Steiner soll nach Zander eine »Herrschaft der Schau« über den Text der Bibel und einen »übersinnlichen Absolutheitsanspruch« gegenüber der christlichen Offenbarung angestrebt haben. Aussagen Steiners über das Hellsehen der Jünger und Apostel münzt Zander unter der Hand zu Aussagen Steiners über seine eigene Hellsicht um.

Auf S. 827 schreibt Zander:

»Steiners Selbstverständnis als Hellseher zeitigte auch ohne die Überhöhung [von Steiner] als Bodhisattva massive Folgen für die Deutung des biblischen Textes, wie sich mit exemplarischen Äußerungen Steiners deutlich machen lässt:

...

›Es gibt nur einen hellseherischen Weg zu dem Mysterium von Golgatha, trotzdem es auf dem physischen Plan sich vollzogen hat.‹ (GA 139, 188)

...

Derartige Aussagen laufen auf die Herrschaft der Schau über den biblischen Text hinaus, auf einen übersinnlichen Absolutheitsanspruch.«

Dieses Zitat ist ein besonders krasses Beispiel für die verfälschende Patchworktechnik Zanders.

Ausführungen Steiners über die Evangelisten und Jünger, die keine unmittelbaren Augenzeugen des Mysteriums von Golgatha – des Todes und der Auferstehung waren – werden von Zander zu Aussagen Steiners über sich selbst umgedeutet. Steiner spricht dagegen davon, dass Christus in den Jüngern das »hellseherische Schauen entflammt« habe, so dass sie, »was sie nicht mit physischen Augen mit angesehen hatten, weil sie entflohen waren, hinterher hellseherisch geschaut haben«. In den Jüngern trat so durch die Einwirkung Christi eine hellseherische Erinnerung an Ereignisse auf, bei denen sie selbst nicht physisch anwesend waren. Auf diesen Vorgang bezieht sich der Satz: »Es gibt nur einen hellseherischen Weg zu dem Mysterium von Golgatha, trotzdem es auf dem physischen Plan sich vollzogen hat.«

Im Zusammenhang lauten die Ausführungen Steiners wie folgt:

»Die Menschen, die Materialisten sein wollen, die durchaus nur an das glauben wollen, was sich dem materialistischen Bewusstsein im Sinnensein ergibt, sie können keinen Weg finden zu dem Christus Jesus. Denn dieser Weg ist abgeschnitten worden dadurch, dass diejenigen, welche dem Christus am nächsten standen, ihn gerade, während sich das Mysterium von Golgatha vollzogen hat, verlassen haben und ihn erst später wiedergetroffen haben, also nicht mitgemacht haben, was sich dazumal auf dem physischen Plan in Palästina zugetragen hat. Und dass keine irgendwie glaubwürdigen Dokumente von der anderen Seite gegeben worden sind, das weiß ja jedermann. Dennoch haben wir im Markus-Evangelium und in den anderen Evangelien Schilderungen gerade dieses Mysteriums von Golgatha.

Wie sind diese Schilderungen zustande gekommen ? Dies ins Auge zu fassen, ist außerordentlich wichtig. Betrachten wir diese Schilderungen an dem einzelnen Fall, an dem Fall des Markus-Evangeliums. Es wird uns ja hinlänglich auch im Markus-Evangelium angedeutet, wenn auch kurz und prägnant, nach der Auferstehungsszene, dass der Jüngling im weißen Talar, das heißt der kosmische Christus, nachdem das Mysterium sich vollzogen hatte, den Jüngern wieder sich gezeigt hat, auf die Jünger Impulse ausgeübt hat. Und so konnten denn solche Jünger, solche Apostel, wie es etwa Petrus war, nachher dadurch, dass sie durchdrungen waren von dem Impuls, der auf sie ausgeübt wurde, zum hellseherischen Schauen entflammt werden, so dass sie das, was sie nicht mit physischen Augen mit angesehen hatten, weil sie entflohen waren, hinterher hellseherisch geschaut haben. Petrus und den anderen, welche auch Schüler sein durften nach der Auferstehung des Christus Jesus, wurden die Augen hellseherisch geöffnet, so dass sie hellseherisch schauen durften das Mysterium von Golgatha.

Es gibt nur einen hellseherischen Weg zu dem Mysterium von Golgatha, trotzdem es auf dem physischen Plan sich vollzogen hat. Das müssen wir festhalten. Das deutet das Evangelium ganz klar an, indem es schildert, dass die Berufensten im entscheidenden Augenblicke geflohen waren; so dass also in einer solchen Seele, wie es die Petrus-Seele war, nachdem sie den Impuls des Auferstandenen empfangen hatte, aufleuchtete die Erinnerung an das, was geschehen war nach der Flucht. Sonst erinnert sich der Mensch nur an das, wo er im Sinnensein dabeigewesen war. Bei einem solchen Hellsehen, das da bei den Jüngern auftrat, ist es gegenüber dem gewöhnlichen Erinnern so, dass man Ereignisse – physisch-sinnliche – wie im Gedächtnis hat, aber solche, bei denen man nicht dabeigewesen ist. Denken Sie also in bezug auf das Aufleuchten der Erinnerung in einer solchen Seele, wie die Petrus-Seele war, an die Ereignisse, bei denen sie nicht unmittelbar dabeigewesen ist. Und so lehrte der Petrus zum Beispiel die, welche ihn hören wollten, aus seinem Gedächtnis heraus über das Mysterium von Golgatha, lehrte sie das, an was er sich erinnerte, trotzdem er nicht dabeigewesen ist.

