Zander versteht auch einen Artikel falsch, den Steiner aus Anlass der Thronrede Kaiser Wilhelm II. am 1. Juli 1888 in der »Deutschen Wochenschrift« veröffentlichte.

Zander schreibt auf S. 1243:

»Die Thronrede des 29jährigen ›neuen Herrschers‹ Wilhelm II., den er als Vorbild an ›Selbstlosigkeit‹ feierte, sei eine ›wahrhaft großartige Botschaft an das deutsche Volk‹, durch die ein ›historischer Zug‹ gehe (GA 31, 130) und die den ›Strebungen des Volksgeistes und nationalen Sinnes im vollsten Maße Rechnung‹ trage (ebd., 132.)«

In seinem Aufsatz über die Thronrede Kaiser Wilhelms II. Ende Juni 1888 schwingt sich Steiner vollends zur satirischen Meisterschaft auf.

Den ironischen Hintersinn dieses Aufsatzes (»Des Kaisers Worte« [sic!] in: Deutsche Wochenschrift, 1888, VI. Jg., Nr. 26, abgedruckt in GA 31, Dornach 1989, S. 130 f.) vermag nur zu verkennen, wer weder mit Steiners wirklicher geistiger Orientierung vertraut ist, noch mit den Feinheiten seiner hyperbolischen Rhetorik. Will man nicht annehmen, dass sich der Autor in einem Delirium befand, als er seinen Artikel schrieb, sollte man in Erwägung ziehen, dass es sich um eine politische Parodie handelt.

Der neue deutsche Kaiser, so Steiner ironisch salbungsvoll, lasse sein Volk »über keine wichtige Frage« im Unklaren, er habe mit »inhaltsschweren Worten« deutlich »vom Thron herab« verkündet, welche Wege er künftig wandeln wolle –nämlich keine Wege in die Zukunft (»der Kaiser sprach kein Zukunftsprogramm aus«), sondern Wege in die Vergangenheit. Der Kaiser habe eine »wahrhaft großartige Botschaft an das deutsche Volk« verkündet. Sie zeuge von einem »tiefen Einblick des neuen Herrschers« in die »geschichtliche Notwendigkeit«, in deren Dienst er sich »selbstlos« stelle, um fernab jedes Parteistandpunktes und jedes »Muckertums« die Konsolidierung der staatlichen Verhältnisse im Sinne des deutschen Volksgeistes anzustreben. Wie sein »Großvater und sein erhabener Vater« wolle er wirken. Damit wende er sich an »jenen wahrhaft konservativen Sinn der Deutschen«, der »allem hohlen Radikalismus abgeneigt« sei.

Seine Worte zum deutsch-österreichischen Bündnis erfüllten alle Deutschen »mit innigster Freude«, sie hätten nicht zu hoffen gewagt, dass ihr »einheitliches Fühlen« »vom Throne herab« mit solcher Bestimmtheit ausgesprochen würde. Steiner spricht sogar von »wahrhaft balsamischen Worten«. Jeder Satz der Rede des neuen Herrschers sei »der Weltgeschichte abgelauscht«.

Lobend hebt Steiner an Wilhelms Rede hervor, dass er sich vom Militarismus, dem angeblich seine persönliche Vorliebe gehöre, distanziere, und dem Heer lediglich Verteidigungsaufgaben und die Sicherung des Friedens zuweise.

Der deutsche Kaiser habe ein »tiefes Verständnis« dafür, dass in seinem Geist »der Volkswille zum Regierungsgrundsatz werden« müsse, nicht der Geist einer Partei.

Damit proklamiert Steiner Wilhelm den Zweiten zur Verkörperung des volonté générale, zum »Weltgeist auf dem Pferd«, und überhöht seine Bedeutung ins Absurde. Denn er gesteht dem deutschen Herrscher ein »tiefes Verständnis« einer Idee zu, die das Ancien Régime des französischen Absolutismus vor den demokratischen und liberalen Revolutionen des 18. und 19. Jahrhunderts kennzeichnete, einer Idee, die in die Formel zusammengefasst wurde: »l’état ç’est moi«.

All dies verkündet der Autor, der zwei Jahre zuvor geschrieben hatte: »Der Mensch lässt sich nicht von einer äußeren Macht Gesetze geben, er ist sein eigener Gesetzgeber. ... Wenn der Mensch nicht in sich die Gründe seines Handelns trägt, sondern sich nach Geboten richten muss, so handelt er unter einem Zwange, er steht unter einer Notwendigkeit, fast wie ein bloßes Naturwesen ... Die Verfassung, die sich ein Volk gibt, muss aus seinem innersten Wesen heraus entwickelt werden.« (»Grundlinien einer Erkenntnistheorie ... «, S. 124 und 123.)

