Über die weiteren Darstellungen in der Vortragsreihe »Die Mission einzelner Volksseelen ...« weiß Zander zu vermelden, Steiner habe die »Rassenentwicklung« mit den biographischen Lebensaltern korreliert. Er deutet in Steiners Darstellungen einen Präsentismus hinein, der in ihnen nicht zu finden ist.

Auf S. 305 schreibt Zander:

»Im weiteren Verlauf des Zyklus korreliert Steiner die Rassenentwicklung mit der Entwicklung des Menschen von der Kindheit zum Alter. ›Neger‹ sind ›Kräften‹ unterworfen, ›welche den Menschen namentlich in seiner ersten Kindheitszeit ergreifen können‹ (GA 121,77), den ›gelben und bräunlichen Rassen‹ in Asien werden  ›die späteren Jugendmerkmale dem Menschen aus den Erdenkräften heraus bleibend aufgedrückt‹ (GA 121,77), die ›reifsten Merkmale‹ dem Menschen ›im europäischen Gebiete‹ ›aufgedrückt‹ (GA 121,78).«

Auch hier lohnt sich ein genauerer Blick in Steiners Ausführungen.

Während Zander die Präsensform verwendet, um den Eindruck zu erwecken, Steiner spreche von gegenwärtigen Rassen, verwendet Steiner in seinem Vortrag das Präsens historicum.

Seine Ausführungen beziehen sich auf die späte lemurische und die atlantische Zeit. Es wird geschildert, welche Absichten die regulären Geister der Form (die in der Bibel als »Elohim« bezeichnet werden) mit dem Menschen verfolgten und wie diese Absichten von den abnormen Geistern der Form durchkreuzt wurden. Hätten allein die regulären Geister der Form auf den Menschen in der späten lemurischen und der atlantischen Zeit eingewirkt, dann hätten alle Menschen, die die Erde betraten die gleiche Gestalt gehabt. Das geistige Wesen des Menschen hätte sich erst im zweiten Lebensdrittel mit seinem Leib verbunden und diesen am Ende dieses Drittels bereits wieder verlassen.

Die abnormen Geister der Form bewirkten jedoch eine stärkere Verbindung des Leibes des Menschen mit der Erde und dieser geriet unter den Einfluss unterschiedlicher geographischer, klimatischer und geologischer Verhältnisse, die dem einheitlichen Menschenleib unterschiedliche Gestalt gaben.

Diese unterschiedlichen Gestalten stellten Vereinseitigungen des einheitlichen Menschenleibes, Abweichungen von der Idealgestalt dar, die nirgends auf der Erde, in keiner Rasse erschien. Die Kräfte der unterschiedlichen Planeten Mond, Merkur, Venus, Mars, Jupiter und Saturn, die im ersten und dritten Lebensdrittel auf den Menschen einwirkten, formten an unterschiedlichen Erdenorten (Afrika, Asien, Europa, Amerika) Gestaltmerkmale aus, die, nachdem sie einmal entstanden waren, durch Vererbung an die Nachkommen weitergegeben wurden.

Aber all das, was mit dieser Individualisierung der einen leiblichen Menschenform zu tun hat, bezieht sich »nur auf den Menschen, insofern er von den physisch-organisatorischen Kräften abhängig ist, von den Kräften, die nicht sein Wesen als Menschen ausmachen, sondern in denen er« als geistig-seelisches Wesen lebt.

Mit anderen Worten: die Geschichte des Leibes ist nicht die Geschichte der Seele oder des geistigen Wesens des Menschen, das Wesen des Menschen, der in einen bestimmten Leib hineingeboren wird, ist durch diesen Leib nicht bestimmt, die »Kindheitsmerkmale«, »Jugendmerkmale«, »Merkmale des späteren Lebensalters« sind nicht Merkmale des geistigen oder seelischen Wesens des Menschen, sondern Merkmale des Leibes, der Gestalt. Die atlantischen Wanderzüge der Menschenvorfahren kamen auf dem amerikanischen Kontinent an ihr Ende.

Danach schloss sich die Kulturentwicklung der nachatlantischen Zeit an. Dazu finden neue Wanderungsbewegungen statt.

