Zander stellt die verwegene Behauptung auf, Steiner sei bei seinem Versuch, den Materialismus zu unterwerfen, von diesem »unterwandert« worden und habe infolgedessen einen »geistigen Materialismus mit naturwissenschaftlichem Anspruch« formuliert.

Auf S. 868 schreibt Zander:

»Das Programm der Unterwerfung des Materialismus mit seinen eigenen Waffen führte allerdings fast zwangsläufig zur subversiven Unterwanderung der Theosophie mit materialistischen Vorstellungen. So sollte der Zugriff auf übersinnliche Welten in Zukunft nicht nur mit Hilfe meditativer Schulung, sondern mit materialen Organen möglich werden. ›Es ist möglich, dass sich Organe, Geistesaugen entwickeln, in ähnlicher Weise, wie sich in diesem physischen Leibe Sinnesorgane, Augen und Ohren, entwickelt haben‹, meinte Steiner 1905. ›Dann treten höhere Fähigkeiten auf. Das muss man zunächst glauben‹ (GA 54,24). 1913 postulierte er die Entwicklung des neuronalen Sprachzentrums, von ›Brocas Organ‹, zum Reinkarnationsgedächtnis: ›Dieses physische Organ wird das physische Mittel für die Erinnerung an eine frühere Inkarnation sein, was jetzt nur erreicht werden kann durch eine höhere geistige Entwickelung.‹ (GA 152,21). Steiner formulierte eine Art von geistigem Materialismus mit naturwissenschaftlichem Anspruch, der letztlich ein Erbe des Spiritismus in der Theosophie war.«

Zander zitiert aus dem Vortrag »Haeckel, die Welträtsel und die Theosophie« von 1904.

Zunächst zitiert er verfälschend. Die von ihm angeführten Sätze: »Dann treten höhere Fähigkeiten auf. Das muss man zunächst glauben«, lauten im Original: »Es ist möglich, dass sich Organe, Geistesaugen, entwickeln, in ähnlicher Weise, wie sich in diesem physischen Leibe Sinnesorgane, Augen und Ohren, entwickelt haben. Sind diese Organe entwickelt, dann treten höhere Fähigkeiten auf. Das muss man zunächst glauben – nein, man braucht es nicht einmal zu glauben, man nehme es nur unbefangen als eine Erzählung hin ...« (GA 54, Die Welträtsel und die Anthroposophie, Dornach 1985 [tb], S. 24.)

Wenn Zander behauptet, Steiner habe den »Zugriff auf übersinnliche Welten« mit »materialen Organen« für möglich erklärt, dann ist dies eine groteske Unterstellung. Sie beruht auf einer Fehlinterpretation des von ihm zitierten Vergleichs. Wenn sich »in ähnlicher Weise« wie die physischen Organe geistige Organe – »Geistesaugen« – entwickeln, heißt dies nicht, dass die geistigen Organe »materiell« sind. Ebensowenig wie die Seele und der Geist für Steiner »materiell« sind, sind es deren Organe. Deutlich spricht dies Steiner in seinem Vortrag über die »Innere Entwicklung« aus, der einige Wochen später von ihm am selben Ort gehalten wurde, in dem er über die Entwicklung der höheren Erkenntnisorgane folgendes ausführt:

»In Wahrheit ist das Leben, das der Mensch auf diese Art kennenlernt, das geistige Leben, das der Mensch im Inneren schon fortwährend führt, von dem er aber nichts weiß, weil er sich selbst nicht kennt, bevor er die Organe für die höhere Welt sich entwickelt hat. Denken Sie sich einmal, Sie wären Mensch mit den Eigenschaften, die Sie jetzt haben, hätten aber keine Sinnesorgane. Sie wüssten nichts von der Welt um Sie herum, Sie hätten kein Verständnis für den physischen Leib, und doch gehörten Sie der physischen Welt an. So gehört die Seele des Menschen der geistigen Welt an, weiß es aber nicht, weil sie nicht hört und nicht sieht. Wie unser Körper aus den Kräften und Stoffen der physischen Welt genommen ist, so ist unsere Seele aus den Kräften und Stoffen der geistigen Welt genommen. Wir erkennen uns nicht in uns, sondern erst in unserer Umgebung. So wahr Sie nicht Herz und Gehirn sehen können, ohne dass Sie es durch Ihre Sinnesorgane an andern wahrnehmen – selbst mit Hilfe der Röntgenstrahlen können nur Ihre Augen das Herz sehen –, so wahr ist es, dass Sie Ihre eigene Seele nicht sehen oder hören können, ohne dass Sie sie durch geistige Sinnesorgane in der Umwelt erkennen. Sie können sich nur durch Ihre Umwelt erkennen. Es gibt in Wahrheit keine Innenerkenntnis, keine Selbstbeschauung, es gibt nur eine Erkenntnis, eine Offenbarung durch Organe sowohl des physischen als des geistigen Lebens um uns herum. Wir gehören den Welten um uns her an, der physischen, der seelischen und der geistigen Welt. Wir lernen aus der physischen, wenn wir physische Organe haben und aus der geistigen Welt, aus allen Seelen, wenn wir geistige, seelische Organe haben. Es gibt keine andere Erkenntnis als Welterkenntnis.

Müßig ist es und leere Beschaulichkeit, wenn der Mensch in sich brütet und glaubt, durch bloße Selbstschau irgend etwas erreichen zu können. Den Gott in sich findet der Mensch, wenn er die göttlichen Organe in sich erweckt und dann in seiner Umwelt sein höheres, göttliches Selbst findet, wie er sein niederes Selbst auch nur durch seine Augen und Ohren in der Umwelt finden kann. Wir selbst werden uns klar als physische Wesen durch den Umgang mit der Sinnenwelt, und wir werden uns klar in geistiger Beziehung dadurch, dass wir geistige Sinne in uns entwickeln. Entwickelung des Inneren heißt, sich erschließen für das göttliche Leben in der Außenwelt um uns herum.«

Rudolf Steiner, »Innere Entwicklung« in GA 54, »Die Welträtsel und die Anthroposophie«, Dornach 1985 (tb), S. 223-224.

Die Behauptung Zanders, Steiner habe die Umwandlung von »Brocas Organ« zu einem Organ für das Reinkarnationsgedächtnis postuliert, enthält gleich drei Irrtümer. Erstens sprach Steiner im genannten Vortrag nicht davon, dass sich »Brocas Organ« zum Organ für ein Reinkarnationsgedächtnis entwickeln werde, sondern dass sich in der Nähe des Brocaschen Organs ein solches Organ entwickle. Zweitens handelt es sich um ein Organ für die Erinnerung an frühere Inkarnationen – also gerade nicht um ein Organ, das einen »Zugriff auf übersinnliche Welten« erlaubt, wie Zander behauptet. Es ist insofern jenen Organen vergleichbar, die schon heute der gewöhnlichen Erinnerung zugrunde liegen. Und drittens wies Steiner darauf hin, dass dieses Organ gerade nicht ein Organ sei, das auf dem Wege der spirituellen Schulung entwickelt werde, sondern ein Organ, das sich auf natürlichem Weg entwickle. »Dem Eingeweihten«, so Steiner 1913, »ist es möglich, gewisse Kenntnisse ohne den Gebrauch eines physischen Organes zu erlangen, aber dieses Wissen kann nur dann das Gemeingut der Menschheit werden, wenn die Menschheit als Ganzes im Laufe der Evolution ein äußeres physisches Organ entwickelt, wodurch es erlangt werden kann.«

Die betreffenden Ausführungen Steiners im Wortlaut:

»Dieser Fortschritt der äußeren Körper, der physischen und ätherischen, von einem Zeitalter zum anderen, würde denen, die Anatomie und Physiologie studieren, nicht bemerkbar sein, aber er ist trotzdem vorhanden und kann durch die okkulte Wissenschaft erkannt werden. Und so wird der menschliche physische Körper wieder ganz verschieden sein im Laufe der normalen Entwickelung der Menschheit, wenn nach unserem jetzigen Leben unsere Seelen in einer zukünftigen Verkörperung wieder auf der Erde erscheinen werden.

In der jetzigen Menschheitsperiode wird ein zartes Organ vorbereitet, das für den äußeren Anatomen und Physiologen nicht bemerkbar ist. Und doch existiert es anatomisch. Dieses Organ liegt im menschlichen Gehirn, in der Nähe des Sprachorgans.

Die Entwickelung dieses Organs in den Gehirnwindungen ist nicht das Ergebnis des Karma individueller Seelen, sondern sie ist ein Ergebnis der menschlichen Evolution als eines Ganzen auf der Erde, und in der Zukunft werden alle Menschen dieses Organ besitzen, ganz gleich was die Entwickelung der Seelen sein mag, die sich in diesem Körper inkarnieren werden, und ganz unabhängig von dem Karma, das mit diesen Seelen verbunden ist.