In dieser Weise kam es zur Lehre, zur Offenbarung des Mysteriums von Golgatha. Aber der Impuls, der von dem Christus auf solche Jünger wie Petrus ausgegangen war, konnte sich mitteilen auch an die, welche wieder Schüler dieser Jünger waren. Ein solcher Schüler des Petrus war der, welcher ursprünglich zusammengestellt hat – allerdings nur mündlich – das sogenannte  Markus-Evangelium. So ging der Impuls, der sich in Petrus selber geltend gemacht hatte, auf die Markus-Seele über, so dass Markus selber in seiner eigenen Seele das aufleuchten sah, was in Jerusalem als Mysterium von Golgatha sich vollzogen hatte.«

Rudolf Steiner, Das Markus-Evangelium, GA 139, Dornach 1988 (tb), S. 187-188.

Zander unterstellt Steiner, er habe die »leibliche Konstitution« des Christus bei der Kreuzigung »bis zur Irrelevanz« abgewertet. Als Beleg zitiert er Ausführungen Steiners über den christlich-gnostischen Schulungsweg.

Auf S. 829 schreibt Zander:

»Angesichts von Aussagen, in denen Steiner die leibliche Konstitution ›des Christus‹ bis zur Irrelevanz abwertete, wird er von Theologen in die doketische Tradition gestellt.159

Anmerkung 159:

Der Leib sei bei der Kreuzigung ›eigentlich ein gleichgültiges Objekt ... gegenüber der Seele‹ (GA 97, 188 [1907]).«

Zander zitiert Ausführungen Steiners über den »christlich-gnostischen Schulungsweg« aus dem Jahr 1906. Steiner spricht an der betreffenden Stelle nicht über die Kreuzigung, sondern über die Stufe des christlich-gnostischen Schulungsweges, auf der diese Kreuzigung vom Schüler mystisch nacherlebt wird. Ein weiteres Beispiel für Verfälschung durch falschen Kontext.

Im Original lautet die von Zander zitierte Passage:

»Viertens die Kreuztragung [Kreuzigung]: Hier soll dem Schüler zum Erlebnis werden, dass der Leib eigentlich ein gleichgültiges Objekt ist gegenüber der Seele und deren Wichtigkeit. Sind wir uns dessen wirklich bewusst, dann werden wir auch imstande sein, den Leib bloß als Instrument zu höheren Dingen zu benutzen, dann werden wir ihn wirklich beherrschen. Symptome: Erscheinen der Wundmale Christi als gerötete Stellen an Händen und Füßen. Diese Blutsprobe tritt freilich nur für Augenblicke während der Meditation auf. Innerliche Vision, dass man selber gekreuzigt werde.« (»Das christliche Mysterium«, GA 97, Vortrag vom 19. September 1906. Der Vortrag wird von Zander fälschlicherweise auf das Jahr 1907 datiert.)

Diese Passage stellt keine Interpretation des Kreuzigungsgeschehens und der Rolle der physischen Konstitution Christi bei der Kreuzigung dar. Die auf sie gestützte Behauptung, Steiner habe die »leibliche Konstitution des Christus bei der Kreuzigung bis zur Irrelevanz abgewertet« ist falsch.

Hätte sich Zander im von ihm zitierten Band etwas umgesehen, hätte er Ausführungen Steiners finden können, die auf die tiefere Bedeutung der Inkarnation Christi, der Fleischwerdung des Wortes, hindeuten und dessen physische Konstitution keineswegs bis zur Irrelevanz abwerten und zwar schon im Jahr 1906, im Vortrag vom 2. Dezember in Köln über das «Mysterium von Golgatha«.

Steiner führt hier aus:

»Könnten wir von einem fernen Stern herunterschauen auf die Erde durch lange Jahrtausende hindurch, so würden wir einen Zeitpunkt finden, wo Christus so auf der Erde wirkt, daß die ganze Astralmaterie von dem Christus durchdrungen ist. Der Christus ist der Erdengeist, und die Erde ist sein Leib. Alles, was auf der Erde lebt und sprießt und wächst, das ist der Christus. Er ist in all den Samenkörnern, in all den Bäumen und in allem, was auf der Erde wächst und sprießt. Darum mußte Christus hindeuten auf das Brot und sprechen: ›Das ist mein Leib.‹ Und von dem Saft der Weintrauben – beim Abendmahl handelte es sich nicht um einen schon gegorenen Wein – mußte er sagen: ›Dies ist mein Blut‹, denn der Saft der Früchte der Erde ist sein Blut. Die Menschheit muß ihm darum auch erscheinen wie Wesenheiten, die auf seinem Leibe umhergehen. Darum sprach er auch zu seinen Jüngern nach der Fußwaschung: ›Der mein Brot isset, der tritt mich mit Füßen.‹ Dieser Ausspruch ist wörtlich zu nehmen in dem Sinne, daß die Erde der Leib des Christus ist. Gerade dadurch, daß er sich zum Träger der Erdenentwickelung macht, würde ein ferner Geist sehen können, wie immer mehr von seinem Geist einfließt in die Menschen – das Hineinziehen der Substanz des Christus Jesus in jeden einzelnen Menschen hinein. Am Ende würde er die ganze Erde verwandelt sehen, verchristete Menschen tragend, durch Christus vergottete Menschen. Nur was nicht teilgenommen hat an dieser Vergottung, das wird als das Böse beiseite gesetzt. Das muß einen späteren Zeitpunkt für seine Entwickelung zum Guten abwarten.

Alle verschiedenen Völker vor dem Erscheinen des Christus auf der Erde hatten Mysterien. Es wurde dargestellt in den Mysterien, was in der Zukunft geschehen sollte. Die Schüler wurden durch lange Übungen darauf vorbereitet, daß sie die Grablegung durchmachen konnten. Der Hierophant konnte den Schüler dann in einen höheren Bewußtseinszustand bringen, wo er in einer Art von tiefem Schlaf war. In alten Zeiten mußte immer das Bewußtsein herabgedrückt werden, wenn das Göttliche im Menschen zum Vorschein kommen sollte. Da wurde die Seele durch die Regionen der geistigen Welt hindurchgeführt, und nach drei Tagen wurde der Mensch durch den Hierophanten wiederbelebt. Dann fühlte er sich als ein neuer Mensch. Er bekam einen neuen Namen. Er wurde dann ein Gottessohn genannt.