»Um aufzufrischen die Menschheit mit neuer Jugendkraft, findet der Zug nach Osten statt, der Zug, der von Atlantis herüber über Europa nach Asien sich bewegt. Dann geschieht eine Wiederholung des Zuges nach dem Westen. Es wiederholt sich aber jetzt nicht die Bewegung der Rassen, sondern gleichsam eine höhere Stufe der Rassenentwickelung, die Entwickelung der Kulturen ...«

Auf dieser höheren Stufe werden, wie bereits mehrfach bemerkt, die Residuen der Rassen von den seelisch-geistigen, emergenten Eigenschaften überformt und verdrängt.

»Damals in urferner Vergangenheit [d.h. in der atlantischen Zeit]« fährt Steiner bei seiner Schilderung der Kulturentwicklung fort, »wurde der physische Rassecharakter aus der Erde heraus bestimmt; jetzt bei wiederholter Anwesenheit an demselben Erdenorte wurde mehr eine Seelenbeschaffenheit, die des altindischen Menschen [des ersten nachatlantischen Kulturzeitraums] bestimmt. Durch den Zug von Westen nach Osten ist eine solche Jugendfrische aufgetreten, dass durch diesen Vorgang die eigentümliche Geisteskonfiguration hervorgehen konnte, welche die ursprüngliche indische Kultur charakterisiert ...

Wenn wir nunmehr die Kulturen, die sich in der nachatlantischen Zeit gefolgt sind, betrachten, so können wir sehen, dass sie die aufeinanderfolgende Wiederholung früherer im physischen Leibe durchgemachter, aber wieder durch Verjüngung ganz anders gewordener Verhältnisse darstellen.« (GA 121, 10. Juni 1910) Die Entwicklung der Menschheit in der nachatlantischen Zeit, in deren Verlauf die »heutige Menschheit« entstanden ist, war also eine Seelenentwicklung, eine Entwicklung der Kulturen, durch die sich die unterschiedlichen »Geisteskonfigurationen« dieser Kulturen herausbildeten.

Die Schilderungen Steiners im Zusammenhang:

»Wenn das alles so geworden wäre, wie es nicht geworden ist, wenn der Mensch erhöht im Umkreis der Erde das erste und dritte Drittel seines Lebens durchgemacht und nur im mittleren Teile die Erde berührt hätte, also im Grunde genommen ein ganz anderes Wesen geworden wäre, dann würde der Mensch nicht in dem Grade an die Erde gebunden sein, in dem er tatsächlich heute an dieselbe gebunden ist.

Wenn das eingetreten wäre, dann würden alle Menschen, welche die Erde betreten, von gleicher Gestalt und Wesenheit sein; dann würden alle Menschen, die über die Erde hingegangen sind, gleichgestaltet gewesen sein. Eine Menschheit gäbe es nur. Dasjenige, was uns zu einem solchen Wesen macht, dass sich daraus die spezifischen Eigenschaften der Rassen ergeben, die im Menschentum zum Ausdruck kommen, das ist nicht im mittleren Drittel des Lebens enthalten. Durch alles das, was in der Zeit vorher liegt, was im ersten Drittel des Lebens sich vollzieht, sind wir mehr mit allen unseren Kräften an die Erde gebunden, als es die normalen Geister der Form für uns bestimmt haben. Dadurch aber ist der Mensch mehr von der Erde, auf der er lebt, abhängig geworden, als er es sonst geworden wäre. Er ist abhängig geworden von dem Orte der Erde, auf dem er lebt.

Dadurch, dass der Mensch – sozusagen gegen die Intentionen der Geister der Form – früher auf die Erde heruntersteigt, wird er abhängig von dem Orte, weil er sich in einem Zustande mit der Erde verbindet, der ihm gar nicht vorgezeichnet ist. Unabhängig wäre der Mensch geworden davon, ob er im Norden oder Süden, im Osten oder Westen die Erde betreten hätte, wenn er sie nur im mittleren Drittel seines Lebens betreten hätte.

Dadurch aber, dass er abhängig wird von der Erde, dadurch, dass er eine Jugend durchmacht in der Weise, wie wir es charakterisiert haben, wird er erdgebunden, wird er ein mit dem Gebiete, auf dem er geboren ist, zusammenhängendes, zu ihm gehörendes Wesen. Dadurch wird er abhängig von all den Verhältnissen der Erde, die diesem Orte zugehören, von dem Einfallen der Sonnenstrahlen, von dem Umstand, ob die Gegend nahe dem Äquator in der heißen Zone oder in einem mehr gemäßigten Gebiete sich befindet, ob er auf einem niedrig gelegenen Gebiet oder auf einem Hochplateau geboren ist. Man atmet ja ganz verschiedenartig in der Ebene oder im Gebirge. Der Mensch wird also ganz abhängig von den irdischen Verhältnissen, von dem Ort, an dem er geboren ist.