Derselbe Autor der ein Jahr zuvor geschrieben hatte:

»Einen Weltlenker, der außerhalb unserer selbst unseren Handlungen Ziel und Richtung setzte, kennen wir nicht. Der Weltlenker hat sich seiner Macht begeben, hat alles an den Menschen abgegeben, mit Vernichtung seines Sonderdaseins, und dem Menschen die Aufgabe zuerteilt: wirke weiter. ... Damit ist die hier vorgetragene Philosophie die wahre Freiheitsphilosophie. Sie lässt für die menschlichen Handlungen weder die Naturnotwendigkeit gelten, noch den Einfluss eines außerweltlichen Schöpfers oder Weltlenkers. Der Mensch wäre in dem einen wie in dem andern Fall unfrei. Wirkte in ihm die Naturnotwendigkeit wie in den anderen Wesen, dann vollführte er seine Taten aus Zwang, dann wäre auch bei ihm ein Zurückgehen auf Bedingungen notwendig, die dem erscheinenden Dasein zugrunde liegen und von Freiheit keine Rede ... Allein weder als erkennendes noch als wahrhaft ethisches Wesen ist sein Auftreten aus bloßen Naturgesetzen einzusehen. Da tritt er eben aus der Sphäre der Naturwirklichkeiten heraus. Und für diese höchste Potenz seines Daseins, die mehr Ideal als Wirklichkeit ist, gilt das hier Festgestellte. Des Menschen Lebensweg besteht darinnen, dass er sich vom Naturwesen zu einem solchen entwickelt, wie wir es hier kennengelernt haben; er soll sich frei machen von allen Naturgesetzen und sein eigener Gesetzgeber werden.

...

Der Mensch gehört nun nicht allein sich selbst; er gehört als Glied zwei höheren Totalitäten an. Erstens ist er ein Glied seines Volkes, mit dem ihn gemeinschaftliche Sitten, ein gemeinschaftliches Kulturleben, eine Sprache und gemeinsame Anschauung vereinigen. Dann aber ist er auch ein Bürger der Geschichte, das einzelne Glied in dem großen historischen Prozesse der Menschheitsentwicklung.

Durch diese doppelte Zugehörigkeit zu einem Ganzen scheint sein freies Handeln beeinträchtigt. Was er tut, scheint nicht allein ein Ausfluss seines eigenen individuellen Ichs zu sein; er erscheint bedingt durch die Gemeinsamkeiten, die er mit seinem Volke hat, seine Individualität scheint durch den Volkscharakter vernichtet. Bin ich denn dann noch frei, wenn man meine Handlungen nicht allein aus meiner, sondern wesentlich auch aus der Natur meines Volkes erklärlich findet? Handle ich da nicht deshalb so, weil mich die Natur gerade zum Gliede dieser Volksgenossenschaft gemacht hat?

Und mit der zweiten Zugehörigkeit ist es nicht anders. Die Geschichte weist mir den Platz meines Wirkens an. Ich bin von der Kulturepoche abhängig, in der ich geboren bin; ich bin ein Kind meiner Zeit.

Wenn man aber den Menschen zugleich als erkennendes und handelndes Wesen auffasst, dann löst sich dieser Widerspruch. Durch sein Erkenntnisvermögen dringt der Mensch in den Charakter seiner Volksindividualität ein; es wird ihm klar, wohin seine Mitbürger steuern. Wovon er so bedingt erscheint, das überwindet er und nimmt es als vollerkannte Vorstellung in sich auf; es wird in ihm individuell und erhält ganz den persönlichen Charakter, den das Wirken aus Freiheit hat.

Ebenso stellt sich die Sache mit der historischen Entwicklung, innerhalb welcher der Mensch auftritt. Er erhebt sich zur Erkenntnis der leitenden Ideen, der sittlichen Kräfte, die da walten; und dann wirken sie nicht mehr als ihn bedingende, sondern sie werden in ihm zu individuellen Triebkräften.

Der Mensch muss sich eben hinaufarbeiten, damit er nicht geleitet werde, sondern sich selbst leite. Er muss sich nicht blindlings von seinem Volkscharakter führen lassen, sondern sich zur Erkenntnis desselben erheben, damit er bewusst im Sinne seines Volkes handle. Er darf sich nicht von dem Kulturfortschritte tragen lassen, sondern er muss die Ideen seiner Zeit zu seinen eigenen machen.

Dazu ist vor allem notwendig, dass der Mensch seine Zeit verstehe. Dann wird er mit Freiheit ihre Aufgabe erfüllen, dann wird er mit seiner eigenen Arbeit an der rechten Stelle ansetzen.

...