Dieser ganze Vorgang spielte sich im Mysterium von Golgatha draußen auf dem physischen Plan ab. Vorher wurden die Schüler durch einen Geistesfunken des Christus belebt, und es wurde ihnen gesagt: Es wird einmal Einer kommen, der es allen Menschen möglich machen wird, verchristet zu werden. Einer wird wirklich das Wort im Fleisch sein. Ihr könnt dies nur drei Tage lang erfahren, da durchwandelt ihr die Reiche der Himmel. Aber Einer wird kommen, der durchwandelt immer die Reiche der Himmel, der wird die Reiche der Himmel mit in die physische Welt hineintragen.

...

Der höchste Erdengeist mußte in einem Leibe inkarniert werden. Dieser Leib mußte absterben, getötet werden, das Blut mußte rinnen. Das bedeutet etwas Besonderes. Überall, wo Blut ist, ist das Selbst. Sollen alle alten Selbstgemeinschaften aufhören, dann muß die Selbstheit, die im Blute sitzt, einmal hingeopfert werden. Alle Einzelegoismen fließen hin mit dem Blute Christi am Kreuze. Das Blut der Stammesgemeinschaften wird ein gemeinsames Menschenblut dadurch, daß in jenem Zeitpunkt das Blut Christi geopfert worden ist.

Da geschah wieder etwas, was ein astraler Betrachter in der Astralatmosphäre hätte beobachten können: Die ganze astrale Atmosphäre der Erde änderte sich in dem Momente, wo er starb, so daß Ereignisse möglich waren, die früher nie möglich gewesen wären. Die plötzliche Initiation – wie bei Paulus – wäre früher nie möglich gewesen. Sie ist dadurch möglich geworden, daß durch das Fließen des Blutes Christi die ganze Menschheit zu einem gemeinschaftlichen Selbst geworden ist. Damals floß das Selbst aus dem Blute der Wunden Jesu. Nur die drei Leiber blieben am Kreuze hängen und wurden später wieder belebt von dem Auferstandenen.In dem Augenblicke als der Christus den Leib verließ, waren die drei Leiber so stark, daß sie imstande waren, selbst das Wort zu sprechen, was der Verklärte nach der Initiation gesprochen hat: ›Eli, Eli, lama sabachthani.‹«

GA 97, S. 69-76, Dornach 1981

In Steiners Bemerkung über Haeckel, dessen Forschungsergebnisse stellten das »erste Kapitel der Theosophie« dar, liest Zander dekontextualisierend eine »Verweltanschaulichung« und »ideologische Überhöhung« hinein.

Auf S. 861 schreibt Zander:

»›Die Haeckelschen Forschungsergebnisse bilden sozusagen das erste Kapitel der Theosophie oder Geisteswissenschaft‹ (GA 54, 20), befand Steiner 1905. Eine solche Verweltanschaulichung wird vor dem Hintergrund einer Deutungstradition verständlich, die die Entstehung der neuzeitlichen Naturwissenschaften als die Geschichte unabsehbarer Erkenntnisfortschritte und technischer Erfolge las. Neben aller ideologischen Überhöhung besaß diese Wahrnehmung einen ausgesprochen harten Kern ...«

Es ist schleierhaft, wie Zander zu dem Urteil kommt, Steiners Bemerkung stelle eine ideologische Überhöhung und Verweltanschaulichung – von was? – dar. Steiner weist im herangezogenen öffentlichen Vortrag »Haeckel, die Welträtsel und die Theosophie« vom 5. Oktober 1905 deutlich auf die Grenzen der Haeckelschen Forschung und der Naturwissenschaft im allgemeinen hin:

»Derjenige, welcher die ›Anthropogenie‹ Haeckels durchnimmt, der sieht, wie die Gestalt sich aufbaut von den einfachsten Lebewesen bis zu den kompliziertesten, von den einfachsten Organismen bis hinauf zum Menschen. Wer zu dem, was der Materialist sagt, noch den Geist hinzuzufügen versteht, der studiert in diesem Haeckelismus die schönste elementare Theosophie ... Mit den Mitteln der Naturforschung können wir ... in das Geistige nicht hineindringen. Die Naturforschung stützt sich darauf, was sinnlich wahrnehmbar ist. ... Nicht früher kann man über dasjenige etwas aussagen, was über das rein Materielle, das Sinnliche, hinausgeht, als bis – wovon der Naturforscher als solcher, wenn er nur auf das Sinnenfällige ausgeht, nichts wissen kann – Organe, geistige Augen geschaffen sind, die auch das sehen, was über das Sinnliche hinausgeht. Deshalb darf man nicht sagen, hier sind die Grenzen der Erkenntnis, sondern nur, hier sind die Grenzen der sinnlichen Erkenntnis. Der Naturforscher nimmt sinnlich wahr, ist aber nicht geistiger Seher. Seher muss er aber werden, um das schauen zu können, was der Mensch Geistiges in sich hat. Das ist es auch, was alle tiefere Weisheit in der Welt anstrebt, nicht eine bloße Erweiterung der sinnlichen Erkenntnis, dem Umkreise nach, sondern eine Erhöhung der menschlichen Fähigkeiten. Das ist auch der große Unterschied zwischen der heutigen Naturwissenschaft und dem, was die Theosophie lehrt.«

Steiner charakterisiert deutlich inwiefern die Theosophie die Naturwissenschaft ergänzt bzw. über sie hinausgeht. Inwiefern in dieser Abgrenzung eine »Verweltanschaulichung« oder »ideologische Überhöhung« – von was? – liegen soll, ist schleierhaft.