So sehen wir, dass der Mensch förmlich mit seiner Erdenmutter zusammengewachsen ist dadurch, dass er so eng zusammenhängt mit dem Orte, mit dem Gebiete der Erde, auf dem er jeweils geboren wird, und dass er bestimmt wird durch diejenigen Eigenschaften, die er dadurch erhält, dass diese Kräfte der Erde, die durch den betreffenden Ort bestimmt sind, in ihm wirken.

Das alles bestimmt seinen Rassencharakter, und auf diesem Umwege sind die abnormen Geister der Form – diejenigen Geister der Form oder Gewalten, die zu einer anderen Zeit als zwischen dem einundzwanzigsten bis dreiundvierzigsten Jahre dem Menschen das geben, was wir heutiges Erdenbewusstsein nennen – die Verursacher der Rassenverschiedenheit des Menschen über die ganze Erde hin, die also von dem Orte auf der Erde abhängt, auf dem der Mensch geboren wird.

Nun erlangt der Mensch während dieser Zeit – die also im Grunde genommen unter der Herrschaft der abnormen Geister der Form steht – auch die Möglichkeit, die Fähigkeit, seinesgleichen hervorzubringen. Auch diese Fähigkeit wird während der Zeit erworben, in welcher der Mensch gar nicht rein von den normalen Geistern der Form dirigiert wird.

Dadurch ist die Möglichkeit gegeben, dass der Mensch nicht nur in der geschilderten Weise abhängig wird von dem Orte, auf dem er geboren ist, sondern dass die Eigenschaften, die er dadurch erhält, auch auf seine Nachkommen vererbt werden können, dass also die Rassenzusammengehörigkeit nicht nur sich ausspricht in den Einflüssen des Wohnplatzes, sondern auch in dem, was durch die Rasse vererbt ist.

Darin haben Sie die Erklärung dafür, warum die Rasse dasjenige ist, was vererbbar ist, und wir werden verstehen, was die Geisteswissenschaft zeigt: dass nur in der Vergangenheit die Rassenmerkmale durch den Ort hervorgebracht sind, an dem die Menschen geboren wurden. Das war in der letzten lemurischen und in der ersten atlantischen Zeit der Fall, als der Mensch direkt von der irdischen Umgebung abhängig war.

In späterer Zeit beginnt die Rasse den Charakter zu haben, dass sie an die Vererbung gebunden ist und nicht mehr an den Ort. So sehen wir in der Rasse etwas, was ursprünglich an einen bestimmten Ort der Erde gebunden war und das sich dann in der Menschheit durch die Vererbung fortpflanzte, aber vom Orte immer unabhängiger wurde ...

Wir sehen also, wie die Rassenentwickelung erst beginnt in der lemurischen Zeit durch das Hineinwirken der abnormen Geister der Form ...

Wir werden diese Verhältnisse noch genauer begreifen durch die folgende Betrachtung. Da können wir in gewisser Weise angeben, wieder Untergrund, der Bodengrund, sein Wesen nach oben strahlt und die menschliche Organisation durchdringt, so dass der Mensch abhängig wird von diesem Erdenuntergrund. In dieser Beziehung können wir also bestimmte Punkte der Erde angeben, die mit der menschlichen Wesenheit entwickelungsgeschichtlich zusammenhängen. Wir werden auf diese Verhältnisse noch genauer eingehen. Ich will sie jetzt in abstracto charakterisieren.

Da haben Sie zum Beispiel einen Punkt, der im Innern von Afrika liegt. An diesem Punkte wirken gleichsam von der Erde ausstrahlend alle diejenigen Kräfte, welche den Menschennamentlich während seiner ersten Kindheitszeit ergreifen können. Später wird der Einfluss solcher Kräfte auf den Menschen geringer; er ist dann diesen Kräften weniger ausgesetzt, aber sie prägen sich ihm mit dem, was aus ihnen kommt, doch in der stärksten Weise auf.