Dieses Organ wird in einer zukünftigen Inkarnation von Menschen besessen werden, die gegenwärtig vielleicht der Anthroposophie feindlich sind, wie von denjenigen, die ihr jetzt sympathisch gegenüberstehen. Dieses Organ wird in der Zukunft das physische Instrument für gewisse Seelenkräfte sein, genauso wie zum Beispiel Brocas Organ in der dritten Gehirnwindung das Organ für die menschliche Fähigkeit der Sprache ist.

Wenn dieses Organ entwickelt ist, kann es von der Menschheit entweder richtig angewendet werden oder auch nicht. Diejenigen werden es richtig anwenden können, die jetzt die Möglichkeit vorbereiten, die jetzige Inkarnation wahrheitsgemäß in der Erinnerung zu haben, wenn sie in der nächsten sein werden. Denn dieses physische Organ wird das physische Mittel für die Erinnerung an eine frühere Inkarnation sein, was jetzt nur erreicht werden kann durch eine höhere geistige Entwickelung.

Gegenwärtig kann für die weitaus größte Zahl von Menschen die Erinnerung an frühere Inkarnationen nur erlangt werden durch höhere geistige Entwickelung, durch Initiation. Aber das, was in jetzigen Zeiten nur durch Initiation erlangt werden kann, wird später gewissermaßen Gemeingut der Menschheit. Unser heutiges Wissen war früher das besondere Wissen der atlantischen Eingeweihten allein, jetzt kann es jeder besitzen. In derselben Weise ist die Erinnerung an frühere Erdenleben gegenwärtig nur den Eingeweihten möglich, aber in der Zukunft wird jede menschliche Seele im Besitz derselben sein.

Dem Eingeweihten ist es möglich, gewisse Kenntnisse ohne den Gebrauch eines physischen Organes zu erlangen, aber dieses Wissen kann nur dann das Gemeingut der Menschheit werden, wenn die Menschheit als Ganzes im Laufe der Evolution ein äußeres physisches Organ entwickelt, wodurch es erlangt werden kann. Die reinkarnierten Seelen müssen jedoch dieses Organ richtig gebrauchen können, mit dessen Hilfe man sich später an seine früheren Inkarnationen erinnern wird. Nur diejenigen, die in der jetzigen Inkarnation okkulte Gedanken und Ideen deutlich in die Akasha-Substanz eingeschrieben haben, werden dieses Organ auf die richtige Weise gebrauchen können.«

Rudolf Steiner, »Okkulte Wissenschaft und okkulte Entwicklung. Einweihung«, Vortrag vom 1. Mai 1913, in GA 152, »Vorstufen zum Mysterium von Golgatha«, Dornach 1980, S. 20-21.

Manchmal sichert Zander auch eine an sich richtige  – wenn auch von ihm verengte – These mit einem falschen Beleg ab. So meint er, Steiner habe eine Methodenidentität zwischen der Naturwissenschaft und der von ihm vertretenen Geisteswissenschaft vertreten. Besser wäre es, statt von Identität von Verwandtschaft oder Analogie zu sprechen.

Auf S. 874 schreibt Zander:

»1900 umschrieb Steiner diesen Anspruch auf eine gleichgerichtete Methodologie folgendermaßen:

› Nun gibt es zwei Möglichkeiten, das eine Wesen, das Geist und Natur zugleich ist, zu beschreiben. Die eine ist: ich zeige die Naturgesetze auf, die in Wirklichkeit tätig sind. Oder ich zeige, wie der Geist es macht, um zu diesen Gesetzen zu kommen. Beide Male leitet mich eines und dasselbe. ... In dem einen Falle treibe ich Natur-, in dem anderen Geisteswissenschaft.‹ (GA 18, 215)

In Wahrheit stellen diese Äußerungen nicht Steiners Auffassungen dar, sondern die Auffassungen Schellings, die Steiner an der betreffenden Stelle referiert. Steiner bringt im Kontext des Zitates nirgends zum Ausdruck, er selbst schließe sich diesen Auffassungen Schellings an.

»Die eigentliche Meinung Schellings über diese Einheit von Natur und Geist ist selten richtig erfasst worden. Man muss sich ganz in seine Vorstellungsart versetzen, wenn man darunter nicht eine Trivialität oder eine Absurdität verstehen will.

Hier soll, um diese Vorstellungsart zu verdeutlichen, auf einen Satz in seinem Buche ›Von der Weltseele‹ hingewiesen werden, in dem er sich über die Natur der Schwerkraft ausspricht.

Viele sehen eine Schwierigkeit in diesem Begriffe, weil er eine sogenannte ›Wirkung in der Ferne‹ voraussetzt. Die Sonne wirkt anziehend auf die Erde, trotzdem nichts zwischen Sonne und Erde ist, was diese Anziehung vermittelt. Man muss sich denken, dass die Sonne durch den Raum hindurch ihre Wirkungssphäre auf Orte ausdehnt, an denen sie nicht ist. Diejenigen, die in grobsinnlichen Vorstellungen leben, sehen in einem solchen Gedanken eine Schwierigkeit.

Wie kann ein Körper da wirken, wo er nicht ist? Schelling kehrt den ganzen Gedankenprozess um. Er sagt: ›Es ist sehr wahr, dass ein Körper nur da wirkt, wo er ist, aber es ist ebenso wahr, dass er nur da ist, wo er wirkt.‹

Wenn wir die Sonne durch die Anziehungskraft auf unsere Erde wirken sehen, so folgt daraus, dass sie sich in ihrem Sein bis auf unsere Erde erstreckt und dass wir kein Recht haben, ihr Dasein nur an den Ort zu versetzen, an dem sie durch ihre Sichtbarkeit wirkt. Die Sonne geht mit ihrem Sein über die Grenzen hinaus, innerhalb deren sie sichtbar ist; nur einen Teil ihres Wesens sieht man; der andere gibt sich durch die Anziehung zu erkennen.

So ungefähr müssen wir uns auch das Verhältnis des Geistes zur Natur denken. Der Geist ist nicht nur da, wo er wahrgenommen wird, sondern auch da, wo er wahrnimmt. Sein Wesen erstreckt sich bis an die fernsten Orte, an denen er noch Gegenstände beobachten kann. Er umspannt und durchdringt die ganze ihm bekannte Natur. Wenn er das Gesetz eines äußeren Vorganges denkt, so bleibt dieser Vorgang nicht außen liegen, und der Geist nimmt bloß ein Spiegelbild auf, sondern dieser strömt sein Wesen in den Vorgang hinein; er durchdringt den Vorgang, und wenn er dann das Gesetz desselben findet, so spricht nicht er es in seinem abgesonderten Gehirnwinkel aus, sondern das Gesetz spricht sich selbst aus. Der Geist ist dorthin gegangen, wo das Gesetz wirkt. Hätte er es nicht beachtet, so hätte es auch gewirkt; aber es wäre nicht ausgesprochen worden. Da der Geist in den Vorgang gleichsam hineinkriecht, so wird das Gesetz auch noch außerdem, dass es wirkt, als Idee, als Begriff ausgesprochen. Nur wenn der Geist auf die Natur keine Rücksicht nimmt und sich selbst anschaut, dann kommt es ihm vor, als wenn er abgesondert von der Natur wäre, wie es dem Auge vorkommt, dass die Sonne innerhalb eines gewissen Raumes eingeschlossen ist, wenn davon abgesehen wird, dass sie auch da ist, wo sie durch Anziehung wirkt. Lasse ich also in meinem Geiste die Ideen entstehen, die Naturgesetze ausdrücken, so ist ebenso wahr, wie die eine Behauptung: dass ich die Natur schaffe, die andere: dass sich in mir die Natur selbst schafft.

Nun gibt es zwei Möglichkeiten, das eine Wesen, das Geist und Natur zugleich ist, zu beschreiben. Die eine ist: ich zeige die Naturgesetze auf, die in Wirklichkeit tätig sind. Oder ich zeige, wie der Geist es macht, um zu diesen Gesetzen zu kommen. Beide male leitet mich eines und dasselbe. Das eine mal zeigt mir die Gesetzmäßigkeit, wie sie in der Natur wirksam ist; das andere mal zeigt mir der Geist, was er beginnt, um sich dieselbe Gesetzmäßigkeit vorzustellen. In dem einen Falle treibe ich Natur-, in dem anderen Geisteswissenschaft. Wie diese beiden zusammengehören, beschreibt Schelling in anziehender Weise: ›Die notwendige Tendenz aller Naturwissenschaft ist, von der Natur aufs Intelligente zu kommen. Dies und nichts anderes liegt dem Bestreben zugrunde, in die Naturerscheinungen Theorie zu bringen. Die höchste Vervollkommnung der Naturwissenschaft wäre die vollkommene Vergeistigung aller Naturgesetze zu Gesetzen des Anschauens und des Denkens. Die Phänomene (das Materielle) müssen völlig verschwinden und nur die Gesetze (das Formelle) bleiben. Daher kommt es, dass, je mehr in der Natur selbst das Gesetzmäßige hervorbricht, desto mehr die Hülle verschwindet, die Phänomene selbst geistiger werden und zuletzt völlig aufhören. Die optischen Phänomene sind nichts anderes als eine Geometrie, deren Linien durch das Licht gezogen werden, und dieses Licht selbst ist schon zweideutiger Materialität.