Steiners Ausführungen im Kontext:

»Wichtig ist es, dass das Sinnenfällige einmal seinem inneren Zusammenhange nach dargestellt wurde. Das ist im Grunde genommen durch Haeckel in einer großen und umfassenden Weise geschehen. Es ist so geschehen, dass derjenige, der sehen will, auch sehen kann, wie gerade das Geistige bei der Bildung der Formen wirksam ist, wo scheinbar nur die Materie waltet und webt. Daraus kann man viel lernen; man kann ersehen, wie man geistig den materiellen Zusammenhang in der Welt mit Ernst, Würde und Ausdauer erfasst. Derjenige, welcher die ›Anthropogenie‹ Haeckels durchnimmt, der sieht, wie die Gestalt sich aufbaut von den einfachsten Lebewesen bis zu den kompliziertesten, von den einfachsten Organismen bis hinauf zum Menschen. Wer zu dem, was der Materialist sagt, noch den Geist hinzuzufügen versteht, der studiert in diesem Haeckelismus die schönste elementare Theosophie.

Die Haeckelschen Forschungsresultate bilden sozusagen das erste Kapitel der Theosophie oder Geisteswissenschaft. Viel besser als durch irgend etwas anderes kann man sich in das Werden und Umgestalten der organischen Formen hineinfinden, wenn man seine Werke studiert. Allen Grund haben wir, zu zeigen, was durch den Fortschritt dieser vertieften Naturerkenntnis Großes geleistet wurde.

In den Zeiten, da Haeckel diesen Wunderbau aufgeführt hat, stand man den tieferen Rätseln der Menschheit als unlösbaren Problemen gegenüber. In einer rhetorisch glänzenden Rede hat Du Bois-Reymond im Jahre 1872 über die Grenzen der Naturforschung und des Naturerkennens gesprochen. Über weniges ist in den letzten Jahrzehnten mehr gesprochen worden als über diese Rede mit dem berühmten ›Ignorabimus‹. Sie war eine wichtige Tat und stellt einen wichtigen Gegensatz zu Haeckels eigener Entwickelung und seiner Lehre von der Abstammung des Menschen dar. In einer andern Rede hat Du Bois-Reymond als die großen Rätselfragen des Daseins, die der Naturforscher nur teilweise oder gar nicht beantworten kann, ›Sieben Welträtsel‹ aufgestellt, nämlich:

1. Den Ursprung von Kraft und Materie.

2. Wie ist in diese ruhende Materie die erste Bewegung hineingekommen ?

3. Wie ist innerhalb der bewegten Materie Leben entstanden?

4. Wie erklärt es sich, dass in der Natur so vieles ist, das den Stempel der Zweckmäßigkeit an sich trägt, wie sie nur bei den von der menschlichen Vernunft ausgeführten Taten vorhanden zu sein pflegt?

5. Wie erklärt es sich, da, wenn wir unser Gehirn untersuchen könnten, wir doch nur durcheinanderwirbelnde kleine Kügelchen finden würden, dass diese Kügelchen es zustande bringen, dass ich ›rot‹ sehe, Orgelton höre, Schmerz empfinde und so weiter? – Denken Sie sich wirbelnde Atome und es wird Ihnen sofort klar sein, dass nie die Empfindung daraus entstehen kann, die sich ausdrückt in den Worten, ›ich sehe rot, ich rieche Rosenduft und so weiter‹.

6. Wie entwickelt sich innerhalb der Lebewesen Verstand, Vernunft, das Denken und die Sprache?

7. Wie kann ein freier Wille entstehen in einem Wesen, das so gebunden ist, dass jede Handlung hervorgerufen werden muss durch das Wirbeln der Atome?

In Anknüpfung an diese ›Welträtsel‹ von Du Bois-Reymond hat Haeckel eben sein Buch ›Die Welträtsel‹ genannt. Er wollte die Antwort auf die Ausführungen Du Bois-Reymonds geben. Eine besonders wichtige Stelle ist in jener Rede Du Bois-Reymonds, die er über die Grenzen des Naturerkennens gehalten hat. Auf diese wichtige Stelle werden wir hingeführt und können durch sie zur Theosophie hinübergeleitet werden.

Als Du Bois-Reymond in Leipzig vor den Naturforschern und Ärzten sprach, da schaute der Geist der Naturforschung aus nach einer reinen, freieren und höheren Luft, nach der Luft, welche in die theosophische Weltanschauung führte. Du Bois-Reymond sagte damals folgendes: Wenn wir den Menschen naturwissenschaftlich betrachten, so ist er für uns ein Zusammenwirken unbewusster Atome. Den Menschen naturwissenschaftlich erklären, heißt diese Atombewegungen bis ins letzte hinein verstehen. – Er meint, wenn man in der Lage ist, anzugeben, wie die Bewegung der Atome an irgendeiner Stelle des Gehirns ist, wenn man sagt, ›ich denke‹, oder ›gib mir einen Apfel‹, so hat man dieses Problem naturwissenschaftlich gelöst. Du Bois-Reymond nennt dieses die ›astronomische‹ Erkenntnis des Menschen. Wie ein Sternenhimmel im kleinen würden sich die bewegten Gruppen von menschlichen Atomen ausnehmen. Was man da nicht begriffen hat, ist der Umstand, wie es kommt, dass in dem Bewusstsein des Menschen, von dem ich, sagen wir, ganz genau weiß, so und so bewegen sich seine Atome – Empfindung, Gefühl und Gedanke entstehen. Das kann keine Naturwissenschaft feststellen. Wie das Bewusstsein entsteht, kann keine Naturwissenschaft sagen. Du Bois-Reymond schloss nun wie folgt: Beim schlafenden Menschen, der sich der Empfindung nicht bewusst ist, die sich ausdrückt in den Worten: ›ich sehe rot‹, haben wir die physische Gruppe der bewegten Körperteile vor uns. Bezüglich dieses schlafenden Körpers brauchen wir nicht zu sagen: ›Wir werden nicht wissen‹, ›Ignorabimus‹. Den schlafenden Menschen können wir verstehen. Der wache Mensch ist dagegen für keinen Naturforscher verständlich. Im schlafenden Menschen ist das nicht vorhanden, was beim wachenden vorhanden ist, nämlich das Bewusstsein, durch das er uns als Geisteswesen entgegentritt.

