In einem Absatz zum »Aufruf an das deutsche Volk und die Kulturwelt« enthüllt Zander wieder einmal ein Zugeständnis Steiners.

Auf S. 1297 schreibt Zander:

»Aber Steiner realisierte, dass er zu mehr als einer ›skizzenhaften‹ Darstellung nicht in der Lage war.«

Zander erweckt den Eindruck, diese Aussage beziehe sich auf den »Aufruf« und bedeute, Steiner sei mangels Einsichten oder Ideen zu nicht mehr in der Lage gewesen. Er ist aber in einem Vortrag enthalten, den Steiner am 5. Februar 1919 in Zürich hielt und bezieht sich auf diesen Vortrag. Auf den von Zander zitierten Satz folgt ein zweiter, der das Gegenteil einer »Realisierung« enthält, dass Steiner nur zu einer skizzenhaften Darstellung (der Dreigliederung) in der Lage sei.

Der Text im Kontext lautet:

»Ich kann heute die Struktur des sozialen Organismus nur skizzenhaft andeuten. In den nächsten Vorträgen werde ich dieses alles im einzelnen begründen und beweisen.« (GA 328, Dornach 1977, S. 39)

Im Interesse seiner steilen These von der »autoritären Herrschaft eines aristokratischen Geisteslebens« im dreigegliederten sozialen Organismus biegt Zander bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit Zitate zurecht.

Auf S. 1307 schreibt Zander:

»Offenbar um dem Missbrauch durch eine (zu lange) Arbeitszeit zu begegnen, hatte Steiner schon im Februar 1919 vorgeschlagen, die Zeitregelung ›durch ein von dem Wirtschaftsleben unabhängiges Leben‹, also durch das Geistesleben vornehmen zu lassen (GA 328,121).«

Die Behauptung, die Regelung der Arbeitszeiten habe »durch das Geistesleben« zu erfolgen, ist schlicht erlogen. In dem von Zander zitierten Vortrag ist ausdrücklich vom Rechtsleben als dem Gebiet die Rede, auf dem die genannten Regelungen getroffen werden müssen. Dieses Rechtsleben wird sogar in dem Satz ausdrücklich genannt, den Zander verstümmelt zitiert. Er lautet im Original:

»Man wird sich in der Zukunft, wenn der soziale Organismus lebensfähig sein soll, auch danach zu richten haben, wie produziert werden muss, wie die Warenzirkulation verlaufen muss. Wenn nicht diese Warenzirkulation bestimmt Entlohnung, Arbeitszeit, Arbeitsrecht überhaupt, sondern wenn unabhängig von der Warenzirkulation, von dem Warenmarkt, auf dem Gebiete des staatlichen Rechtslebens, bloß aus den menschlichen Bedürfnissen, bloß aus rein menschlichen Gesichtspunkten heraus die Arbeitszeit festgesetzt werden wird, dann wird es so sein, dass einfach eine Ware so viel kostet, als das Notwendige kostet zu[r] ... Aufbringung der Zeit, die für eine bestimmte Arbeit notwendig ist, die aber geregelt ist durch ein von dem Wirtschaftsleben unabhängiges Leben, während zum Beispiel das Wirtschaftsleben heute von sich aus regelt das Arbeits-Verhältnis, so dass nach den Preisen der Ware sich vielfach im volkswirtschaftlichen Prozess regeln muss Arbeitszeit, Arbeits-Verhältnis. Das Umgekehrte wird eintreten bei einer richtigen Gliederung des sozialen Organismus.« (GA 328, S. 121)

Steiner soll laut Zander am 12. Februar 1919 das öffentliche Recht dem Rechtsleben, das Privat- und Strafrecht aber dem Geistesleben zugeordnet, damit einen »Systembruch« begangen und »demokratisch legitimierten Rechtsorganen die Durchsetzung von Gerechtigkeit« nicht zugetraut haben. 

Auf S. 1308-1309 schreibt Zander:

»In welchem Ausmaß Steiner im Rechtsbereich von punktuellen Einsichten und namentlich von seinen österreichischen Erfahrungen abhängig war, dokumentiert eine relativ frühe Äußerung vom 12. Februar 1919, in der er das öffentliche Recht dem Rechtsleben, jedoch das private Recht und das Strafrecht dem Geistesleben zuordnete (GA 328,39). Diesen offenkundlichen Systembruch erläuterte er gut zwei Wochen später, als er erneut die Trennung »des praktischen Richtens von dem allgemeinen öffentlichen Rechtsleben« forderte (ebd., 134) ... Steiner traute, dies ist der Angelpunkt seiner Position, aufgrund dieser Erfahrungen demokratisch legitimierten Rechtsorganen keine Durchsetzung von Gerechtigkeit zu, die er nur im elitären Bereich des Geistigen garantiert sah.«