So also wirkt jener Punkt auf der Erde, auf dem der Mensch lebt, am allerstärksten in der ersten Kindheitszeit und bestimmt dadurch diejenigen Menschen, die ganz abhängig sind von diesen Kräften, ihr ganzes Leben hindurch so, dass jener Punkt ihnen die ersten Kindheitsmerkmale bleibend aufprägt. Das ist ungefähr eine Charakteristik aller derjenigen Menschen – in bezug auf ihren Rassencharakter –, die sozusagen um diesen Erdenpunkt herum die bestimmenden Kräfte aus der Erde heraus erhalten. Das, was wir schwarze Rasse nennen, ist im wesentlichen durch diese Eigenschaften bedingt.

Wenn Sie nun weiter nach Asien hinübergehen, da haben Sie einen Punkt auf der Erdoberfläche, wo die späteren Jugendmerkmale dem Menschen aus den Erdenkräften heraus bleibend aufgedrückt werden, wo das, was die besonderen Eigenschaften des späteren Jugendzeitalters sind, aus der Erdenwesenheit heraus auf den Menschen übertragen wird und ihm den Rassencharakter gibt. Die hier in Betracht kommenden Rassen sind die gelben und bräunlichen Rassen unserer Zeit.

Wenn wir dann weiter von Osten nach Westen gehen, so finden wir einen Punkt, der von Asien her gegen Europa zu liegt und der die spätesten Merkmale, diejenigen Merkmale, welche gerade in dem späteren, auf die erste Jugendzeit folgenden Lebensalter dem Menschen zukommen, dem Menschen bleibend aufdrückt, den Punkt, wo der Mensch nicht schon in der Kindheit von den Erdenkräften ergriffen wird, sondern dann, wenn die Jugend in das spätere Lebensalter übergeht ...

Wenn wir dann diese Linie weiterziehen, so kommen wir weiter nach Westen nach den amerikanischen Gebieten hinüber, in jene Gebiete, wo diejenigen Kräfte wirksam sind, die jenseits des mittleren Lebensdrittels liegen. Und da kommen wir – ich bitte das nicht misszuverstehen, was eben gesagt wird; es bezieht sich nur auf den Menschen, insofern er von den physisch-organisatorischen Kräften abhängig ist, von den Kräften, die nicht sein Wesen als Menschen ausmachen, sondern in denen er lebt –, da kommen wir zu den Kräften, die sehr viel zu tun haben mit dem Absterben des Menschen, mit demjenigen im Menschen, was dem letzten Lebensdrittel angehört. Diese gesetzmäßig verlaufende Linie gibt es durchaus; sie ist eine Wahrheit, eine reale Kurve, und drückt die Gesetzmäßigkeit im Wirken unserer Erde auf den Menschen aus. Diesen Gang nehmen die Kräfte, die auf den Menschen rassebestimmend wirken.« (GA 121, 10. Juni 1910)

In all diesen Ausführungen Steiners findet sich nichts, was den Rassismus des 19. und 20. Jahrhunderts auszeichnet: keinen biologischen Reduktionismus (die »Rasseneigenschaften« machen nicht das Wesen des Menschen aus, die Kulturentwicklung ist von den Rasseneigenschaften unabhängig), keine Hierarchisierung (die unterschiedlichen Lebensalter stehen nicht in einem hierarchischen Verhältnis zu einander), keinerlei moralischen Wertungen, keine politischen oder rechtlichen Grundsätze, die der einen oder anderen Rasse Rechte oder dergleichen absprechen.

Ja, dadurch, dass die Einzelseele sich in unterschiedlichen Völkern (und Rassen) reinkarniert, hat sie an »den Sonnen- und Schattenseiten aller Rassen und Völker teil« und nimmt die »Segnungen aller Rassen und Volkstümer« in sich auf:

»Denn was man auch hören soll über die Charaktere dieses oder jenes Volkstums, und wie sehr man auch deshalb, weil man doch innerhalb irgendeiner Rasse, innerhalb eines Volkstums steht mit seinen Empfindungen, Gefühlen und so weiter, dabei sein könnte, man hat ein genügendes Gegengewicht als Geisteswissenschafter, um es in die andere Waagschale zu legen. Das ist die wirklich verstandene Lehre von dem Karma und der Reinkarnation. Sie bietet uns ja einen Ausblick darauf, dass wir mit dem innersten Kern unseres Wesens in den aufeinanderfolgenden Zeiten in den verschiedensten Rassen, in den verschiedensten Völkern inkarniert werden. So können wir also gewiss sein, wenn wir auf diesen Kern unseres Wesens schauen, dass wir mit ihm teilnehmen werden nicht nur an den Sonnen- oder vielleicht auch Schattenseiten aller Rassen, aller Volkstümer, sondern wir können gewiss sein, dass wir in unserem innersten Wesen aufnehmen Beitrag auf Beitrag der Segnungen aller Rassen und Volkstümer, indem wir einmal da, einmal dort inkarniert werden.