Gustav Freytag sagt in der Vorrede zum ersten Bande seiner ›Bilder aus der deutschen Vergangenheit‹ [Leipzig 1859]: ›Alle großen Schöpfungen der Volkskraft, angestammte Religion, Sitte, Recht, Staatsbildung sind für uns nicht mehr die Resultate einzelner Männer, sie sind organische Schöpfungen eines hohen Lebens, welches zu jeder Zeit nur durch das Individuum zur Erscheinung kommt, und zu jeder Zeit den geistigen Gehalt der Individuen in sich zu einem mächtigen Ganzen zusammenfasst ... So darf man wohl, ohne etwas Mystisches zu sagen, von einer Volksseele sprechen. ... Aber nicht mehr bewusst, wie die Willenskraft eines Mannes, arbeitet das Leben eines Volkes. Das Freie, Verständige in der Geschichte vertritt der Mann, die Volkskraft wirkt unablässig mit dem dunklen Zwang einer Urgewalt.‹

Hätte Freytag dieses Leben des Volkes untersucht, so hätte er wohl gefunden, dass es sich in das Wirken einer Summe von Einzelindividuen auflöst, die jenen dunklen Zwang überwinden, das Unbewusste in ihr Bewusstsein heraufheben, und er hätte gesehen, wie das aus den individuellen Willensimpulsen, aus dem freien Handeln des Menschen hervorgeht, was er als Volksseele, als dunklen Zwang anspricht.

Aber noch etwas kommt in bezug auf das Wirken des Menschen innerhalb seines Volkes in Betracht. Jede Persönlichkeit repräsentiert eine geistige Potenz, eine Summe von Kräften, die nach der Möglichkeit zu wirken suchen. Jedermann muss deshalb den Platz finden, wo sich sein Wirken in der zweckmäßigsten Weise in seinen Volksorganismus eingliedern kann. Es darf nicht dem Zufalle überlassen bleiben, ob er diesen Platz findet. Die Staatsverfassung hat keinen anderen Zweck, als dafür zu sorgen, dass jeder einen angemessenen Wirkungskreis finde. Der Staat ist die Form, in der sich der Organismus eines Volkes darlebt.« (Einleitungen zu Goethes Naturwissenschaftlichen Schriften, Dornach 1977, S. 200-210)

Derselbe Autor, der 14 Tage später schreiben sollte:

»Das Barometer des Fortschritts in der Entwicklung der Menschheit ist ... die Auffassung, die man von der Freiheit hat, und die praktische Realisierung dieser Auffassung ... Nur das für wahr halten, wozu uns unser eigenes Denken zwingt, nur in solchen gesellschaftlichen und staatlichen Formen sich bewegen, die wir uns selbst geben, das ist der große Grundsatz der Zeit.«

Derselbe Autor, der die ihm vorschwebende Idee des Staates mit folgenden Worten umschrieb: »In diesem System wird jeder seine Aufgabe erfüllen, ohne von dem andern eingeschränkt, bekämpft oder ausgebeutet zu werden; er wird weder durch eine Autorität, wie in der katholischen Weltanschauung, noch durch den Egoismus des andern, wie beim modernen pseudo-liberalen Staate, in seiner Freiheit beengt sein. Das ist eine Staatsordnung, wie sie dem wahren Liberalismus entspricht und wie sie zugleich als wahrhaft staatssozialistisch bezeichnet werden kann. (GA 31, Gesammelte Aufsätze zur Kultur- und Zeitgeschichte, S. 136-138)

Den Gipfel der Absurdität erklimmt Zander mit der Behauptung, Steiner habe ein »gebrochenes Verhältnis zur Freiheit« als Voraussetzung politischen Handelns gehabt, weil es »in der diesseitigen Welt keinen freien Willen« gebe.

Auf S. 1250 schreibt Zander:

»Zur Freiheit als Voraussetzung politischen Handelns hatte Steiner ein gebrochenes Verhältnis, weil es in der diesseitigen Welt keinen freien Willen gebe:

›Das Wort ‚freier Wille’ ist schon falsch; denn man muss sagen: Frei wird der Mensch erst durch seine sich immer steigernde Erkenntnis und dadurch, dass er immer höher steigt und immer mehr hineinwächst in die geistige Welt.‹ (GA 120,221 [1910])

Eine zutreffende Deutung der gesellschaftlichen Realität lag für Steiner jenseits der exoterischen Welt, der Scheinwelt des [sic!] ›äußeren Maja‹ (GA 174b,63 [1915]).«

Der Autor der »Philosophie der Freiheit« soll ein gebrochenes Verhältnis zur Freiheit als Voraussetzung politischen Handelns gehabt haben? Muss man diese absurde These überhaupt einer Widerlegung würdigen? Zeugt nicht Steiners gesamtes Leben davon, dass er diese Freiheit als Voraussetzung politischen Handelns gelebt hat?