In den Erscheinungen des Magnetismus verschwindet schon alle materielle Spur, und von den Phänomenen der Schwerkraft, welche selbst Naturforscher nur als unmittelbar geistige Einwirkung Wirkung in die Ferne begreifen zu können glaubten, bleibt nichts zurück als ihr Gesetz, dessen Ausführung im großen der Mechanismus der Himmelsbewegungen ist. Die vollendete Theorie der Natur würde diejenige sein, kraft welcher die ganze Natur sich in eine Intelligenz auflöste. Die toten und bewusstlosen Produkte der Natur sind nur misslungene Versuche der Natur, sich selbst zu reflektieren, die sogenannte Natur aber überhaupt eine unreife Intelligenz, daher in ihren Phänomenen noch bewusstlos schon der intelligente Charakter durchblickt. Das höchste Ziel, sich selbst ganz Objekt zu werden, erreicht die Natur erst durch die höchste und letzte Reflexion, welche nichts anderes als der Mensch, oder allgemeiner das ist, was wir Vernunft nennen, durch welche zuerst die Natur vollständig in sich selbst zurückkehrt, und wodurch offenbar wird, dass die Natur ursprünglich identisch ist mit dem, was in uns als Intelligentes und Bewusstes erkannt wird.» In ein kunstvolles Netz von Gedanken spann Schelling die Tatsachen der Natur ein, so dass alle ihre Erscheinungen wie ein idealer harmonischer Organismus vor seiner schaffenden Phantasie standen.« (Welt- und Lebensanschauungen im 19. Jahrhundert, Berlin 1900, S. 79-81; Zander zitiert nicht nach der ersten Auflage; er verweist auf GA 18, S. 215.)

Eine Reihe beiläufiger Fälschungen bietet der erste Absatz in Zanders Kapitel über »Haeckel und Steiner«.

Zander schreibt auf S. 881:

»1882 lobte er [Steiner] ihn als Naturwissenschaftler, der auch Goethe lese (GA 38,56),

im folgenden Jahr als konsequenten Darwinisten (ebd., 73) ...

Derartige Äußerungen belegen, dass Steiner Haeckel kannte und den Organiker in Goetheschem Geist schätzte.«

1. Die Behauptung, Steiner habe Haeckel als einen Naturwissenschaftler gelobt, der auch Goethe lese, ist falsch. Steiner lobte Haeckel nicht für seine Goethelektüre, sondern bemängelte an ihm, dass seine Auffassungen nicht von Einseitigkeiten frei seien.

Zander bezieht sich auf einen Brief Steiners an Joseph Kürschner, in dem Steiner am 19. November 1882 schrieb:

»Eine weitere Bitte wäre die, Euer Hochwohlgeboren möchten mich gütigst wissen lassen, ob Sie nicht geneigt wären, einen kleinen Aufsatz [von mir zu veröffentlichen]: ›Goethes wissenschaftliche Anschauungen im allgemeinen‹ mit Beziehung auf Haeckels letzten Vortrag über ›Lamarck, Darwin und Goethe‹ und auf Du Bois-Reymonds Rede vom 15. Oktober d. J. ›Goethe und kein Ende‹, welch letzterer Vortrag ja – sogar schon bis in die Tagesjournale herab – viel Staub aufwirbelt. Es erscheint fast unbedingt nötig, gegenüber den hier gebrachten falschen Auffassungen eines im Empirischen hochverdienten Forschers, den wahren Standpunkt geltend zu machen. Sätze wie dieser: Goethes wissenschaftliche Besprechungen seien ›die totgeborene Spielerei eines autodidaktischen Dilettanten‹, sind die traurige Folge des Umstandes, dass selbst unsere großen Naturforscher der Gegenwart es verabscheuen, sich an große Prinzipien zu halten, überhaupt einer tieferen wissenschaftlichen Basis entbehren. Darinnen ist der Grund für die Verkennung Goethes als Gelehrten zu suchen. Der beste Beweis dafür ist, dass höheren Maximen zustrebende Geister – wie Haeckel – auch eine vorurteilsfreiere Auffassung Goethes von dieser Seite bereits angebahnt haben, wenngleich auch deren Auffassung von Einseitigkeiten nicht ganz freizusprechen ist. Die Behandlung meines Themas würde eine ganz populäre sein.« (GA 38, S. 56)

2. Ebenso falsch ist die Behauptung, Steiner habe Haeckel als konsequenten Darwinisten gelobt.

Zander bezieht sich auf einen Brief an Joseph Kürschner vom 20. Dezember 1883, in dem Steiner schrieb:

»Haeckel hat eben vor vielen zeitgenössischen Naturphilosophen einen großen Vorzug. Er hat die allerersten Prinzipien seiner Naturanschauung rückhaltlos vor aller Welt dargelegt. Seine Überzeugung wird aus seinen Schriften vollkommen durchsichtig. Viele andere dagegen lassen die Frage über die ersten Prinzipien offen. Letztere bekennen sich ebenfalls als Anhänger Darwins, ziehen aber durchaus nicht die letzten Konsequenzen seiner Lehre. Haeckel tut dies. Wenn es sich nun darum handelt, über einen bestimmten Punkt der modernen Organismenlehre - im zustimmenden oder ablehnenden Sinn - zu sprechen, so hat man an Haeckel immer denjenigen, bei dem man denselben am konsequentesten und – bis ins Kleinste gehend – genau im Darwinschen Sinne dargestellt findet.«

3. Was es mit Steiners »Lob« auf Haeckel Anfang der 1880er Jahre und seiner »Schätzung des Organikers im Goetheschen Geiste« auf sich hat, kann man aus dem Ersten Band seiner »Einleitungen zu Goethes Naturwissenschaftlichen Schriften« entnehmen (GA 1, Dornach 1987), der 1883 erschienen ist. Hier schreibt Steiner auf S. 33-34:

»Es tritt nun hier noch eine weitere Verschiedenheit der Goetheschen Auffassung von der Darwins hervor, namentlich, wenn man berücksichtigt, wie letztere gewöhnlich vertreten wird. 18

[Anmerkung 18:] Wir haben hier weniger die Entwicklungslehre derjenigen Naturforscher, die auf dem Boden der sinnenfälligen Empirie stehen, vor Augen, als vielmehr die theoretischen Grundlagen, die Prinzipien, die dem Darwinismus zugrunde gelegt werden. Vor allem natürlich die Jenaische Schule mit Haeckel an der Spitze; in diesem Geiste ersten Ranges hat wohl die Darwinsche Lehre mit aller ihrer Einseitigkeit ihre konsequente Ausgestaltung gefunden.«

Und auf S. 104:

»In Goethes Begriffen erhalten wir auch eine ideelle Erklärung für die durch Darwin und Haeckel gefundene Tatsache, daß die Entwicklungsgeschichte des Individuums eine Repetition der Stammesgeschichte repräsentiert. Denn für mehr als eine unerklärte Tatsache kann das, was Haeckel hier bietet, doch nicht genommen werden. Es ist die Tatsache, daß jedes Individuum alle jene Entwicklungsstadien in abgekürzter Form durchmacht, welche uns zugleich die Paläontologie als gesonderte organische Formen aufweist. Haeckel und seine Anhänger erklären dieses aus dem Gesetze der Vererbung. Aber letzteres ist selbst nichts anderes als ein abgekürzter Ausdruck für die angeführte Tatsache.«

Und auf S. 116-118:

»In zwei Heerlager geteilt stehen sich die Ansichten über Goethes Bestrebungen auf naturwissenschaftlichem Gebiete gegenüber.

Die Vertreter des modernen Monismus mit dem Professor Haeckel an der Spitze erkennen in Goethe den Propheten des Darwinismus, der sich das Organische ganz in ihrem Sinne von den Gesetzen beherrscht denkt, die auch in der unorganischen Natur wirksam sind. Was Goethe fehlte, sei nur die Selektionstheorie gewesen, durch welche erst Darwin die monistische Weltanschauung begründet und die Entwicklungstheorie zur wissenschaftlichen Überzeugung erhoben habe.

Diesem Standpunkte steht ein anderer gegenüber, welcher annimmt, die Typusidee bei Goethe sei weiter nichts als ein allgemeiner Begriff, eine Idee im Sinne der platonischen Philosophie. Goethe hätte zwar einzelne Behauptungen getan, die an die Entwicklungstheorie erinnern, wozu er durch den in seiner Natur gelegenen Pantheismus gekommen sei; bis zum letzten mechanischen Grunde fortzuschreiten hätte er aber kein Bedürfnis gefühlt. Von Entwicklungstheorie im modernen Sinne des Wortes könne daher bei ihm nicht die Rede sein.

Indem ich versuchte, Goethes Anschauungen ohne Voraussetzung irgendeines positiven Standpunktes, rein aus Goethes Wesen, aus dem Ganzen seines Geistes zu erklären, wurde klar, dass weder die eine noch die andere der erwähnten Richtungen – so außerordentlich bedeutend auch dasjenige ist, was sie beide zu einer Beurteilung Goethes geliefert haben – seine Naturanschauung vollkommen richtig interpretiert hat.

