglichem Menschen in dessen Auffassungsweise zu sprechen.

Wer die Reden der Religionslehrer nach ihrer Außenseite betrachtet, erkennt deshalb nur die eine, eben die äußere Seite ihrer Weisheit.

Eindringlich weist auf diese Tatsache hin Edouard Schuré in seinem Buche über die ›Großen Eingeweihten‹. Er gibt darin eine Darstellung der großen Weisheitslehrer: Rama, Krishna, Hermes, Moses, Orpheus, Pythagoras, Plato und Jesus in der Weise eines intuitiven Forschers, eines edlen Gedankenkünstlers und einer von tiefem religiösen Empfinden getragenen Persönlichkeit.«

Steiner zitiert Schuré nicht, um Jesus in eine Reihe »theosophischer Meister« einzufügen, sondern um die Tatsache zu verdeutlichen, dass es in allen Religionen einen Unterschied zwischen exoterischen Lehren und esoterischem Kern gibt und dass die großen Lehrer der Religion ihre Lehren an der Auffassungsfähigkeit der Zuhörer  ausrichteten. Steiner fährt fort:

»Seinen Gesichtspunkt umschreibt er [Schuré] in der Einleitung: ›Alle großen Religionen haben eine äußere und eine innere Geschichte; die eine offenbar, die andere verborgen. Durch die äußere Geschichte erschließen sich mir die Dogmen und Mythen, wie sie öffentlich in Tempeln und Schulen verkündet werden, wie sie in den Kulten und in dem volkstümlichen Aberglauben zur Darstellung kommen. Durch die innere Geschichte erschließen sich mir die tiefe Wissenschaft, die geheimnisvolle Weisheit und die verborgenen Gesetze der Taten der großen Eingeweihten, Propheten und Reformatoren, welche diese Religionen geschaffen, gestützt und verbreitet haben. Die erste, die äußere Geschichte kann man überall kennen lernen; sie ist nicht wenig dunkel, widerspruchsvoll und verworren. Die zweite, die ich die esoterische Geschichte, oder die Weisheit der Mysterien nennen möchte, ist sehr schwer aus der ersten herauszuentwickeln. Denn sie ruht in den Tiefen der Tempel, in den geheimen Gesellschaften, und ihre erschütterndsten Dramen entrollen sich ausschließlich in den Seelen der großen Propheten, die weder Urkunden noch Schülern ihre erhabensten Erlebnisse und ihre sie zum Göttlichen hebenden Vorstellungen vertraut haben. Man muss ihre Rätsel lösen. Aber, was man dann findet, erscheint lichtvoll, organisch, in Harmonie mit sich selbst. Man könnte es auch die ewige und universelle Religion nennen. Es stellt sich als das Innere der Dinge dar, als die Innenseite des Menschheitsbewusstseins im Gegensatz zur bloß geschichtlichen Außenseite. Da ergreifen wir den schöpferischen Keimpunkt von Religion und Philosophie, die am anderen Ende der Ellipse in der ungeteilten Wissenschaft zusammentreffen. Es ist der Punkt, der den übersinnlichen Wahrheiten entspricht. Da finden wir die Ursache, den Ursprung und das Ziel der wunderbaren Arbeit der Jahrhunderte, die Weltenlenkung in ihren irdischen Sendboten.‹

Diese ›irdischen Sendboten‹ arbeiten in der geistigen Apotheke, im geistigen Laboratorium der Menschheit. Was sie zu solcher Arbeit befähigt, sind die unvergänglichen Gesetze der geistigen Chemie, und was sie als geistig-chemische Prozesse vollbringen: das sind die großen intellektuellen und moralischen Taten der Weltgeschichte. Was aber aus ihrem Munde strömt, das sind nur Gleichnisse, nur Bilder der höheren in ihren Seelentiefen wohnenden Weisheit, angepasst dem Verständnisse derjenigen, die ihnen das Ohr leihen. Nur denen, welche die Bedingungen erfüllen, die das Verständnis und den rechten Gebrauch der höheren Weisheit verbürgen, kann diese eröffnet werden. Diese aber empfinden dann in der Mysterien-Einweihung die unmittelbare Berührung mit den geistigen Urgründen, mit den Vater- und Muttermächten des Daseins. Man höre, was einer sagt, der von solchen Empfindungen durchdrungen war. Klemens von Alexandrien, der christliche Schriftsteller des zweiten und dritten Jahrhunderts unserer Zeitrechnung, der vor seiner Taufe Myste, das ist Mysterienschüler war, preist diese Mysterien mit den Worten: ›O der wahrhaft heiligen Mysterien! o des lauteren Lichtes! Eine Fackel wird mir vorangetragen, wenn ich den Himmel und Gott anschaue; ich werde heilig, wenn ich die Weihe empfange. Die Geheimnisse aber erschließt mir der Urgeist und besiegelt den Eingeweihten durch die Erleuchtung; eingeweiht in den Glauben, stellt er mich dem All-Einen vor, damit ich im Schoße der Ewigkeit aufbewahrt werde. Das sind die Weihezeremonien meiner Mysterien! Willst du, so lass auch du dich einweihen, und du wirst mit den Geisteskräften des Daseins den Reigen schließen um den ungeschaffenen, unvergänglichen, all-einen Weltengeist herum, und die Sprache, die dir vom Kosmos inspiriert ist, wird diesem All-Einen die Loblieder anstimmen.‹« (GA 34, Text siehe Quellen)

Dass Steiner Jesus nicht zu einem theosophischen »Meister« macht, zeigt gerade der Absatz, in dem Zander den Ausdruck Meisterwort findet, überdeutlich, spricht doch Steiner darin von Jesus, in dem der Christus inkarniert gewesen sei. Jesus als »theosophischer Meister« ist aber keine Inkarnation Christi, sondern bestenfalls ein Avatar oder eine Epiphanie des Logos.

Steiner schreibt: »Der Theosoph weiß, dass im Christentum die Wahrheit ist. Und er weiß auch, dass Jesus, in dem der Christus verkörpert war, kein Führer der Toten ist, sondern ein Führer der Lebendigen. Er versteht das große Meisterwort: Ich bin bei euch alle Tage bis ans Ende. An den lebendigen Führer, nicht an den der geschichtlichen Berichte wendet sich zuerst, wer so wie Annie Besant das Christentum erklären will. Was das ›lebendige Wort‹ noch heute dem Ohre verkündet, das lauschen will: das strahlt dann ein in die Evangelienberichte. Jawohl, er ist dageblieben bis heute, der Kündiger des Wortes, und er kann uns selbst sagen, wie wir den Buchstaben zu erfassen haben, der von seinen Taten und Reden berichtet.« (GA 34, Text siehe Quellen)