Bei Zanders Aussage handelt es sich eindeutig um einen Interpretationsfehler aufgrund von Dekontextualisierung. Denn die Sätze Steiners über den freien Willen stehen im Kontext von Ausführungen über das Karma. Unmittelbar vor den Sätzen die Zander zitiert, steht der Satz: »So darf man also beim Karma gar nicht von vornherein von einem freien Willen sprechen.« Und unmittelbar nach den zitierten Sätzen steht der Satz: »Nicht der Wille kann frei werden, sondern der Mensch als solcher kann frei werden, indem er sich durchdringt mit dem, was er auf dem vergeistigten Gebiet des Weltendaseins erkennen kann.«

Im Zusammenhang heißt es:

»So steht die Menschheit in der Tat vor einer Epoche, in der sie anfangen wird, Karma nicht nur zu begreifen nach den Lehren und Darstellungen der Geisteswissenschaft, sondern wo sie anfangen wird, Karma nach und nach zu schauen. Während bisher Karma für die Menschen ein dunkler Drang, eine dunkle Begierde war und erst im nächsten Leben ausgelebt werden konnte, erst im Leben zwischen Tod und neuer Geburt umgewandelt werden konnte in eine Absicht, entwickeln sich allmählich die Menschen dahin, dass sie in die Lage kommen, bewusst die Schöpfungen Luzifers wahrzunehmen, zu sehen, wie sie sich ausnehmen werden in ihren Wirkungen. Allerdings werden mit diesem ätherischen Hellsehen nur diejenigen Menschen etwas anfangen können, die Erkenntnis und Selbsterkenntnis angestrebt haben. Immer mehr und mehr werden die Menschen im normalen Zustande vor sich haben die karmischen Bilder für ihre Handlungen. Das wird etwas sein, was die Menschen immer weiterbringen wird, weil sie dadurch wissen werden, was sie der Welt noch schuldig sind, was in ihrem Karma noch als Schuldkonto dasteht. Das ist es ja, was den Menschen unfrei macht, dass er nicht weiß, was er der Welt noch schuldig ist. So darf man also beim Karma gar nicht von vornherein von einem freien Willen sprechen. Das Wort ›freier Wille‹ ist schon falsch; denn man muss sagen: Frei wird der Mensch erst durch seine sich immer steigernde Erkenntnis und dadurch, dass er immer höher steigt und immer mehr hineinwächst in die geistige Welt. Dadurch erfüllt er sich immer mehr und mehr mit dem Inhalt der geistigen Welt und wird immer mehr ein Wesen, das seinen Willen bestimmt. Nicht der Wille kann frei werden, sondern der Mensch als solcher kann frei werden, indem er sich durchdringt mit dem, was er auf dem vergeistigten Gebiet des Weltendaseins erkennen kann. So blicken wir auf die Enttäuschungen Luzifers und seine Taten und sagen: So ist seit Jahrtausenden der Grund gelegt zu dem, wo wir stehen; denn würden wir nicht dort stehen, wo wir stehen, so würden wir uns nicht zur Freiheit entwickeln können

GA 120 (Dornach 1992), S. 220-221

Zander deutet auch Steiners Völkerpsychologie hemmungslos um. Aus einer spirituellen Erzengelkunde, in deren Zentrum die menschheitsvereinigende Christuswesenheit steht, der alle »Volksgeister« dienen, wird bei Zander eine »Rassentheorie«, in welcher der »Volkscharakter biologistisch fixiert« wurde.

Zander schreibt auf S. 1254:

»Aus der sprachtheoretisch konzipierten Völkerpsychologie ... war um 1900 eine Rassentheorie geworden, in deren eindimensionaler Bestimmung ›der‹ Volkscharakter (im Singular) biologistisch fixiert wurde. Bei Steiner tauchen diese Ausprägungen der Völkerpsychologie als Ergebnis okkulter Einsichten wieder auf: Seine Vorstellungen von ›Volksseelenwesen‹ ... sind hochreduktive Vereindeutigungen, bei denen aus der biologistischen Determination die evolutive geistige ›Notwendigkeit‹ geworden war.

›Es ist ein Fortschritt in der menschlichen Entwickelung ... Es ist gleichgültig wie wir die Dinge bewerten; der notwendige Gang führt die Menschheit vorwärts, mag man das auch später Niedergang nennen. Die Notwendigkeit führt die Menschheit vorwärts. (GA 121,25)«

Zunächst zu Zanders Zitat.