Damals war bei der Mutlosigkeit der Naturwissenschaft ein weiteres Vordringen nicht möglich; man konnte damals noch nicht an Theosophie oder Geisteswissenschaft denken, weil die Naturwissenschaft scharf den die Grenze bezeichnenden Punkt hingesetzt hatte, bis wohin sie in ihrer Weise gehen will. Wegen dieser Selbstbeschränkung, die sich die Naturforschung hiermit auferlegt hat, hat die theosophische Weltanschauung in derselben Zeit ihren Anfang genommen. Niemand wird behaupten, dass der Mensch, wenn er abends einschläft und des Morgens wieder aufwacht, am Abend aufhöre zu sein und am nächsten Morgen von neuem entstehe. Dennoch sagt Du Bois-Reymond, dass in der Nacht beim Menschen dasjenige nicht da ist, was bei Tag in ihm vorhanden ist. Hier liegt für die theosophische Weltanschauung die Möglichkeit einzusetzen. Das Sinnesbewusstsein spricht nicht bei dem schlafenden Menschen. Indem aber der Naturforscher sich darauf stützt, was dieses Sinnesbewusstsein vermittelt, so kann er nichts über das, was darüber hinausgeht, über das Geistige, sagen, weil ihm dadurch gerade dasjenige fehlt, was den Menschen zum geistigen Wesen macht. Mit den Mitteln der Naturforschung können wir also in das Geistige nicht hineindringen. Die Naturforschung stützt sich darauf, was sinnlich wahrnehmbar ist. Was nicht mehr wahrnehmbar ist, wenn der Mensch schläft, das kann nicht Objekt ihrer Forschung sein. In diesem, bei dem schlafenden Menschen nicht mehr wahrnehmbaren Etwas haben wir aber gerade die Wesenheit zu suchen, die den Menschen zum Geisteswesen macht. Nicht früher kann man über dasjenige etwas aussagen, was über das rein Materielle, das Sinnliche, hinausgeht, als bis – wovon der Naturforscher als solcher, wenn er nur auf das Sinnenfällige ausgeht, nichts wissen kann – Organe, geistige Augen geschaffen sind, die auch das sehen, was über das Sinnliche hinausgeht. Deshalb darf man nicht sagen, hier sind die Grenzen der Erkenntnis, sondern nur, hier sind die Grenzen der sinnlichen Erkenntnis. Der Naturforscher nimmt sinnlich wahr, ist aber nicht geistiger Seher. Seher muss er aber werden, um das schauen zu können, was der Mensch Geistiges in sich hat. Das ist es auch, was alle tiefere Weisheit in der Welt anstrebt, nicht eine bloße Erweiterung der sinnlichen Erkenntnis, dem Umkreise nach, sondern eine Erhöhung der menschlichen Fähigkeiten. Das ist auch der große Unterschied zwischen der heutigen Naturwissenschaft und dem, was die Theosophie lehrt. Der Naturforscher sagt sich: Der Mensch hat Sinne, mit denen er wahrnimmt, und einen Verstand, mit dem er die Sinneswahrnehmungen kombiniert. Was man damit nicht erreichen kann, das liegt außerhalb der naturwissenschaftlichen Erkenntnis. - Die Theosophie hat eine andere Anschauung. Sie sagt: Du hast recht, Naturforscher, wenn du von deinem Standpunkte aus urteilst, du hast damit genau so recht, wie der Blinde von seinem Standpunkte aus recht hat zu sagen, die Welt sei licht- und farbenlos.

Ich mache keine Einwendungen gegen den naturwissenschaftlichen Standpunkt; ich möchte ihm nur die Anschauung der Theosophie oder Geisteswissenschaft gegenüberstellen, welche sagt: Es ist möglich, nein, es ist sicher, dass der Mensch nicht stehenzubleiben braucht auf dem Standpunkte, auf welchem er heute steht. Es ist möglich, dass sich Organe, Geistesaugen entwickeln, in ähnlicher Weise, wie sich in diesem physischen Leibe Sinnesorgane, Augen und Ohren, entwickelt haben. Sind diese Organe entwickelt, dann treten höhere Fähigkeiten auf. Das muss man zunächst glauben – nein, man braucht es nicht einmal zu glauben, man nehme es nur unbefangen als eine Erzählung hin. So wahr aber, wie nicht alle Gläubigen der ›Natürlichen Schöpfungsgeschichte‹ gesehen haben, was in ihr an Tatsachen angeführt ist – denn wie viele sind es, die diese Tatsachen wirklich gesehen haben –, ebensowenig kann man die Tatsache der Erkenntnis des Übersinnlichen hier jedermann vorweisen. Es gibt für den gewöhnlichen Sinnenmenschen keine Möglichkeit, in dieses Gebiet hineinzukommen. Wir können nur mit Hilfe der okkulten Forschungsmethoden in die geistigen Gebiete hineingelangen. Wenn der Mensch sich zu einem Werkzeug umwandelt für die höheren Kräfte, um hineinzuschauen in die dem Sinnenmenschen verborgenen Welten, dann treten in ihm ... ganz besondere Erscheinungen auf. Der gewöhnliche Mensch ist nicht imstande, sich selbst zu schauen oder die Gegenstände in seiner Umgebung bewusst in sich aufzunehmen, wenn seine Sinne schlafen. Wenn aber der Mensch die okkulte Forschungsmethode anwendet, dann hört diese Unfähigkeit auf, und er fängt dann an, in einer bewussten Weise die Eindrücke in der astralen Welt wahrzunehmen.«

Rudolf Steiner, »Haeckel, die Welträtsel und die Theosophie«, in: GA 54, Die Welträtsel und die Anthroposophie, Dornach 1985 (tb), S. 19-25.