Es wird unser Bewusstsein, unser Horizont weiter, umfassender durch diese Ideen von Karma und Reinkarnation.« (GA 121, 11. Juni 1910)

Eine Stufe der »Popularisierung« seiner »Rassenlehre« sieht Zander mit Steiners Vortrag vom 3. März 1923 für die Arbeiter am Goetheanumbau erreicht. Auch diesen Vortrag missversteht Zander als biologistische Rassentheorie, die sich auf die Rassen des 19. und 20. Jahrhunderts bezieht, während sie in Wahrheit ebenfalls von der Entstehung und den Eigenschaften der Rassen der atlantischen Zeit handelt.

Auf S. 308-309 schreibt Zander:

»Die Grundstruktur ist seit 1910 erhalten geblieben, Steiner berichtet von fünf ›hauptsächlichen‹ Hautfarben:

– ›die gelbe Rasse‹, die Mongolen, in Asien;
– ›die weiße Rasse oder die kaukasische Rasse‹ in Europa;
– ›die schwarze Rasse oder die Negerrasse‹ in Afrika;
– die ›braunen Malaien‹ firmieren als ›ausgewanderte Mongolen‹;
– ›kupferrot‹ seien die Indianer (GA 349,53; Mongolen S. 60).

Um dieses Grundgerüst herum kreisen eine Vielzahl älterer Theorieteile auf neuen Bahnen, wie sich an seiner Darstellung der ›Neger‹ ablesen lässt. Die ›Neger‹ werden zwar weiterhin von außen, durch körperliche, sinnliche Triebe gesteuert (GA 349,55), aber an die Stelle des Merkur und seiner Geister ist nun die Sonne getreten, statt über das Drüsensystem werden sie von ›Hinterhirn‹ und ›Rückenmark‹ gesteuert (also vom Nervensystem, das 1910 den ›Venusgeistern‹ reserviert war), die Kindheitskräfte fehlen, dafür ist das Triebleben nun der entscheidende Faktor für die Rassencharakteristiska der ›Neger‹ (GA 349,55); last but, not least ist der ›Neger‹ nun ›Egoist‹ (GA 349,56), während er 1909 noch über mangelndes Ich-Gefühl definiert worden war.

Die entscheidenden evolutiven Koordinaten bleiben jedoch bestehen. Die ›Neger‹ sind eine degenerierende Rasse, die ›Weißen‹ bleiben der Zukunft zugewandt: ›Die Weißen sind eigentlich diejenigen, die das Menschliche in sich entwickeln. Daher sind sie auf sich selber angewiesen‹ (GA 349,62). Sie erhalten von Steiner bestätigt, dass sie – Steiner spricht von ›wir‹ – ›als Europäer [...] eine Aufgabe haben‹: ›Wir müssen natürlich über die ganze Erde hin eine Zivilisation begründen, die aus den Besten zusammengesetzt ist‹ (GA 349,66): ›Die weiße Rasse ist die zukünftige, die am Geiste schaffende Rasse‹ (GA 349,67).«

Auch im Vortrag vom 3. März 1923 verdeckt die präsentische Redeweise, dass Steiner nicht von der Gegenwart, sondern von der atlantischen Zeit spricht.

In diesem Vortrag ist von Wanderungen weißer, gelber und brauner Rassen der atlantischen Zeit die Rede. Die schwarze Rasse wanderte nach Amerika, wurde kupferrot und starb aus. Die gelbe wanderte nach Osten, wurde braun und starb aus.

Es kann sich also nicht um die gegenwärtigen schwarzen, roten, gelben und braunen »Rassen« handeln, da diese ja nicht ausgestorben sind. Vielmehr spricht Steiner hier von denselben Vorgängen, über die er bereits 1910 in GA 121 geredet hatte, wenn auch vor diesem gänzlich anderen Publikum äußerst abbreviatorisch und bis zur Mißverständlichkeit popularisiert. Gerade, weil dieser Vortrag äußerst popularisiert ist und weitaus differenziertere Darstellungen Steiners zu diesen Fragen vorliegen (vor allem GA 121), ist es schlicht unredlich, diesen Vortrag zur Erhebung irgendwelcher systematischer Positionen Steiners heranzuziehen.