Bemerkenswert ist die Auslassung, die er vornimmt. Da Zander Wert darauf legt, Steiner eine »deterministische« Hierarchisierung der Völker unterzujubeln, die biologistisch (rassistisch) fundiert sei, und das deutsche Volk (die »deutsche« Rasse – die es bei Steiner nicht gibt) an die Spitze stelle, muss er natürlich Aussagen Steiners, die seiner Umdeutung widersprechen, eliminieren. So auch in seinem Zitat. Im Originalzitat weist nämlich Steiner explizit eine Hierarchisierung zurück, er sagt:

»So können wir die Völker nebeneinander und nacheinander [im Gang der aufeinanderfolgenden Kulturepochen der Geschichte] betrachten. Aber in allem, was sich in und mit den Völkern entwickelt, entwickelt sich noch etwas anderes. Es ist ein Fortschritt in der menschlichen Entwickelung. Es kommt dabei nicht in Betracht, ob wir das eine höher oder niedriger stellen. Es kann zum Beispiel einer sagen: Mir gefällt die indische Kultur am besten. Das mag ein persönliches Urteil sein. Wer aber nicht auf persönliche Urteile schwört, der wird sagen: Es ist gleichgültig, wie wir die Dinge bewerten; der notwendige Gang führt die Menschheit vorwärts, mag man das später auch Niedergang nennen. Die Notwendigkeit führt die Menschheit vorwärts.«

Diese »Notwendigkeit«, von der Steiner spricht, ist nicht etwa eine »biologische Determination«, sondern eine geistige Inspiration (exakter: »Intuierung«) der Geschichte, die auf das Wirken der sogenannten Zeitgeister zurückzuführen ist. Diese stehen höher als die Volksgeister, bei denen es sich um Erzengel handelt, und überformen deren Wirken, so wie der Gang der Geschichte in der Zeit die geographischen Räume überwölbt, in denen sich die geschichtlichen Ereignisse abspielen. Selbst wenn es also eine Hierarchisierung von Völkern gäbe, wäre diese durch das Wirken der Zeitgeister wieder aufgehoben, denen gegenüber die Volksgeister alle auf demselben untergeordneten Niveau stehen. Denn die Zeitgeister haben es nicht mit einzelnen Völkern, sondern mit der Menschheit als Ganzer zu tun, sie heben die Menschen, die in den Gebieten einzelner Volksgeister leben, über diese begrenzte Sphäre hinaus und machen sie zu Angehörigen der Menschheit, die sich trotz der Unterschiede ihrer Volkskulturen und -sprachen verstehen können.

Steiners Ausführungen im Kontext:

»So können wir die Völker nebeneinander und nacheinander betrachten. Aber in allem, was sich in und mit den Völkern entwickelt, entwickelt sich noch etwas anderes. Es ist ein Fortschritt in der menschlichen Entwickelung. Es kommt dabei nicht in Betracht, ob wir das eine höher oder niedriger stellen. Es kann zum Beispiel einer sagen: Mir gefällt die indische Kultur am besten. Das mag ein persönliches Urteil sein.

Wer aber nicht auf persönliche Urteile schwört, der wird sagen: Es ist gleichgültig, wie wir die Dinge bewerten; der notwendige Gang führt die Menschheit vorwärts, mag man das später auch Niedergang nennen. Die Notwendigkeit führt die Menschheit vorwärts. Wenn wir die verschiedenen Zeiträume vergleichen, 5000 Jahre vor Christus, 3000 Jahre vor Christus und 1000 Jahre nach Christus, dann ist etwas noch da, was über die Volksgeister hinübergreift, etwas, woran die verschiedenen Volksgeister teilnehmen. Sie brauchen das nur in unserer Zeit ins Auge zu fassen. Woher kommt es, dass in diesem Saale so viele Menschen zusammensitzen können, die aus den verschiedensten Volksgebieten herkommen und sich verstehen und sich zu verstehen versuchen in bezug auf das Allerwichtigste, was sie hier zusammengeführt hat? Die verschiedenen Menschen kommen aus dem Bereich der verschiedensten Volksgeister heraus, und dennoch gibt es etwas, worin sie sich verstehen. In ähnlicher Weise verstanden sich und konnten sich verstehen in damaliger Zeit die verschiedenen Völker untereinander, weil es in jeder Zeit etwas gibt, was die Volksseele übergreift, die verschiedenen Volksseelen zusammenführen kann, etwas, was man überall mehr oder weniger versteht. Das ist dasjenige, was man mit dem recht schlechten, aber gebräuchlichen deutschen Wort ›Zeitgeist‹ benennt oder auch ›Geist der Epoche‹. Der Geist der Epoche, der Zeitgeist, ist ein anderer in der griechischen Zeit, ein anderer in der unsrigen. Diejenigen, welche den Geist in unserer Zeit erfassen, werden zur Theosophie hingetrieben. Das ist das aus dem Geiste der Epoche über die einzelnen Volksgeister Übergreifende. In derjenigen Zeit, in der Christus Jesus auf der Erde erschien, bezeichnete sein Vorläufer, Johannes der Täufer, den Geist, den man als Zeitgeist bezeichnen könnte, mit den Worten: ›Ändert die Verfassung der Seele, denn die Reiche der Himmel sind nahe herbeigekommen.‹«