Manchmal sichert Zander auch eine an sich richtige  – wenn auch von ihm verengte – These mit einem falschen Beleg ab. So meint er, Steiner habe eine Methodenidentität zwischen der Naturwissenschaft und der von ihm vertretenen Geisteswissenschaft vertreten. Besser wäre es, statt von Identität von Verwandtschaft oder Analogie zu sprechen.

Auf S. 874 schreibt Zander:

»1900 umschrieb Steiner diesen Anspruch auf eine gleichgerichtete Methodologie folgendermaßen:

› Nun gibt es zwei Möglichkeiten, das eine Wesen, das Geist und Natur zugleich ist, zu beschreiben. Die eine ist: ich zeige die Naturgesetze auf, die in Wirklichkeit tätig sind. Oder ich zeige, wie der Geist es macht, um zu diesen Gesetzen zu kommen. Beide Male leitet mich eines und dasselbe. ... In dem einen Falle treibe ich Natur-, in dem anderen Geisteswissenschaft.‹ (GA 18, 215)

In Wahrheit stellen diese Äußerungen nicht Steiners Auffassungen dar, sondern die Auffassungen Schellings, die Steiner an der betreffenden Stelle referiert. Steiner bringt im Kontext des Zitates nirgends zum Ausdruck, er selbst schließe sich diesen Auffassungen Schellings an.

»Die eigentliche Meinung Schellings über diese Einheit von Natur und Geist ist selten richtig erfasst worden. Man muss sich ganz in seine Vorstellungsart versetzen, wenn man darunter nicht eine Trivialität oder eine Absurdität verstehen will.

Hier soll, um diese Vorstellungsart zu verdeutlichen, auf einen Satz in seinem Buche ›Von der Weltseele‹ hingewiesen werden, in dem er sich über die Natur der Schwerkraft ausspricht.

Viele sehen eine Schwierigkeit in diesem Begriffe, weil er eine sogenannte ›Wirkung in der Ferne‹ voraussetzt. Die Sonne wirkt anziehend auf die Erde, trotzdem nichts zwischen Sonne und Erde ist, was diese Anziehung vermittelt. Man muss sich denken, dass die Sonne durch den Raum hindurch ihre Wirkungssphäre auf Orte ausdehnt, an denen sie nicht ist. Diejenigen, die in grobsinnlichen Vorstellungen leben, sehen in einem solchen Gedanken eine Schwierigkeit.

Wie kann ein Körper da wirken, wo er nicht ist? Schelling kehrt den ganzen Gedankenprozess um. Er sagt: ›Es ist sehr wahr, dass ein Körper nur da wirkt, wo er ist, aber es ist ebenso wahr, dass er nur da ist, wo er wirkt.‹

Wenn wir die Sonne durch die Anziehungskraft auf unsere Erde wirken sehen, so folgt daraus, dass sie sich in ihrem Sein bis auf unsere Erde erstreckt und dass wir kein Recht haben, ihr Dasein nur an den Ort zu versetzen, an dem sie durch ihre Sichtbarkeit wirkt. Die Sonne geht mit ihrem Sein über die Grenzen hinaus, innerhalb deren sie sichtbar ist; nur einen Teil ihres Wesens sieht man; der andere gibt sich durch die Anziehung zu erkennen.

So ungefähr müssen wir uns auch das Verhältnis des Geistes zur Natur denken. Der Geist ist nicht nur da, wo er wahrgenommen wird, sondern auch da, wo er wahrnimmt. Sein Wesen erstreckt sich bis an die fernsten Orte, an denen er noch Gegenstände beobachten kann. Er umspannt und durchdringt die ganze ihm bekannte Natur. Wenn er das Gesetz eines äußeren Vorganges denkt, so bleibt dieser Vorgang nicht außen liegen, und der Geist nimmt bloß ein Spiegelbild auf, sondern dieser strömt sein Wesen in den Vorgang hinein; er durchdringt den Vorgang, und wenn er dann das Gesetz desselben findet, so spricht nicht er es in seinem abgesonderten Gehirnwinkel aus, sondern das Gesetz spricht sich selbst aus. Der Geist ist dorthin gegangen, wo das Gesetz wirkt. Hätte er es nicht beachtet, so hätte es auch gewirkt; aber es wäre nicht ausgesprochen worden. Da der Geist in den Vorgang gleichsam hineinkriecht, so wird das Gesetz auch noch außerdem, dass es wirkt, als Idee, als Begriff ausgesprochen. Nur wenn der Geist auf die Natur keine Rücksicht nimmt und sich selbst anschaut, dann kommt es ihm vor, als wenn er abgesondert von der Natur wäre, wie es dem Auge vorkommt, dass die Sonne innerhalb eines gewissen Raumes eingeschlossen ist, wenn davon abgesehen wird, dass sie auch da ist, wo sie durch Anziehung wirkt. Lasse ich also in meinem Geiste die Ideen entstehen, die Naturgesetze ausdrücken, so ist ebenso wahr, wie die eine Behauptung: dass ich die Natur schaffe, die andere: dass sich in mir die Natur selbst schafft.