Die erste der charakterisierten Ansichten hat ganz recht, wenn sie behauptet, Goethe habe dadurch, dass er die Erklärung der organischen Natur anstrebte, den Dualismus bekämpft, der zwischen dieser und der unorganischen Welt unübersteigliche Schranken annimmt. Aber Goethe behauptete die Möglichkeit dieser Erklärung nicht deshalb, weil er sich die Formen und Erscheinungen der organischen Natur in einem mechanischen Zusammenhange dachte, sondern weil er einsah, dass der höhere Zusammenhang, in dem dieselben stehen, unserer Erkenntnis keineswegs verschlossen ist. Er dachte sich das Universum zwar in monistischer Weise als unentzweite Einheit - von der er den Menschen durchaus nicht ausschloss [siehe den Brief Goethes an F. H. Jacobi vom 23. Nov. 1801; WA 15, 280f.] –, aber deshalb erkannte er doch an, dass innerhalb dieser Einheit Stufen zu unterscheiden sind, die ihre eigenen Gesetze haben. Er verhielt sich schon seit seiner Jugend ablehnend gegenüber Bestrebungen, welche sich die Einheit als Einförmigkeit vorstellen und die organische Welt, wie überhaupt das, was innerhalb der Natur als höhere Natur erscheint, von den in der unorganischen Welt wirksamen Gesetzen beherrscht denken (siehe ›Geschichte meines botanischen Studiums‹ in Natw. Schr., 1. Bd., S. 61ff.).«

Zu einer vollends absurden Position gelangt Zander in seiner Auseinandersetzung über Haeckel und Steiner, wenn er Steiner unterstellt, er habe 1900 in seinem Aufsatz »Haeckel und seine Gegner« unter Berufung auf Haeckel materialistische und atheistische Positionen bezogen. Möglich ist dies unter anderem, weil er Steiner Worte Haeckels in den Mund legt.

Auf S. 882 schreibt Zander:

»Er beschrieb unter Berufung auf Haeckel das, ›was wir kurzweg ‚menschliche Seele’ nennen‹, ›nur‹ als ›die Summe unseres Empfindens, Wollens und Denkens, die Summe von physiologischen Funktionen, deren Elementarorgane die mikroskopischen Ganglienzellen unseres Gehirns bilden‹ (ebd., 171), und er sah das ›logische Denken, wie das ästhetische Urteil‹ materialistisch ›entstehen‹: ›Über diese Frage allein spricht sich die vergleichende Physiologie und Gehirnanatomie aus‹. (ebd., 174) Dass er ein ›geistiges Urwesen … (zum Beispiel Schopenhauers Wille oder Hartmanns unbewusster Geist)‹ ablehnte (ebd., 177), war konsequent. In diesem Kontext findet sich eine der prononciertesten atheistischen Aussagen Steiners:

›Wäre die menschliche Vernunft nur Abbild einer ewigen, dann könnte sie ihre Gesetzmäßigkeit nimmermehr durch Selbstbeobachtung gewinnen, sondern sie müsste sie aus der ewigen Vernunft heraus erklären. Wo immer aber eine solche Erklärung versucht worden ist, ist stets einfach die menschliche Vernunft in die Welt hinaus versetzt worden. Wenn der Mystiker durch Versenken in sein Inneres sich zur Anschauung Gottes zu erheben glaubt, so sieht er in Wirklichkeit nur seinen eigenen Geist, den er zum Gott macht‹ (ebd., 178).«

Diese Sätze Zanders stellen ein einziges Gewirr aus entstellenden, verfälschenden Zitatverkürzungen und gravierenden Fehlinterpretationen Steiners dar. Versuchen wir dieses Wirrwarr zu entwirren.

1. Zander behauptet, Steiner habe die menschliche Seele unter Berufung auf Haeckel nur als Summe von physiologischen Funktionen, also materialistisch, beschrieben.

In Wahrheit zitiert Steiner in extenso Haeckels Ansichten – und beschreibt nicht unter Berufung auf ihn – die menschliche Seele als Summe physiologischer Funktionen. Eingeleitet wird sein langes Haeckel-Zitat durch die Gegenüberstellung zweier Alternativen, vor welche die »Entstehung der Arten« das menschliche Denken stelle:

• entweder das vernunftbegabte Bewusstsein ist vor seinem Auftreten in der Welt nicht vorhanden, sondern entsteht als Ergebnis des im Gehirn konzentrierten Nervensystems

• oder eine alles beherrschende Weltvernunft existiert vor allen übrigen Wesen und gestaltet den Stoff so, dass im Menschen ihr Abbild zur Erscheinung kommt.

Danach folgt das Zitat, in dem Haeckel laut Steiner das Werden des Menschengeistes beschreibt. In diesem finden sich die (Haeckelschen) Sätze: »Was wir kurzweg ›menschliche Seele‹ nennen, ist ja nur die Summe unseres Empfindens, Wollens und Denkens, die Summe von physiologischen Funktionen, deren Elementarorgane die mikroskopischen Ganglienzellen unseres Gehirns bilden.«

An das lange Haeckel-Zitat schließt Steiner die Bemerkung an:

»Die Gesamtheit menschlicher Seelentätigkeiten, die in dem einheitlichen Selbstbewusstsein ihren höchsten Ausdruck findet, entspricht  (kursiv L.R.) dem komplizierten Bau des menschlichen Gehirnes ebenso wie das einfache Empfinden und Wollen der Organisation des Urtieres. Die Fortschritte der Physiologie, die wir Forschern wie Goltz, Munk, Wernicke, Edinger, Paul Flechsig und anderen verdanken, geben uns heute die Möglichkeit, einzelne Seelenäußerungen bestimmten Teilen des Gehirnes als deren besondere Funktionen zuzuweisen (kursiv L.R.).«

Steiner erklärt also nicht die menschlichen Seelentätigkeiten oder das Selbstbewusstsein aus dem Gehirn, sondern er redet von Entsprechungen, von Zuweisungen von Funktionen. Kurz darauf spricht er von den Werkzeugen des Denkens im Gehirn, um sich daraufhin mit philosophischen Einwänden gegen Haeckel auseinanderzusetzen und diesen zu entgegnen: »Solche Einwände deuten auf ein Missverständnis der von Haeckel vertretenen Weltanschauung hin. Wer wirklich von dem Sinn dieser Weltanschauung durchdrungen ist, wird die Gesetze des geistigen Lebens niemals auf einem anderen Wege als durch innere Erfahrung, durch Selbstbeobachtung zu erforschen suchen.« (kursiv L.R.)

Und diese innere Erfahrung und Selbstbeobachtung, so Steiner, wird keinen  naturwissenschaftlichen Denker jemals zu der Meinung führen, »dass darüber, was im logischen Sinne wahr oder falsch ist, die körperlich-organischen Gründe Aufschluss geben können. Die geistigen Zusammenhänge können nur aus dem geistigen Leben heraus erkannt werden. Was logisch berechtigt ist, darüber wird immer die Logik, was künstlerisch vollkommen ist, darüber wird das ästhetische Urteil entscheiden.« (kursiv L.R.)

Die Selbstbeobachtung des Denkens zeigt darüberhinaus laut Steiner, dass der menschliche Geist die Erklärungen für das, was er beobachtet, aus sich selbst entnehmen muss. Er muss über die Beobachtung hinausgehen, wenn er sie begreifen will. Für das denkende Bewusstsein gilt dies aber nicht, denn: »Ihm können wir durch keine Erklärung etwas hinzufügen, was nicht schon in der Beobachtung liegt. Es liefert uns die Gesetze für alles andere, es liefert uns zugleich auch seine eigenen ... Über die Richtigkeit des Denkens entscheidet nur das Denken selbst. So ist es das Denken, das uns bei allem Weltgeschehen über die bloße Beobachtung, nicht aber über sich selbst hinausführt.«

Daraus folgt: das Denken und seine innere Gesetzmäßigkeit, sowie die Gesetzmäßigkeiten des Weltzusammenhangs überhaupt, die durch das Denken erkannt werden, können nicht aus den Beobachtungen abgeleitet oder erklärt werden: das Denken kann nur aus sich selbst erklärt werden. Folglich kann es auch keine materialistische oder reduktionistische Erklärung des Denkens aus materiellen Vorgängen geben. Deshalb vertritt Steiner hier keine materialistische Position.