Zander findet Fehler und Inkonsistenzen in Steiners Denken, die in Wahrheit seinem begrenzten Verständnishorizont zuzuschreiben sind. Ein »offenkundlicher« Fehler liegt jedenfalls vor, wenn Zander die zitierten Äußerungen einem Vortrag vom 12. Februar zuordnet. In Wahrheit stehen die herangezogenen Äußerungen in einem Vortrag vom 5. Februar 1919 und das Thema wurde nicht gut zwei Wochen später, sondern drei Wochen später, am 25.2. in einer Diskussion im Anschluss an einen Vortrag aufgegriffen.

Die unterschiedlichen Zuordnungen stellen weder einen »Systembruch« dar, wie Zander behauptet, noch zeugen Steiners Äußerungen davon, dass er »demokratisch legitimierten Rechtsorganen keine Durchsetzung von Gerechtigkeit zutraute«.

Dass Richter nach Steiners Auffassung auf Zeit gewählt werden sollten, geht schon aus den »Kernpunkten« hervor: »Obenan als notwendige Zielsetzung des öffentlichen Lebens muss gegenwärtig das Hinarbeiten auf eine durchgreifende Trennung des Wirtschaftslebens und der Rechtsorganisation stehen. Indem man sich in diese Trennung hineinlebt, werden die sich trennenden Organisationen aus ihren eigenen Grundlagen heraus die besten Arten für die Wahlen ihrer Gesetzgeber und Verwalter finden.« (GA 23, Dornach 1976, S. 76-77)

Gewählt werden können die Richter des Zivil- und Strafrechts aber auch noch in einem anderen Sinn: Steiner plädiert hinsichtlich potentieller Delinquenten oder Rechtsstreitender für die freie Richterwahl: »In gewissen Grenzen hat dann jeder Mensch die Möglichkeit, sich die Persönlichkeit unter den Aufgestellten für fünf oder zehn Jahre zu wählen, zu der er so viel Vertrauen hat, dass er in dieser Zeit, wenn es dazu kommt, von ihr die Entscheidung in einem privaten oder strafrechtlichen Fall entgegennehmen will.« (GA 23, Dornach 1976, S. 140)

Die Urteilsfindung obliegt dem einzelnen Richter und ist eine geistige Leistung, die als solche dem Geistesleben zuzurechnen ist. »Die Urteilsvollstreckung fällt« dagegen »dem Rechtsstaate zu.« (GA 23, Dornach 1976, S. 140)

Zander verwechselt hier das »Rechtsleben« als selbstständiges Glied des sozialen Organismus, in dem alle Verhältnisse von Mensch zu Mensch, insofern die Menschen gleich sind, nach demokratischen Prinzipien geregelt werden sollen, mit der Rechtsfindung oder Urteilsfindung als kreativer, individueller geistiger Leistung, die – auch wenn der Richter dem Rechtsleben – angehört, innerhalb des Rechtslebens dem Geistesleben zuzurechnen ist. Die Durchdringung der Sphären in der Urteilsfindung, bei der ein Akt des Geisteslebens im Rechtsleben stattfindet, was die Zugehörigkeit des Richters zum Rechtsleben als sozialer Sphäre nicht verhindert, ist jener anderen vergleichbar, bei der eine Schöpfung des Geisteslebens, die an sich kein Wirtschaftsgut ist, mittels ihrer Aufnahme in den Wirtschaftskreislauf zur Ware wird.

Wenn Zander von einem »Geständnis« oder »Zugeständnis« Steiners spricht, kann man in der Regel davon ausgehen, dass es sich um eine tendenziöse Lesart oder eine Projektion in den Text handelt, die sich aus der inquisitorischen Perspektive Zanders gegenüber Steiner ergibt.

Auf S. 1310 schreibt Zander:

»Als er tags darauf vor den Arbeiterausschüssen der großen Betriebe Stuttgarts sprach, gestand er, nicht viel gelesen, sondern sich ›aus dem Leben heraus‹ ein ›Bild‹ gemacht zu haben (ebd. [=GA 331], 26) und namentlich hinsichtlich der Betriebsräte ›nicht ein fertiges Programm‹ zu besitzen (ebd., 30).«

In Wahrheit sagt Steiner, er habe sich »viel Mühe gemacht«, nicht aus dem, was über das behandelte Thema geschrieben worden sei, sondern aus dem Leben heraus ein Bild von der Problematik zu entwickeln:

»Ich habe mir viel Mühe gemacht, mir nicht aus dem, was über die Dinge geschrieben worden ist – denn daraus ist in Wahrheit sehr wenig zu entnehmen –, sondern gerade aus dem Leben heraus ein entsprechendes Bild zu machen. Ich möchte diese Dinge heute nur kurz referieren, damit wir zu konkreten Fragen kommen können. Ich habe es in meinem Buch ja ausführlich begründet: Solange der Glaube herrscht, dass man das, was Arbeitszeit, was Maß und Art der Arbeit sein muss, innerhalb des Wirtschaftskörpers selbst regeln will, so lange kann der Arbeiter nicht zu seinem Recht kommen.« (GA 331, Dornach 1989, S. 26)

Steiner »gesteht« auch nicht »zu«, kein Programm zu haben. Vielmehr betont er, »aus der Wirklichkeit heraus zu denken« und deswegen kein fertiges Programm zu haben, das der sozialen Wirklichkeit übergestülpt werden soll, – die sachgemäßen Einrichtungen sollen aus den konkreten Situationen und Bedürfnissen der Beteiligten heraus von diesen selbst entwickelt – und nicht von ihm (Steiner) offenbart – werden.

»Nehmen wir als eine heute aktuell werdende Frage, von der ich hoffe, dass wir nachher darauf näher eingehen werden, die Frage der Betriebsräte. Sehen Sie, meine Vorschläge sind aus der Wirklichkeit heraus gedacht und daher nicht ein fertiges Programm, sondern etwas, was in Angriff genommen werden soll und was nach und nach, nicht langsam, sondern eben vielleicht auch schnell nach und nach, das werden die Zeitverhältnisse notwendig machen, entstehen soll. Es entsteht durch das, was ich als dreigliedrigen Impuls für eine wirkliche Sozialisierung hinzustellen versuchte, die Möglichkeit, wirklich vorwärtszukommen.« (GA 331, Dornach 1989, S. 30)

Zanders Kritik an Steiners »Programmlosigkeit« ist ein Beispiel für seine willkürliche Wahl der ideellen Standpunkte, von denen aus er Steiner anzuschwärzen sucht. Letztlich ist es gleichgültig, wie Steiner sich verhält: bietet er kein Programm oder keine Lösung an, sondern ermutigt die Beteiligten völlig unelitär und basisorientiert, selbst nach diesen Lösungen zu suchen, wird ihm eben diese Zurückhaltung vorgeworfen, bietet er eine Lösung an, wird ihm dies als elitär und autoritär vorgeworfen.

Zander behauptet, Steiner habe 1919 vorgeschlagen, die wirtschaftliche Produktion durch Produzenten- und Konsumentengenossenschaften zentral zu lenken und sich für eine Gemeinbewirtschaftung eingesetzt. Das Gegenteil ist richtig.

Auf S. 1312 schreibt Zander:

»Im September schlug er vor, die Produktion durch Produzenten- und Konsumentengenossenschaften zentral zu lenken: Er wolle keine ›Planwirtschaft‹ und keine ›Verstaatlichung‹, da er offenbar Missverständnisse drohen sah, sondern eine ›Gemeinbewirtschaftung‹ ›durch Assoziationen, die rein aus den Wirtschaftskräften selbst gebildet sind‹ (GA 3331,87) ... Dies erinnert an Vorstellungen, wie sie die Sozialisierungskommission im Februar für den Kohlebergbau unterbreitet hatte ...«

Steiner setzte sich weder für eine »zentrale« Verwaltung der Produktionsprozesse, noch für eine »Gemeinbewirtschaftung« der »Produktion« ein. Beides widerstreitet der Idee der assoziativen Zusammenarbeit der Beteiligten auf ökonomischem Gebiet und der von ihm betonten Notwendigkeit der »Initiative des Einzelnen«. Tatsächlich führte Steiner im September 1919 aus:

»Das zeigt Ihnen, wie durch Assoziationen, die rein aus den Wirtschaftskräften selbst gebildet sind, das Wirtschaftsleben auf sich selbst gestellt werden soll, wie das Wirtschaftsleben, über welches heute der Staat seine Fittiche ausgedehnt hat, in der Tat nur von den wirtschaftenden Kräften selbst verwaltet werden soll, und zwar so, dass innerhalb dieser Verwaltung des Wirtschaftslebens die Initiative des Einzelnen möglichst gewahrt werde. Das kann nicht durch eine Planwirtschaft, nicht durch Aufrichtung einer Gemeinbewirtschaftung der Produktionsmittel, sondern einzig und allein durch Assoziationen der freien Produktionszweige und durch Übereinkommen dieser Assoziationen mit den Konsumgenossenschaften geschehen.« (GA 333, Dornach 1985, S. 87)