Dass Steiner von der atlantischen Zeit gesprochen hat, geht dennoch deutlich aus folgenden Sätzen hervor, in denen von »alten Zeiten« und »Urzeiten« die Rede ist:

»Wenn man in alte Zeiten zurückgehen würde, so würde man schon finden, dass zu Asien die gelbe Rasse, zu Europa die weiße Rasse und zu Afrika die schwarze Rasse gehört. Aber immer ist es auch vorgekommen, dass die Menschen nun ausgewandert sind.

Und da können sie nun entweder so herwandern, die Gelben können nach Osten wandern, oder die Schwarzen können nach Westen wandern. So ist es wohl einmal gewesen. Die Gelben sind immer nach Osten gewandert. Da sind sie auf diese Inseln gekommen, die zwischen Asien und Australien sind. Die Gelben wandern nach Osten hinüber. Wenn die Gelben nach Osten hinüberwandern, dann werden sie braun«,

sowie:

»Wenn die Neger – was sie allerdings heute weniger tun können, heute sind die Verhältnisse schon anders, aber in Urzeiten war das schon so, wie ich es erzähle – nach dem Westen hinüberwandern – eine Schifffahrt hat es ja immer gegeben, und es waren ja außerdem durch den ganzen Atlantischen Ozean noch Inseln, der Atlantische Ozean war ja früher auch ein Kontinent –, also wenn die Schwarzen nach dem Westen auswandern, da können sie nicht mehr so viel Licht und Wärme aufnehmen wie in ihrem Afrika. Da kommt ihnen weniger Licht und Wärme zu. Was ist die Folge? Ja, ihre Natur ist eingerichtet darauf, so viel als möglich Licht und Wärme aufzunehmen. Ihre Natur ist eigentlich eingerichtet, dadurch schwarz zu werden. Jetzt kriegen sie nicht so viel Licht und Wärme, als sie brauchen, um schwarz zu werden. Daher werden sie kupferrot, werden Indianer.«

Man mag ja Steiner manches unterstellen, aber die Ansicht, die heutigen »Neger« würden zu »Indianern«, wenn sie »nach Amerika auswandern«, dürften ihm nicht einmal seine dreistesten Verleumder beilegen wollen (wenn man einmal von Zander absieht).

Ganz offensichtlich hat Steiner auch in diesem Vortrag nicht von gegenwärtigen Verhältnissen gesprochen. Dadurch lassen sich auch seine Äußerungen über die »weiße Rasse« erst richtig einordnen: Die »weiße Rasse« der atlantischen Zeit wanderte nach Nordindien und bildete die uraltindische Kultur aus. Auf die »weiße Rasse« der atlantischen Zeit bezieht sich der Satz: »Die weiße Rasse ist die zukünftige, ist die am Geiste schaffende Rasse. Wie sie nach Indien gezogen ist, bildete sie ...« Er bezieht sich nicht auf eine gegenwärtige europäische weiße Rasse, wie Zander unterstellt. Der Eindruck, es wäre so, kann nur dadurch erweckt werden, dass nur der eine, im Präsens formulierte Satz zitiert wird, nicht aber der unmittelbar darauffolgende, der den Zeitraum präzisiert, der gemeint ist: »Wie sie nach Indien gezogen ist, bildete sie ...« Von einer »Rasse«, und sei sie auch die weiße, erwartete Steiner gewiss nicht das Heil der Zukunft, denn, wie er bereits 1909 betonte:

»Wenn wir hinter die große atlantische Katastrophe zurückgehen, so sehen wir ja, wie sich die menschlichen Rassen vorbereiten. In der alten atlantischen Zeit haben wir durchaus die Menschen gruppiert nach äußeren Merkmalen in ihrem Körperbau, noch viel stärker als heute. Was wir heute Rassen nennen, das sind nur noch Überbleibsel jener bedeutsamen Unterschiede der Menschen, wie sie in der alten Atlantis üblich waren. So recht anwendbar ist der Rassenbegriff nur auf die alte Atlantis. Daher haben wir, da wir rechnen mit einer wirklichen Entwickelung der Menschheit, für die nachatlantische Zeit gar nicht den Begriff der Rasse im eminentesten Sinne gebraucht. Wir sprechen nicht von einer indischen Rasse, persischen Rasse und so weiter, weil das nicht mehr richtig ist. Wir sprechen von einem altindischen Kulturzeitraum, von einem altpersischen Kulturzeitraum und so weiter.