2. Zander behauptet, in Steiners Aufsatz finde sich eine seiner »prononciertesten atheistischen Aussagen«.

Als Beleg für diese Behauptung zitiert Zander folgende Sätze Steiners:

»Wäre die menschliche Vernunft nur Abbild einer ewigen, dann könnte sie ihre Gesetzmäßigkeit nimmermehr durch Selbstbeobachtung gewinnen, sondern sie müsste sie aus der ewigen Vernunft heraus erklären. Wo immer aber eine solche Erklärung versucht worden ist, ist stets einfach die menschliche Vernunft in die Welt hinaus versetzt worden. Wenn der Mystiker durch Versenken in sein Inneres sich zur Anschauung Gottes zu erheben glaubt, so sieht er in Wirklichkeit nur seinen eigenen Geist, den er zum Gott macht.«

Nun erläutert Zander nicht näher, was er an diesen Sätzen für atheistisch hält, immerhin gibt es drei Möglichkeiten. Zander könnte für atheistisch halten,

1. dass Steiner die Vorstellung ablehnt, die menschliche Vernunft sei »nur das Abbild einer ewigen Vernunft« und ihre »Gesetzmäßigkeit« sei aus der ewigen Vernunft zu erklären;

2. dass Steiner alle derartigen Erklärungsversuche als Projektionen der menschlichen Vernunft in die Außenwelt bezeichnet;

3. oder dass er behauptet, der Mystiker, der glaube, er erhebe sich zur Anschauung Gottes, indem er sich in sein Inneres versenke, mache »nur seinen eigenen Geist« zu diesem Gott.

Nirgends behauptet Steiner, es gebe keinen Gott. Für »atheistisch« kann man eine der drei genannten Behauptungen nur halten, wenn man deren Gegenteil für »theistisch« hält. Steiner spricht stattdessen vom »Dualismus«. Dem Dualismus, der den Inhalt der menschlichen Vernunft in ein Jenseits projiziert, oder der versucht, diese Vernunft aus einem hypostasierten Vernunftinhalt zu erklären, oder der Gott jenseits der Vernunft in einem mystischen Inneren sucht, hält Steiner die monistische Auffassung entgegen, die auf der Selbstbeobachtung ebendieser Vernunft beruht. Sein Argument gegen den Dualismus entwickelt er in folgendem Gedankengang:

»Man ziehe nur einmal die richtige Folgerung aus der Erkenntnis, dass Beobachtung in Selbstbeobachtung umschlägt, wenn wir aus naturwissenschaftlichem in geisteswissenschaftliches Gebiet heraufgehen. Läge den Naturerscheinungen eine allgemeine Weltvernunft oder ein anderes geistiges Urwesen zugrunde (zum Beispiel Schopenhauers Wille oder Hartmanns unbewusster Geist), so müsste auch der denkende Menschengeist von diesem Weltwesen geschaffen sein. Eine Übereinstimmung der Begriffe und Ideen, die sich dieser Geist von den Erscheinungen bildet, mit der eigenen Gesetzmäßigkeit dieser Erscheinungen wäre nur möglich, wenn der ideelle Weltkünstler in der menschlichen Seele die Gesetze erzeugte, nach denen er vorher die ganze Welt geschaffen hat. Dann aber könnte der Mensch seine eigene geistige Tätigkeit nicht durch Selbstbeobachtung, sondern durch Beobachtung des Urwesens erkennen, von dem er gebildet ist. Es gäbe eben keine Selbstbeobachtung, sondern nur Beobachtung der Absichten und Zwecke des Urwesens. Mathematik und Logik zum Beispiel dürften nicht dadurch ausgebildet werden, dass der Mensch die innere, eigene Natur geistiger Zusammenhänge sucht, sondern dass er diese geisteswissenschaftlichen Wahrheiten aus den Absichten und Zwecken der ewigen Weltvernunft ableitet.«

Auf diese Argumentation folgen die von Zander zitierten Sätze »Wäre die menschliche Vernunft nur Abbild einer ewigen ...« etc.

Nach Steiners Auffassung ist aber die menschliche Vernunft nicht das Abbild einer ewigen Vernunft, eines unbewussten Willens oder eines unbewussten Geistes, sondern »der Weltengrund hat sich in die Welt vollständig ausgegossen« und »die höchste Form in der er innerhalb der Wirklichkeit des gewöhnlichen Lebens auftritt, ist das Denken und mit demselben die menschliche Persönlichkeit.« (»Grundlinien einer Erkenntnistheorie ...«)

Diese Sätze aus Steiners sogenannter »idealistischer Phase« bezeichnen genau die Position aus seiner von Zander unterstellten »atheistischen Phase«. Steiner verneint nicht die Existenz Gottes, sondern er definiert dessen Begriff »pantheistisch« oder »panentheistisch« um. »Was die Philosophen das Absolute, das ewige Sein, den Weltengrund, was die Religionen Gott nennen, das nennen wir, auf Grund unserer erkenntnistheoretischen Erörterungen: die Idee«, schreibt Steiner in den »Einleitungen zu Goethes Naturwissenschaftlichen Schriften« 1883, und nicht: dessen Existenz leugnen wir.

Steiner vertritt also auch keine atheistische Position und er hat nie eine solche Position vertreten, weil er von der logischen Unmöglichkeit negativer Existentialurteile überzeugt war.

3. In einer Hinsicht vertritt Steiner allerdings eine Position, die man als »materialistisch« bezeichnen könnte.

Bei genauerem Hinsehen, ist sie dies aber nicht. Vielmehr bringt Steiner die Überzeugung zum Ausdruck, dass das menschliche Bewusstsein im Zusammenhang mit der leiblichen Existenz und nur im Zusammenhang mit dieser auftritt.

Er schreibt:

»Ein anderes aber ist die Frage: Wie entsteht das logische Denken, wie das ästhetische Urteil als Funktion des Gehirnes? Über diese Frage allein spricht sich die vergleichende Physiologie und Gehirnanatomie aus. Und diese zeigen, dass das vernünftige Bewusstsein nicht für sich abgesondert existiert und das menschliche Gehirn nur benutzt, um sich durch dasselbe zu äußern, wie der Klavierspieler auf dem Klavier spielt, sondern dass unsere Geisteskräfte ebenso Funktionen der Form-Elemente unseres Gehirns sind, wie ›jede Kraft die Funktion eines materiellen Körpers ist‹ (Haeckel, Anthropogenie).«

Die Frage ist, wie das logische Denken als Funktion des Gehirns entsteht, also wie Denken und Gehirn zusammenwirken. Und auf die Entstehung der Erscheinungsform des Denkens hat das Gehirn, das »Werkzeug des Denkens« allerdings einen Einfluss, denn das Denken wirkt im Gehirn, wie jede Kraft im Körper: seine Kraft muss sich der Organe und Form-Elemente des Gehirns bedienen, wenn es sich durch dieses äußern will.

Die Ausführungen Steiners im Kontext:

»Wenn wir die Frage nach der Entstehung der Arten in ihrer wichtigsten Form aufwerfen, in der nach dem Ursprung des Menschen, so gibt es nur zwei Antworten.

Entweder ist ein vernunftbegabtes Bewusstsein vor seinem tatsächlichen Auftreten in der Welt in keiner Weise vorhanden, sondern es entsteht als Ergebnis des im Gehirn konzentrierten Nervensystems, oder eine alles beherrschende Weltvernunft existiert vor allen übrigen Wesen und gestaltet den Stoff so, dass im Menschen ihr Abbild zur Erscheinung kommt.

Haeckel stellt (in ›Der Monismus als Band zwischen Religion und Wissenschaft‹) das Werden des Menschengeistes in folgender Weise dar:

›Wie unser menschlicher Körper sich langsam und stufenweise aus einer langen Reihe von Wirbeltierahnen herangebildet hat, so gilt dasselbe auch von unserer Seele; als Funktion unseres Gehirns hat sie sich stufenweise in Wechselwirkung mit diesem ihrem Organ entwickelt. Was wir kurzweg ‚menschliche Seele’ nennen, ist ja nur die Summe unseres Empfindens, Wollens und Denkens, die Summe von physiologischen Funktionen, deren Elementarorgane die mikroskopischen Ganglienzellen unseres Gehirns bilden. Wie der bewunderungswürdige Bau dieses letzteren, unseres menschlichen Seelenorgans, sich im Laufe von Jahrmillionen allmählich aus den Gehirnformen höherer und niederer Wirbeltiere emporgebildet hat, zeigt uns die vergleichende Anatomie und Ontogenie; wie Hand in Hand damit auch die Seele selbst — als Funktion des Gehirns — sich entwickelt hat, das lehrt uns die vergleichende Psychologie. Die letztere zeigt uns auch, wie eine niedere Form der Seelentätigkeit schon bei den niedersten Tieren vorhanden ist, bei den einzelligen Urtieren, Infusorien und Rhizopoden. Jeder Naturforscher, der gleich mir lange Jahre hindurch die Lebenstätigkeit dieser einzelligen Protisten beobachtet hat, ist positiv überzeugt, dass auch sie eine Seele besitzen; auch diese ‚Zellseele’ besteht aus einer Summe von Empfindungen, Vorstellungen und Willenstätigkeiten; das Empfinden, Denken und Wollen unserer menschlichen Seele ist nur stufenweise davon verschieden.‹

Die Gesamtheit menschlicher Seelentätigkeiten, die in dem einheitlichen Selbstbewusstsein ihren höchsten Ausdruck findet, entspricht dem komplizierten Bau des menschlichen Gehirnes ebenso wie das einfache Empfinden und Wollen der Organisation des Urtieres. Die Fortschritte der Physiologie, die wir Forschern wie Goltz, Munk, Wernicke, Edinger, Paul Flechsig und anderen verdanken, geben uns heute die Möglichkeit, einzelne Seelenäußerungen bestimmten Teilen des Gehirnes als deren besondere Funktionen zuzuweisen. Wir sehen in vier Gebieten der grauen Rindenzone des Hirnmantels die Vermittler von vier Arten des Empfindens: die Körperfühlsphäre im Scheitellappen, die Riechsphäre im Stirnlappen, die Sehsphäre im Hinterhauptlappen, die Hörsphäre im Schläfenlappen. Das die Empfindungen verbindende und ordnende Denken hat seine Werkzeuge zwischen diesen vier ›Sinnesherden‹. Haeckel knüpft an die Erörterung dieser neueren physiologischen Ergebnisse die Bemerkung:

›Die vier Denkherde, durch eigentümliche und höchst verwickelte Nervenstruktur vor den zwischenliegenden Sinnesherden ausgezeichnet, sind die wahren ‚Denkorgane’, die einzigen realen Werkzeuge unseres Geisteslebens‹ (Über unsere gegenwärtige Kenntnis vom Ursprung des Menschen).