Zander behauptet, Völker seien bei Steiner »biologisch«, also letztlich »rassisch« »determiniert«. Diese Behauptung ist Unsinn. Völker sind nicht biologistisch – von unten – »determiniert«, sondern spirituell – von oben – »inspiriert« – und zwar durch die jeweiligen Volksgeister, die Erzengel, die eine Gruppe von Menschen erst zu einem Volk machen: »Ein Volk«, so Steiner, »ist eine zusammengehörige Gruppe von Menschen, welche von einem der Archangeloi, einem der Erzengel geleitet wird.«

Steiner im Kontext:

»Wenn Sie sich solche Wesenheiten denken, die also auf der Stufe der geistigen Hierarchien stehen, die wir Erzengel nennen, haben Sie einen Begriff von dem, was man ›Volksgeister‹ nennt, was man die dirigierenden Volksgeister der Erde nennt. Die Volksgeister gehören in die Stufe der Archangeloi oder Erzengel. Wir werden sehen, wie sie ihrerseits den Äther- oder Lebensleib dirigieren, und wie sie dadurch wieder hineinwirken in die Menschheit und diese in ihre eigene Tätigkeit einbeziehen. Wenn wir die verschiedenen Völker unserer Erde betrachten und einzelne herausheben, dann werden wir in dem eigentümlichen Weben und Leben dieser Völker, in dem, was wir die besonderen, charakteristischen Eigenschaften dieser Völker nennen, ein Abbild von dem haben, was wir als die Mission der Volksgeister betrachten können.

Wenn wir die Mission dieser Wesenheiten erkennen – Inspiratoren der Völker sind diese Wesenheiten –, dann können wir sagen, was ein Volk ist. Ein Volk ist eine zusammengehörige Gruppe von Menschen, welche von einem der Archangeloi, einem der Erzengel geleitet wird.

Die einzelnen Glieder eines Volkes bekommen das, was sie als Glieder des Volkes tun, was sie als Glieder des Volkes vollführen, von einer solchen Seite her inspiriert. Dadurch, dass wir uns vorstellen, dass diese Volksgeister individuell verschieden sind, wie die Menschen auf unserer Erde, werden wir es begreiflich finden, dass die einzelnen verschiedenen Gruppen der Völker die individuelle Mission dieser Archangeloi sind.

Wenn wir uns einmal geistig veranschaulichen, wie in der Weltgeschichte Volk nach Volk und auch Volk neben Volk wirkt, so können wir jetzt, wenigstens in abstrakter Form – die Form wird immer konkreter und konkreter werden in den nächsten Vorträgen – uns vorstellen, dass alles, was da vor sich geht, inspiriert ist von diesen geistigen Wesenheiten.«

GA 121 (Dornach 1982), S. 27-28

Dass Völker und einzelne Menschen als Angehörige von Völkern nicht »biologisch determiniert« sind, ergibt sich auch aus Steiners kursorischer Abgrenzung des Volksbegriffs von jenem der »Rasse«. Hierzu ein Zitat, das gleichzeitig deutlich macht, dass die physischen und ätherischen Unterschiede die Einheit der menschlichen Gattung lediglich differenzieren, also keinen Menschen von seiner Zugehörigkeit zum einen einheitlichen Menschengeschlecht ausschließen:

»Wir bekommen keinen verwirrenden Begriff, wenn wir die Sache so betrachten, sondern einen flüssigen Begriff; wir dürfen das nicht alles zusammenwerfen. Ein Volk ist keine Rasse. Der Volksbegriff hat nichts zu tun mit dem Rassenbegriff. Es kann sich eine Rasse in die verschiedensten Völker spalten. Rassen sind andere Gemeinschaften als Volksgemeinschaften. Wir sprechen gewiss mit Recht von einem deutschen, einem holländischen, einem norwegischen Volke; wir sprechen aber von einer germanischen Rasse*. Was wirkt da nun in dem Rassenbegriff? Da wirken zusammen diejenigen Wesenheiten, die wir als die normalen Geister der Form oder Gewalten bezeichnen, und die Wesenheiten, die wir als die abnormen Geister der Form, die eigentlich Geister der Bewegung sind mit Missionen der Geister der Form, kennengelernt haben. Deshalb sind die Menschen in Rassen gespalten. Das, was die Menschen über das ganze Erdenrund hin gleich macht, was jeden Menschen, gleichgültig welcher Rasse er angehört, zum Menschen, zum Angehörigen des ganzen Menschentums macht, das bewirken die normalen Geister der Form. Dasjenige aber, was über die ganze Erde dahinspielt, was das gesamte Menschentum in Rassen gliedert, das bewirken die abnormen Geister der Form  die verzichtet haben zugunsten der Tatsache, dass nicht eine einzige Menschheit auf der Erde erscheint, sondern eine Mannigfaltigkeit von Menschen.«

GA 121 (Dornach 1982), S. 66-67

* Steiner spricht ansonsten nicht von einer »germanischen Rasse«, offenbar bezieht er sich an dieser Stelle lediglich auf den allgemeinen Sprachgebrauch.