Nun gibt es zwei Möglichkeiten, das eine Wesen, das Geist und Natur zugleich ist, zu beschreiben. Die eine ist: ich zeige die Naturgesetze auf, die in Wirklichkeit tätig sind. Oder ich zeige, wie der Geist es macht, um zu diesen Gesetzen zu kommen. Beide male leitet mich eines und dasselbe. Das eine mal zeigt mir die Gesetzmäßigkeit, wie sie in der Natur wirksam ist; das andere mal zeigt mir der Geist, was er beginnt, um sich dieselbe Gesetzmäßigkeit vorzustellen. In dem einen Falle treibe ich Natur-, in dem anderen Geisteswissenschaft. Wie diese beiden zusammengehören, beschreibt Schelling in anziehender Weise: ›Die notwendige Tendenz aller Naturwissenschaft ist, von der Natur aufs Intelligente zu kommen. Dies und nichts anderes liegt dem Bestreben zugrunde, in die Naturerscheinungen Theorie zu bringen. Die höchste Vervollkommnung der Naturwissenschaft wäre die vollkommene Vergeistigung aller Naturgesetze zu Gesetzen des Anschauens und des Denkens. Die Phänomene (das Materielle) müssen völlig verschwinden und nur die Gesetze (das Formelle) bleiben. Daher kommt es, dass, je mehr in der Natur selbst das Gesetzmäßige hervorbricht, desto mehr die Hülle verschwindet, die Phänomene selbst geistiger werden und zuletzt völlig aufhören. Die optischen Phänomene sind nichts anderes als eine Geometrie, deren Linien durch das Licht gezogen werden, und dieses Licht selbst ist schon zweideutiger Materialität.

In den Erscheinungen des Magnetismus verschwindet schon alle materielle Spur, und von den Phänomenen der Schwerkraft, welche selbst Naturforscher nur als unmittelbar geistige Einwirkung Wirkung in die Ferne begreifen zu können glaubten, bleibt nichts zurück als ihr Gesetz, dessen Ausführung im großen der Mechanismus der Himmelsbewegungen ist. Die vollendete Theorie der Natur würde diejenige sein, kraft welcher die ganze Natur sich in eine Intelligenz auflöste. Die toten und bewusstlosen Produkte der Natur sind nur misslungene Versuche der Natur, sich selbst zu reflektieren, die sogenannte Natur aber überhaupt eine unreife Intelligenz, daher in ihren Phänomenen noch bewusstlos schon der intelligente Charakter durchblickt. Das höchste Ziel, sich selbst ganz Objekt zu werden, erreicht die Natur erst durch die höchste und letzte Reflexion, welche nichts anderes als der Mensch, oder allgemeiner das ist, was wir Vernunft nennen, durch welche zuerst die Natur vollständig in sich selbst zurückkehrt, und wodurch offenbar wird, dass die Natur ursprünglich identisch ist mit dem, was in uns als Intelligentes und Bewusstes erkannt wird.» In ein kunstvolles Netz von Gedanken spann Schelling die Tatsachen der Natur ein, so dass alle ihre Erscheinungen wie ein idealer harmonischer Organismus vor seiner schaffenden Phantasie standen.« (Welt- und Lebensanschauungen im 19. Jahrhundert, Berlin 1900, S. 79-81; Zander zitiert nicht nach der ersten Auflage; er verweist auf GA 18, S. 215.)

Mitunter fällt auch anderen Autoren auf, wie »leichtfertig« Zander mit historischen Tatsachen umgeht und in welchem Ausmaß er durch seine Dekontextualisierungen das Bild der geistigen Entwicklung Steiners verfälscht. Einer dieser Autoren ist Hartmut Traub, der Zanders These vom »Atheisten« Steiner in seinem Werk »Philosophie und Anthroposophie« vehement widerspricht.

Zander schreibt auf S. 919 in einer Fußnote:

»Immanuel Hermann Fichte (1796-1879) kam 1894 nur als Herausgeber von Werken seines Vaters vor (GA 31, 429), wurde aber 1916 unter der Rubrik ›Eine vergessene Strömung im deutschen Geistesleben‹ mehrfach erwähnt; mehr als ein name-dropping war dies aber nicht (GA 20,63. 65. 68. 120. 166 f. 175). Engere Bezugnahmen wären angesichts von Fichtes Selbstverständnis als Theist (vgl. Hermann: Philosophie Immanuel Hermann Fichtes, 91-98) auch schwierig geworden.«

Traub kommentiert diese Fußnote wie folgt:

»An dieser Fußnote zu I.H. Fichte ist nahezu alles sachlich unzutreffend. Schon die Zuordnung in das Kapitel ›Weitere romantische Naturphilosophen‹, in dem Zander naturphilosophische Denker vorstellt, die Steiner gekannt und mit denen er sich auseinander gesetzt hat, ist irreführend. Denn weder I.H. Fichtes ›speculative Theologie‹ noch seine ›Ethik‹, seine ›Anthropologie‹ oder ›Psychologie‹ lassen sich als ›romantische Naturphilosophie‹ verstehen. Die Philosophie I.H. Fichtes ist keine Naturphilosophie. Sie unter dieser Überschrift abzuhandeln, lässt sich weder sachlich noch geistesgeschichtlich rechtfertigen.

Unzutreffend an der Fußnote zum Fichte-Sohn ist ebenfalls, dass dessen Erwähnung bei Steiner nicht mehr als ein ›name-dropping‹ gewesen sei. Zander stützt diese Behauptung auf die mehrfache Erwähnung I.H. Fichtes in Steiners ›Eine vergessene Strömung im deutschen Geistesleben‹ (GA 20). Ein Blick in den Text zeigt aber, dass sich Steiner mit den für seine Anthroposophie einschlägigen Passagen aus Fichtes Anthropologie mehr als nur oberflächlich auseinander gesetzt hat. Auf andere ... Bezugnahmen Steiners auf I.H. Fichtes als einen bedeutenden Vorläufer und Bezugspunkt zur eigenen Anthroposophie (unter anderem GA 35, 215 ff.; 311 ff.; 66, 161 ff.) geht Zander nicht ein. Vielmehr wird behauptet, dass ›engere Bezugnahmen‹ Steiners zu I.H. Fichte › angesichts von Fichtes Selbstverständnis als Theist [...] auch schwierig geworden‹ wären (ebd.).