Haeckel fordert von den Psychologen, dass sie solche Ergebnisse bei ihren Ausführungen über das Wesen der Seele berücksichtigen und nicht eine Scheinwissenschaft aufbauen, die sich zusammensetzt aus phantastischer Metaphysik, einseitiger, sogenannter innerer Beobachtung der Seelenvorgänge, unkritischer Vergleichung, missverstandenen Wahrnehmungen und unvollständigen Erfahrungen aus spekulativen Verirrungen und religiösen Dogmen. Man findet dem Vorwurf gegenüber, der durch diese Ansicht der veralteten Seelenkunde gemacht wird, bei Philosophen und auch bei einzelnen Naturforschern die Behauptung, dass in den materiellen Vorgängen des Gehirnes doch nicht das eingeschlossen sein könne, was wir als Geist zusammenfassen; die stofflichen Vorgänge in den Sinnes- und Denksphären seien doch keine Vorstellungen, Empfindungen und Gedanken, sondern nur materielle Erscheinungen. Das Wesen der Gedanken und Empfindungen könnten wir nicht durch äußere Beobachtung, sondern nur durch innere Erfahrung, durch rein geistige Selbstbeobachtung kennenlernen. Gustav Bunge zum Beispiel führt in einem Vortrage ›Vitalismus und Mechanismus‹ (Seite 12) aus: ›In der Aktivität — da steckt das Rätsel des Lebens darin. Den Begriff der Aktivität aber haben wir nicht aus der Sinneswahrnehmung geschöpft, sondern aus der Selbstbeobachtung, aus der Beobachtung des Willens, wie er in unser Bewusstsein tritt, wie er dem inneren Sinn sich offenbart.‹ Manche Denker sehen das Kennzeichen eines philosophischen Kopfes in der Fähigkeit, sich zu der Einsicht zu erheben, dass es eine Umkehrung des richtigen Verhältnisses der Dinge ist, die geistigen Vorgänge aus materiellen begreifen zu wollen.

Solche Einwände deuten auf ein Missverständnis der von Haeckel vertretenen Weltanschauung hin. Wer wirklich von dem Sinn dieser Weltanschauung durchdrungen ist, wird die Gesetze des geistigen Lebens niemals auf einem anderen Wege als durch innere Erfahrung, durch Selbstbeobachtung zu erforschen suchen. Die Gegner der naturwissenschaftlichen Denkungsart reden gerade so, als wenn deren Anhänger die Wahrheiten der Logik, Ethik, Ästhetik und so weiter nicht durch Beobachtung der Geisteserscheinungen als solcher, sondern aus den Ergebnissen der Gehirnanatomie gewinnen wollten. Das von solchen Gegnern selbstgeschaffene Zerrbild naturwissenschaftlicher Weltanschauung nennen sie dann Materialismus und werden nicht müde, immer von neuem zu wiederholen, dass diese Ansicht unfruchtbar sein muss, weil sie die geistige Seite des Daseins ignoriere oder wenigstens auf Kosten der materiellen herabsetze. Otto Liebmann, der hier noch einmal angeführt werden mag, weil seine antinaturwissenschaftlichen Vorstellungen typisch für die Denkweise gewisser Philosophen und Laien sind, bemerkt: ›Gesetzt nun aber, die Naturerkenntnis wäre ans Ziel gelangt, so würde sie in der Lage sein, mir genau die körperlich-organischen Gründe anzugeben, weshalb ich den Satz ‚zweimal zwei ist vier’ für wahr halte und behaupte, den anderen Satz ‚zweimal zwei ist fünf’ für falsch halte und bestreite, oder weshalb ich diese Zeilen hier gerade jetzt aufs Papier schreiben muss, während ich in dem subjektiven Glauben befangen bin, es geschehe dies deshalb, weil ich sie wegen ihrer von mir angenommenen Wahrheit niederschreiben will‹ (Gedanken und Tatsachen).

Kein naturwissenschaftlicher Denker wird je der Meinung sein, dass darüber, was im logischen Sinne wahr oder falsch ist, die körperlich-organischen Gründe Aufschluss geben können. Die geistigen Zusammenhänge können nur aus dem geistigen Leben heraus erkannt werden. Was logisch berechtigt ist, darüber wird immer die Logik, was künstlerisch vollkommen ist, darüber wird das ästhetische Urteil entscheiden.

Ein anderes aber ist die Frage: Wie entsteht das logische Denken, wie das ästhetische Urteil als Funktion des Gehirnes? Über diese Frage allein spricht sich die vergleichende Physiologie und Gehirnanatomie aus. Und diese zeigen, dass das vernünftige Bewusstsein nicht für sich abgesondert existiert und das menschliche Gehirn nur benutzt, um sich durch dasselbe zu äußern, wie der Klavierspieler auf dem Klavier spielt, sondern dass unsere Geisteskräfte ebenso Funktionen der Form-Elemente unseres Gehirns sind, wie ›jede Kraft die Funktion eines materiellen Körpers ist‹ (Haeckel, Anthropogenie).

Das Wesen des Monismus besteht in der Annahme, dass alle Weltvorgänge, von den einfachsten mechanischen an bis herauf zu den höchsten menschlichen Geistesschöpfungen, in gleichem Sinne sich naturgemäß entwickeln und dass alles, was zur Erklärung der Erscheinungen herangezogen wird, innerhalb der Welt selbst zu suchen ist. Dieser Anschauung steht der Dualismus gegenüber, der die reine Naturgesetzlichkeit nicht für ausreichend hält, um die Erscheinungen zu erklären, sondern zu einer über den Erscheinungen waltenden, vernünftigen Wesenheit seine Zuflucht nimmt. Diesen Dualismus muss die Naturwissenschaft, wie gezeigt worden ist, verwerfen.

Es wird nun von Seiten der Philosophie geltend gemacht, dass die Mittel der Naturwissenschaft nicht ausreichen, um eine Weltanschauung zu begründen. Von ihrem Standpunkte aus hätte die Naturwissenschaft ganz recht, wenn sie den ganzen Weltprozess als eine Kette von Ursachen und Wirkungen im Sinne einer rein mechanischen Gesetzmäßigkeit erklärt; aber hinter dieser Gesetzmäßigkeit stecke doch die eigentliche Ursache, die allgemeine Weltvernunft, die sich der mechanischen Mittel nur bedient, um höhere, zweckmäßige Zusammenhänge zu verwirklichen. So sagt zum Beispiel der in den Bahnen Eduard von Hartmanns wandelnde Arthur Drews:

›Auch das menschliche Kunstwerk kommt auf mechanische Weise zustande, wenn man nämlich nur die äußerliche Aufeinanderfolge der einzelnen Momente dabei im Auge hat, ohne darauf zu reflektieren, dass hinter diesem allem doch nur der Gedanke des Künstlers steckt; dennoch würde man denjenigen mit Recht für einen Narren halten, der etwa behaupten wollte, das Kunstwerk sei rein mechanisch entstanden..., was sich auf jenem niedrigeren, mit der bloßen Anschauung der Wirkung sich begnügenden Standpunkte, der also den ganzen Prozess gleichsam nur von hinten betrachtet, als gesetzmäßige Wirkung einer Ursache darstellt, dasselbe erweist sich, von vorne gesehen, allemal als beabsichtigter Zweck des angewandten Mittels‹ (Die deutsche Spekulation seit Kant).

Und Eduard von Hartmann selbst sagt von dem Kampf ums Dasein, der es ermöglicht, die Lebewesen naturgemäß zu erklären:

›Der Kampf ums Dasein und mit ihm die ganze natürliche Zuchtwahl ist nur ein Handlanger der Idee, der die niederen Dienste bei der Verwirklichung jener, nämlich das Bebauen und Anpassen der vom Baumeister nach ihrem Platz im großen Bauwerk bemessenen und typisch vorherbestimmten Steine, verrichten muss. Diese Auslese im Kampf ums Dasein für das im wesentlichen zureichende Erklärungsprinzip der Entwickelung des organischen Reiches ausgeben, wäre nicht anders, als wenn ein Tagelöhner, der beim Zurichten der Steine beim Kölner Dombau mitgewirkt, sich für den Baumeister dieses Kunstwerkes erklären wollte‹ (Philosophie des Unbewussten).