Skandalös ist die Behandlung, die Zander Steiners völkerpsychologischen Auseinandersetzungen während des Krieges angedeihen lässt. Allein daran interessiert, diesen als dumpfen Nationalisten erscheinen zu lassen, greift er Sätze aus dem Zusammenhang, und verkürzt Steiners Darstellungen bis zur Unkenntlichkeit. Auf diese Weise wird Unwahrheit durch Dekontextualisierung erzeugt.

Auf S. 1262 schreibt Zander:

»Vielmehr finden sich in den nächsten Jahren klassische Stereotypen des Nationalismus als argumentatives Unterfutter. Dazu nur ein Beispiel: Im Januar 1917 stand für ihn fest, dass der Krieg dazu dienen solle, für das Britische Reich ›die kommerzielle Weltherrschaft‹ durchzusetzen (GA 174,162). Am 9. November 1918 hatte sich seine Auffassung zu einem Syndrom ökonomisch-politischer Weltherrschaftspläne des angelsächsischen Raums verdichtet, in dem der englische »Krämergeist«, wie es in einem verbreitetes zeitgenössischen Stereotyp hieß94, große Politik zu machen schien:

Die ›Kriegsmöglichkeit … liegt einfach darinnen, dass von der englischsprechenden Bevölkerung der Welt … die Weltherrschaft angestrebt wird. Dies ist eine Tatsache, die man als Tatsache hinnehmen muss. (GA 185a,21) … So dass einfach durch das Vorhandensein des englischen Imperialismus, der sich ja insbesondere im zwanzigsten Jahrhundert immer sichtbarer und sichtbarer herausgebildet hat, natürlich lauter Kriegsmöglichkeiten entstanden sind. (Ebd., 22) … Man kann sich eigentlich nichts denken, was teuflich [sic!]-geistvoller war als diese Ausnützung der Weltkonjunktur durch internationale Finanzmächte. (Ebd., 23) … Entscheidungen im weltgeschichtlichen Fortgange führten herbei die Transaktionen der Großkapitalmächte, der internationalen Großkapitalmächte, die sich der Reiche als Instrumente bedienten (ebd., 24)‹«.

Den von Zander zitierten Passagen stehen andere über das englische Geistesleben und die englische Politik entgegen, die hier ebenso beispielhaft zitiert werden sollen. Am 9. Dezember 1916 führte Steiner folgendes aus:

»Es gibt, ich möchte sagen ..., den Okkultisten in seiner tieferen Bedeutung wiederum sehr wohl bekannt, das Geistesleben des britischen Volkes. Ich meine jetzt die Art des Geisteslebens, wie es sich für die Welt darstellt aus den britischen Institutionen, aus dem britischen Volksleben heraus. Dieses Element trägt vor allen Dingen einen außerordentlich starken politischen Charakter in sich, ist im eminentesten Sinne politisch veranlagt. Eine Folge davon ist, dass aus diesem Element das von der ganzen übrigen Welt so sehr bewunderte politische Denken hervorgegangen ist, gewissermaßen das fortgeschrittenste, das freieste politische Denken. Und überall, wo man in den übrigen Gegenden der Erde nach politischen Einrichtungen gesucht hat, innerhalb deren Freiheit wohnen kann, so wie man sie seit dem Ende des 18. Jahrhunderts bis in das 19. Jahrhundert herein verstehen lernte, da machte man Anleihen bei britischem Denken. Die Französische Revolution am Ende des 18. Jahrhunderts war eigentlich mehr eine Gefühlssache, war mehr ein Leidenschaftsimpuls, und dasjenige, was darinnen an Gedanken war, war herübergetragen von britischem Denken. Die Art und Weise, wie man die politischen Begriffe formt, wie man politische Körperschaften gliedert, wie man den Volkswillen in möglichst freie politische Organisationen leitet, so dass er von allen Seiten wirken kann, das kommt seiner ursprünglichen Anlage gemäß in diesem britischen politischen Denken zum Ausdruck. Daher die so vielfache Nachahmung der britischen Institutionen bei den aufstrebenden Staatswesen des 19. Jahrhunderts. An vielen Stellen hat man etwas herüberzunehmen versucht von der britischen Art, parlamentarisch zu leben, parlamentarische Einrichtungen zu treffen, denn in dieser Beziehung ist das britische Denken der Lehrmeister der neueren Zeit.