An dieser These ist allenfalls zutreffend, dass Steiner sich wohl wenig für I.H. Fichtes ›speculative Theologie‹ interessiert hat. Fraglich ist, ob er sie überhaupt einmal in der Hand gehabt hat. Damit ist Steiners Beziehung zu I.H. Fichte jedoch keineswegs erschöpft. Denn was Steiner interessierte, – und darauf ist er auch inhaltlich wiederholt und ausführlich eingegangen –, das war I.H. Fichtes Anthropologie. Hier richtete sich Steiners Aufmerksamkeit auf die darin weiträumig entfaltete Leib-Seele-Geistlehre, auf die anthroposophisch bedeutsame These vom ›inneren Menschen‹ sowie auf die ›Neubegründung‹ einer psychologischen Anthropologie und Anthroposophie ›auf naturwissenschatlichem Wege‹. Wie eng diese Bezugnahme Steiners zu I.H. Fichtes Anthropologie gesehen werden kann, lässt der Blick auf die (Unter)titel von Steiners Philosophie der Freiheit und I.H. Fichtes Anthropologie erkennen. Letztere heißt: ›Die Lehre von der menschlichen Seele. Neubegründet auf naturwissenschaftlichem Wege.‹ Steiner untertitelt seine Philosophie der Freiheit bekanntlich im Jahre 1918: ›Seelische Beobachtungsresultate nach naturwissenschaftlicher Methode‹ (GA 4; GA 4a, 241). Steiners Interesse galt also weniger dem ›speculativen Theisten‹ als vielmehr dem anthropologischen Psychologen I.H. Fichte.

Unterstreichen lässt sich dieser werkgeschichtliche Zusammenhang zwischen I.H. Fichte und Rudolf Steiner auch durch die in der Steiner-Forschung vertretene These, dass die Philosophie der Freiheit weniger eine Erkenntnistheorie und Ethik, sondern vielmehr als eine ›philosophische Anthropologie‹ gelesen werrden müsse ... Denn nicht nur im psychologischen Leitthema beider Bücher und ihrem methodologischen Selbstverständnis, sondern auch in ihrem anthropologisch-anthroposophischen Grundanliegen verfolgen Steiner und I.H. Fichte dasselbe Ziel: Die Neujustierung und Neugestaltung einer modernen Anthropologie.

In diesem Punkt gestaltet sich somit die Möglichkeit einer vergleichenden Untersuchung zwischen Steiner und I.H. Fichte nicht, wie Zander behauptet, schwierig , sondern im Gegenteil: Sie bietet sich vielmehr an, ja, sie drängt sich geradewegs auf. Steiners Auseinandersetzung mit I.H. Fichte, auch das zeigen schon die wenigen Andeutungen, ist offensichtlich mehr als ein bloßes ›name-dropping‹.

Wollte man nun darüber hinaus auf Zanders Behauptung, dass engere Beziehungen zwichen I.H. Fichte und Rudolf Steiner wegen Fichtes ›speculativem Theismus‹ schwierig herzustellen seien, näher eingehen, so wäre dabei zunächst einmal ein möglicher Bezugspunkt in der Sache auszumachen. Auch das ist nicht unmöglich. denn ein solcher Bezugspunkt ließe sich etwa in Steiners eigener ›Gotteslehre‹ im Kapitel ›Letzte Fragen‹ in der Philosophie der Freiheit oder in späteren ›theosophischen‹, theologischen und christologischen Schriften und Äußerungen ausmachen (etwa: GA 51, 313 ff.; GA 8). Ein kritischer Vergleich von Steiner und I.H. Fichte könnte sich somit auch in dieser Sache als interessantes und wohl auch ertragreiches Forschungsprojekt erweisen.«

Hartmut Traub, »Philosophie und Anthroposophie. Die philosophische Weltanschauung Rudolf Steiners - Grundlegung und Kritik«, Stuttgart 2011, S. 902-904

Traub widmet Steiners »Gotteslehre« in der »Philosophie der Freiheit« eine ausführliche Untersuchung und widerspricht in diesem Zusammenhang wiederholt der Zanderschen These, Steiner sei in den 1890er Jahren zum »Atheisten« geworden, zum Beispiel in der folgenden Passage:

»Wenn man, wie Zander es tut, davon spricht, dass bei Steiner – etwa um die Jahrhundertwende – eine geistige Neuorientierung zur Theosophie und Anthroposophie eingesetzt habe, dann ist es dieser These dienlich, die Unterschiede anzugeben, an denen sich eine solche Veränderung ablesen lässt. Sicherlich ist Steiners »Wende zur Theosophie« keine solche, die sich durch die von Zander gezogene Demarkationslinie kennzeichnen lässt, die den »atheistischen« Steiner des 19. vom »theosophischen« Steiner des 20. Jahrhunderts unterscheidet. Denn Steiner hatte .... bereits im letzten Kapitel der Philosophie der Freiheit explizit eine »monistische Theologie« vertreten und seine Kirchen- und Religionskritik lässt ... deutliche Akzente eines eigenständigen (katholisch-)christlichen Bekenntnisses mit mystisch-asketischen Zügen erkennen ...

Die unübersehbaren impliziten und expliziten theologischen und religiösen Züge der Philosophie der Freiheit lassen die Annahme einer solchen Phasentrennung in der Entwicklung der philosophischen Weltanschauung Rudolf Steiners nicht zu. Noch weniger lässt sich – mit Blick auf die offensichtlichen religiösen Stränge in der Philosophie der Freiheit – Zanders These von der Wende des frühen atheistischen zum späteren theosophischen Steiner aufrecht erhalten.«

Hartmut Traub in »Philosophie und Anthroposophie. Die philosophische Weltanschauung Rudolf Steiners - Grundlegung und Kritik«, Stuttgart 2011, S. 933.