Wären diese Vorstellungen berechtigt, so käme es der Philosophie zu, den Künstler hinter dem Kunstwerke zu suchen. Philosophen haben in der Tat die verschiedensten dualistischen Erklärungsweisen der Welterscheinungen versucht. Sie haben in Gedanken gewisse Wesenheiten konstruiert, die hinter den Erscheinungen schweben sollen, wie der Künstlergeist hinter dem Kunstwerke waltet.

Alle naturwissenschaftlichen Betrachtungen könnten dem Menschen die Überzeugung nicht nehmen, dass die wahrnehmbaren Erscheinungen von außerweltlichen Wesen gelenkt werden, wenn er innerhalb seines Geistes selbst etwas fände, was auf solche Wesen hindeutet. Was vermöchten Anatomie und Physiologie mit ihrer Erklärung, dass die Seelentätigkeiten Funktionen des Gehirnes sind, wenn die Beobachtung dieser Tätigkeiten etwas lieferte, was als höherer Erklärungsgrund anzusehen ist? Wenn der Philosoph uns zu zeigen vermöchte, dass sich in der menschlichen Vernunft eine allgemeine Weltvernunft offenbart, dann könnten eine solche Erkenntnis alle naturwissenschaftlichen Ergebnisse nicht widerlegen.

Nun wird aber die dualistische Weltanschauung durch nichts besser widerlegt als durch die Betrachtung des menschlichen Geistes. Wenn ich einen äußeren Vorgang, zum Beispiel die Bewegung einer elastischen Kugel, die durch eine andere gestoßen worden ist, erklären will, so kann ich nicht bei der bloßen Beobachtung stehen bleiben, sondern ich muss das Gesetz suchen, das Bewegungsrichtung und Schnelligkeit der einen Kugel durch Richtung und Schnelligkeit der anderen bestimmt. Ein solches Gesetz kann mir nicht die bloße Beobachtung, sondern nur die gedankliche Verknüpfung der Vorgänge liefern. Der Mensch entnimmt also aus seinem Geiste die Mittel, um das zu erklären, was sich ihm durch die Beobachtung darbietet. Er muss über die Beobachtung hinausgehen, wenn er sie begreifen will. Beobachtung und Denken sind die beiden Quellen unserer Erkenntnisse über die Dinge. Das gilt für alle Dinge und Vorgänge, nur nicht für das denkende Bewusstsein selbst. Ihm können wir durch keine Erklärung etwas hinzufügen, was nicht schon in der Beobachtung liegt. Es liefert uns die Gesetze für alles andere, es liefert uns zugleich auch seine eigenen. Wenn wir die Richtigkeit eines Naturgesetzes dartun wollen, so vollbringen wir dies dadurch, dass wir Beobachtungen, Wahrnehmungen unterscheiden, ordnen, Schlüsse ziehen, also uns Begriffe und Ideen über die Erfahrungen mit Hilfe des Denkens bilden. Über die Richtigkeit des Denkens entscheidet nur das Denken selbst. So ist es das Denken, das uns bei allem Weltgeschehen über die bloße Beobachtung, nicht aber über sich selbst hinausführt.

Diese Tatsache ist unvereinbar mit der dualistischen Weltanschauung. Was die Anhänger dieser Weltanschauung so oft betonen, dass die Äußerungen des denkenden Bewusstseins uns durch den inneren Sinn der Selbstbeobachtung zugänglich sind, während wir das physische, das chemische Geschehen nur begreifen, wenn wir die Tatsachen der Beobachtung durch logische, mathematische Kombination und so weiter, also durch die Ergebnisse der geisteswissenschaftlichen Gebiete, in die entsprechenden Zusammenhänge bringen: das dürften sie vielmehr niemals zugeben. Denn man ziehe nur einmal die richtige Folgerung aus der Erkenntnis, dass Beobachtung in Selbstbeobachtung umschlägt, wenn wir aus naturwissenschaftlichem in geisteswissenschaftliches Gebiet heraufgehen. Läge den Naturerscheinungen eine allgemeine Weltvernunft oder ein anderes geistiges Urwesen zugrunde (zum Beispiel Schopenhauers Wille oder Hartmanns unbewusster Geist), so müsste auch der denkende Menschengeist von diesem Weltwesen geschaffen sein. Eine Übereinstimmung der Begriffe und Ideen, die sich dieser Geist von den Erscheinungen bildet, mit der eigenen Gesetzmäßigkeit dieser Erscheinungen wäre nur möglich, wenn der ideelle Weltkünstler in der menschlichen Seele die Gesetze erzeugte, nach denen er vorher die ganze Welt geschaffen hat. Dann aber könnte der Mensch seine eigene geistige Tätigkeit nicht durch Selbstbeobachtung, sondern durch Beobachtung des Urwesens erkennen, von dem er gebildet ist. Es gäbe eben keine Selbstbeobachtung, sondern nur Beobachtung der Absichten und Zwecke des Urwesens. Mathematik und Logik zum Beispiel dürften nicht dadurch ausgebildet werden, dass der Mensch die innere, eigene Natur geistiger Zusammenhänge sucht, sondern dass er diese geisteswissenschaftlichen Wahrheiten aus den Absichten und Zwecken der ewigen Weltvernunft ableitet. Wäre die menschliche Vernunft nur Abbild einer ewigen, dann könnte sie ihre Gesetzmäßigkeit nimmermehr durch Selbstbeobachtung gewinnen, sondern sie müsste sie aus der ewigen Vernunft heraus erklären. Wo immer aber eine solche Erklärung versucht worden ist, ist stets einfach die menschliche Vernunft in die Welt hinaus versetzt worden. Wenn der Mystiker durch Versenken in sein Inneres sich zur Anschauung Gottes zu erheben glaubt, so sieht er in Wirklichkeit nur seinen eigenen Geist, den er zum Gott macht, und wenn Eduard von Hartmann von Ideen spricht, die sich der Naturgesetze als Handlanger bedienen, um den Weltenbau zu bilden, so sind diese Ideen nur seine eigenen, durch die er sich die Welt erklärt. Weil Beobachtung der Geistesäußerungen Selbstbeobachtung ist, deshalb spricht sich im Geiste das eigene Selbst und nicht eine äußere Vernunft aus.

Im vollen Einklänge mit der Tatsache der Selbstbeobachtung steht aber die monistische Entwickelungslehre. Hat sich die menschliche Seele langsam und stufenweise mit den Seelenorganen aus niederen Zuständen entwickelt, so ist es selbstverständlich, dass wir ihr Entstehen von unten her naturwissenschaftlich erklären, dass wir aber die innere Wesenheit dessen, was sich zuletzt aus dem komplizierten Bau des menschlichen Gehirns ergibt, nur durch die Betrachtung dieser Wesenheit selbst gewinnen können. Wäre Geist in einer der menschlichen Form ähnlichen immer vorhanden gewesen und hätte sich zuletzt nur im Menschen sein Gegenbild geschaffen, so müssten wir den Menschengeist aus dem Allgeist ableiten können; ist aber der Menschengeist im Laufe der natürlichen Entwickelung als Neubildung entstanden, dann begreifen wir sein Herkommen, wenn wir seine Ahnenreihe verfolgen; wir lernen die Stufe, zu der er zuletzt gekommen ist, kennen, wenn wir ihn selbst betrachten.«

GA 30, Haeckel und seine Gegner, GA 30, Dornach 1989, S. 172-178.

Zander unterstellt Steiner, er habe Troxler lediglich deshalb in den Vordergrund gespielt, weil dessen Begriff der »Anthroposophie« sich in den theosophischen Vereinsquerelen habe gegen Besant instrumentalisieren lassen.

Auf S. 922 schreibt Zander:

»Im Ersten Weltkrieg häuften sich dann die Bezüge. Der Grund für die Karriere Troxlers liegt in seiner Benutzung des Begriffs ›Anthroposophie‹, und der wiederum wurde auf dem Hintergrund der theosophischen Vereinsquerelen für Steiner zu einem elektrisierenden Stichwort: Am 28. Dezember 1912 hatte er ja die Theosophische Gesellschaft in Anthroposophische Gesellschaft umgetauft. Die Bezüge auf Troxler und dessen Anthroposophie stellte Steiner mithin in dem Augenblick her, als er die Namensgleichheit für die Behauptung einer europäischen Tradition der neu gekürten theosophischen Anthroposophie verwenden wollte und als sein theosophisches Weltbild in seinen Grundzügen ausgebildet war. ...