Innerhalb des 19. Jahrhunderts, sagen wir bis in die letzten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts hinein, kam nun gerade innerhalb Englands dieses politische Denken zum Ausdruck auch in politisch außerordentlich bedeutenden Persönlichkeiten, welche ihre Gedanken ganz im Sinne dieses politischen Denkens formten. Und da zeigte sich vor allen Dingen eines: dass man mit diesem politischen Denken das Heil der Welt bewirken könnte, wenn man sich nur ihm hingeben würde und nichts anderes als dieses politische Denken in den äußeren Einrichtungen der verschiedenen Körperschaften sich ausleben ließe. Daher erscheinen Persönlichkeiten, welche vielleicht nach der einen oder andern Richtung einseitig, aber mit ihren Gedankenformen nur im Sinne dieses politischen Denkens sich orientieren und die versuchen, in dieser Weise zu wirken, als ganz hervorragende, zugleich moralische Persönlichkeiten. Ich erinnere an Cobden, an Bright und so weiter, um Größere, die sonst genannt werden, nicht zu nennen ...«

GA 173 (Dornach 1978), S. 57-58.

Nur einen Satz in einer Fußnote widmet Zander Steiners Auseinandersetzung mit der Rolle von »Geheimgesellschaften« in der Vorgeschichte des I. Weltkriegs. Diese stellen aber ein zentrales Kapitel seiner Auseinandersetzung mit dieser Frage dar.

Auf S. 1265 schreibt Zander in Anmerkung 99:

»Ein eigenes Kapitel wäre Steiners Einschätzung der Rolle von ›Geheimgesellschaften‹.«

Dieses Kapitel sucht man in Zanders Buch allerdings vergeblich. Ein Kontext kann auch durch Verschweigen verfälscht werden. Steiners Einschätzung der Rolle von Geheimgesellschaften ist nicht nur ein »eigenes« Kapitel, sondern das zentrale Kapitel seiner Auseinandersetzung mit der Frage der Vorgeschichte des I. Weltkriegs.

Es wäre mehr als ein Kapitel zu diesem Thema erforderlich und möglich aufgrund der vielen, bestens dokumentierten Belege, die heute zu der Schlüsselrolle von Cecil Rhodes et al., dem sogenannten »Alfred Milner-Kindergarten« und der Politik der »Round Tables« vorliegen (von Papus und den Martinisten ganz zu schweigen).

Die genannten, »wenig öffentlich« organisierten Gruppierungen mit ihren im wahrsten Sinne des Wortes geheimen »inner circles« bestimmten unmittelbar und weltweit die Politik des Empire in Vorbereitung des I. Weltkrieges. Es gab kaum britische Politiker in den Vorkriegsjahren, einschließlich Greys, bis hin in die Jahre des Commonwealth, des II. Weltkriegs und auch noch nach 1945, die nicht entweder direkt Mitglieder oder auf sonstige, zum Beispiel finanzielle Weise, in die genannten Zirkel eingebunden waren. Die wissenschaftliche Forschung zu diesem Thema ist inzwischen beträchtlich. Hier nur einige Beispiele:

Carroll Quigley:
• The Anglo-American Establishment. From Rhodes to Cliveden. New York 1981
• The Round Table Groups in Canada, 1908-1938. In: Canadian Historical Review 43 (1962), S. 204-224.
 
Priscilla Roberts:
• Lord Lothian and the Atlantic World. In: The Historian 66:1 (2004). S. 97-127
• World War I and Anglo-American relations: The role of Philip Kerr and The Round Table. In: The Round Table 95, no. 383 2006. S. 113-139
 
Markus Osterrieder:
• Der prophezeite Krieg. In: Gegenwart. Zeitschrift für Kultur, Politik, Wirtschaft [Bern], Nr. 2/2010, S. 25-34 (darin auch Literatur zu den Martinisten)
• Synarchie und Weltherrschaft: Die Protokolle der Weisen von Zion im Kontext von Bündnispolitik und okkultistischem Untergrund, 1880-1912. In: »Die Protokolle der Weisen von Zion«. Textstruktur und Quellen der Fiktion von der jüdischen Weltverschwörung. Hrsg. Michael Hagemeister, Eva Horn. Göttingen: Wallstein Verlag, 2012, S. 103-128.

Interessant in diesem Zusammenhang auch eine Darstellung von Richard Ramsbotham zu Äusserungen von Rudolf Steiner über die Wirksamkeit  okkulter Gruppierungen in Vorbereitung des Weltkrieges: »One-Sided Political Intentions of the English-Speaking World and the Search for what is Universally Human«, in »New View magazine«, Winter 2012/2013, Jan.-March 2013, S. 64-69, www.newview.org.uk).