Doch in den Details brechen die Unterschiede zwischen Troxler und Steiners theosophischem Denken auf. Troxler wies als Quelle der Philosophie ›diesen dem Menschen eingebornen und von dem Menschen aus sich zu entbindenden Geist‹ aus. Bei allen neuplatonischen Anklängen blieb Troxler damit, wie er explizit betonte, der Tradition einer spezifisch christlichen ›Theosophie‹ verpflichtet. Die daraus folgenden Differenzen zur Adyar-Theosophie zeigen sich etwa [sic!] einer Passage aus Troxlers ›Vorlesungen über Philosophie‹ von 1835: ›Wenn es nun höchst erfreulich ist, dass die neueste Philosophie … in jeder Anthroposophie, also in Poesie wie in Historie sich offenbaren muss, emporwindet, so ist doch nicht zu übersehen, dass diese Idee nicht eine Frucht der Spekulation sein kann und die wahrhafte Persönlichkeit oder Individualität des Menschen weder mit dem, was sie als subjektiven Geist oder absolute Persönlichkeit diesem gegenüberstellt, verwechselt werden darf.‹.242

Anmerkung 242: Troxler, Vorlesungen über Philosophie, 101; Zit. bei Steiner GA 35,216.«

Zanders Behauptung: »Die Bezüge auf Troxler und dessen Anthroposophie stellte Steiner mithin in dem Augenblick her, als er die Namensgleichheit für die Behauptung einer europäischen Tradition der neu gekürten theosophischen Anthroposophie verwenden wollte ...« ist aus der Luft gegriffen. Warum häufen sich Steiners Bezüge auf Troxler erst während des Ersten Weltkriegs und danach und nicht bereits 1912, wenn er diesen als Waffe gegen die Adyar-Theosophie benutzen wollte und diesen nachweislich bereits 1906 kannte? Hätte er dann nicht bereits 1912/13 diese Bezüge deutlich herausgestellt? Und hätte er dann nicht ebenso wie an der »ätherischen Wiederkehr Christi« – wie Zander mehrfach behauptet – 1916 längst das Interesse an Troxler verloren haben müssen, da die Notwendigkeit, sich gegen die Adyar-Theosophie abzugrenzen, längst passé war?

Zander erweckt im übrigen den Eindruck, als habe er Troxlers »Vorlesungen über Philosophie« im Original gelesen, zitiert jedoch samt Auslassungszeichen nur das verstümmelte Zitat, das in GA 35 abgedruckt ist.

Im Original der Berner Ausgabe 1835 lautet der Satz auf S. 101 jedenfalls wie folgt [Auslassung unterstrichen]:

»Wenn es nun höchst erfreulich ist, dass die neueste Philosophie, welche wir längst als diejenige anerkannt haben, die alle lebendige Religion begründet, und in jeder Anthroposophie, also in Poesie, wie in Historie sich offenbaren muss, emporwindet, so ist doch nicht zu übersehen, dass diese Idee nicht eine Frucht der Spekulation sein kann, und die wahrhafte Persönlichkeit oder Individualität des Menschen weder mit dem, was sie als subjektiven Geist, noch mit dem , was sie als absoluten Geist oder absolute Persönlichkeit diesem gegenüberstellt, verwechselt werden darf.«

Hätte Zander das Original dieses Textes gelesen, hätte er wohl kaum ausgerechnet unter Berufung auf dieses Zitat – behaupten können, Troxler sei »der Tradition einer spezifisch christlichen ›Theosophie‹ verpflichtet« gewesen, denn dann hätte Troxler wohl kaum schreiben können: »die neueste Philosophie« sei von ihm »längst als diejenige anerkannt« worden, »die alle lebendige Religion begründet«.

Im übrigen zitiert Troxler an dieser Stelle Paracelsus. Er schreibt:

»›Der Mensch‹, wie Hohenheim ferner sagt, ›erfindet nichts, und der Teufel kann nichts erfinden. Gott ist es allein, der uns Alles durch das Licht der Natur offenbart. Gott bleibt in allen Dingen der oberste Skribent, der erste, der höchste, und unser aller Text. Der Geist, der von demselben ausgeht, wird uns, wie die Schrift sagt, in alle Wahrheit führen, und alle Dinge lehren.‹

Und diesen dem Menschen eingeborenen und von dem Menschen aus sich zu entbindenden Geist Gottes halten auch wir für die einzige Quelle der Philosophie; denn dieser Geist in dem Menschen ist das sich selbst beleuchtende und erschauende Lichtleben oder Seelwesen, das Ewige und Alleine der menschlichen Erkenntnis, welches von dem Philosophen vor allem aus anerkannt werden muss. Der neueren Philosophie hat es daher besonders am Erkennen des menschlichen Erkennens gefehlt.« (Naturlehre des menschlichen Erkennens, Neuausgabe Troxler Verlag Bern 1944, S. 27).

Zanders gesamte Argumentation weist eine Reihe weiterer Inkonsistenzen auf. Es ist nicht ersichtlich, warum Troxlers Aussage, die Quelle der Philosophie sei der »dem Menschen eingeborene und von dem Menschen aus sich zu entbindende Geist« eine Differenz zu Steiners theosophischem Denken darstellen soll, warum Steiners Denken ausgerechnet im Kontext einer Distanzierung von der Adyar-Theosophie »adyar-theosophisch« sein soll und inwiefern der von Zander zitierte Text Troxlers im Widerspruch zu einer adyar-theosophischen Position stehen soll.

Was die Bezugnahme Steiners auf Troxler im Jahr 1916 anbetrifft, so führt ihn jener nicht als Gewährsmann gegen die Adyar-Theosophie ins Feld, sondern als Zeugen dafür, dass »im Lauf der neueren Zeit deutlich das Bestreben auftritt« zu der von ihm vertretenen Geisteswissenschaft zu kommen. Im übrigen enthält die Bezugnahme Steiners auf Troxler in diesem Text die Pointe, dass Steiner auf Troxlers Defizite hinweist und darauf, dass er gegenüber der Philosophie J. G. Fichtes, Schellings und Hegel nicht einen »Fortschritt, sondern einen Rückschritt« darstelle.

Steiner schreibt 1916:

»So wenig nun eine Geisteswissenschaft mit solchen Zielen mit älteren Weltanschauungsrichtungen, wie der Gnosis und ähnlichem, verwechselt werden darf, so ist doch die Tatsache vorhanden, dass im Laufe der neueren Zeit deutlich das Bestreben auftritt, zu ihr zu kommen, dass sie nicht also wie ein willkürlich Ersonnenes in der Gegenwart auftritt, sondern wie eine Erfüllung von Hoffnungen, die im geistigen Entwickelungsprozess des Abendlandes zu bemerken sind. Um dies zu belegen, ließe sich vieles anführen. Es sollen hier aber nur zwei Beispiele gebracht werden, welche zeigen, das ›Anthroposophie‹ etwas ist, woran seit lange gedacht wird.

Troxler, ein viel zu wenig gewürdigter Denker aus der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts, gab 1835 ›Vorlesungen über Philosophie‹ heraus. Darin findet sich der Satz: ›Wenn es nun höchst erfreulich ist, dass die neueste Philosophie, die... in jeder Anthroposophie, also in Poesie, wie in Historie, sich offenbaren muss, emporwindet, so ist doch nicht zu übersehen, dass diese Idee nicht eine Frucht der Spekulation sein kann, und die wahrhafte Persönlichkeit oder Individualität des Menschen weder mit dem, was sie als subjektiven Geist oder endliches Ich aufstellt, noch mit dem, was sie als absoluten Geist oder absolute Persönlichkeit diesem gegenüberstellt, verwechselt werden darf.‹

Und was er über diese seine Idee einer Anthroposophie vorbringt, ist bei Troxler angeschlossen an Sätze, die deutlich zeigen, wie er der Annahme von Wesensgliedern der Menschennatur über den physischen Leib hinaus nahe steht. Sagt er doch: ›Schon früher haben die Philosophen einen feinen, hehren Seelenleib unterschieden von dem gröberen Körper, oder in diesem eine Art von Hülle des Geistes angenommen, eine Seele, die ein Bild des Leibes an sich habe, das sie Schema nannten, und das ihnen der innere höhere Mensch war.‹

Der Zusammenhang, in dem diese Worte bei Troxler stehen, und dessen ganze Weltanschauung bezeugen, dass man bei ihm Bestrebungen sehen darf, die sich durch eine Geisteswissenschaft im Sinne dieser Schriften erfüllen lassen. Nur weil Troxler nicht in der Lage ist, zu erkennen, dass Anthroposophie nur möglich ist durch Entwicklung von Seelenfähigkeiten in der Richtung wie diese Schrift dies andeutet, fällt er mit seinen eigenen Anschauungen in Gesichtspunkte zurück, die gegenüber dem von J. G. Fichte, Schelling, Hegel errungenen nicht ein Fortschritt, sondern ein Rückschritt sind. (Vgl. mein Buch: ›Die Rätsel der Philosophie‹.)«

Rudolf Steiner: »Die Aufgabe der Geisteswissenschaft und deren Bau in Dornach« (April 1916), in GA 35, Dornach 1965, S. 215-217.