Und vollends würde es jeden Sinn verlieren, wenn wir davon sprechen wollten, dass sich in unserer Zeit vorbereite eine sechste Rasse. Wenn noch in unserer Zeit Reste der alten atlantischen Unterschiede, der alten atlantischen Gruppenseelenhaftigkeit vorhanden sind, so dass man noch sprechen kann davon, dass die Rasseneinteilung noch nachwirkt – was sich vorbereitet für den sechsten Zeitraum, das besteht gerade darinnen, dass der Rassencharakter abgestreift wird. Das ist das Wesentliche.

Deshalb ist es notwendig, dass diejenige Bewegung, welche die anthroposophische genannt wird, welche vorbereiten soll den sechsten Zeitraum, gerade in ihrem Grundcharakter dieses Abstreifen des Rassencharakters aufnimmt, dass sie nämlich zu vereinigen sucht Menschen aus allen Rassen, aus allen Nationen und auf diese Weise überbrückt diese Differenzierung, diese Unterschiede, diese Abgründe, die zwischen den einzelnen Menschengruppen vorhanden sind.« (GA 117, 4.12.1909)

Wenn man Steiner also nicht unterstellen will, er sei aus unerfindlichen Gründen hinter systematische Positionen zurückgefallen, die er ja nicht erst 1909 erreicht, sondern bereits in seinem philosophischen Werk vor der Jahrhundertwende vertreten hatte, dann kann man nicht ernsthaft der Auffassung sein, er habe die künftige Menschheitsentwicklung von einer »Rasse« und ihren »Rasseneigenschaften« abhängig gemacht.

Die »weiße Rasse«, von der es im Vortrag heißt, sie sei »die zukünftige«, ist in Wahrheit eine vergangene atlantische Rasse. Bei dieser »weißen Rasse« der Atlantis handelt es sich um die »Ursemiten«, aus denen die gesamte nachatlantische Menschheit hervorgegangen ist:

»Die fünfte Unterrasse, die wir die Ursemiten nennen und die ihren Hauptsitz in dem heutigen Irland hatten, bildete die erste Keimanlage für unsere gegenwärtige kaukasische oder, wie wir sie auch in der Geisteswissenschaft nennen, arische Menschenrasse.« (GA 54, Berlin, 9. November 1905) »Diese fünfte Wurzelrasse wird gewöhnlich die arische Rasse genannt und umfasst als erste Unterrasse [Kultur] die alte indische Rasse [Kultur], welche sich auf dem Boden Südasiens entwickelte ... «, sie umfasst als »nachatlantischer Zeitraum« auch alle weiteren Kulturen, die sich an diese erste anschlossen: die Kulturepochen der nachatlantischen Zeit (die persische, die assyrisch-chaldäisch-babylonische, die ägyptische, die griechisch-lateinische, die germanisch-angelsächsische, die slawische, die amerikanische).

Daher muss das folgende Zitat auf die atlantische Zeit und das Ende der atlantischen Zeit zwischen dem 10. und dem 8. Jahrtausend vor Christus bezogen werden:

»Und so ist es wirklich ganz interessant: Auf der einen Seite hat man die schwarze Rasse, die am meisten irdisch ist. Wenn sie nach Westen geht, stirbt sie aus. Man hat die gelbe Rasse, die mitten zwischen Erde und Weltenall ist. Wenn sie nach Osten geht, wird sie braun, gliedert sich zu viel dem Weltenall an, stirbt aus. Die weiße Rasse ist die zukünftige, ist die am Geiste schaffende Rasse. Wie sie nach Indien gezogen ist, bildete sie die innerliche, poetische, dichterische, geistige indische Kultur aus. Wenn sie jetzt nach dem Westen geht, wird sie eine Geistigkeit ausbilden, die nicht so sehr den innerlichen Menschen ergreift, aber die äußere Welt in ihrer Geistigkeit begreift.« (Dornach, 3. März 1923, GA 349)

Auch in seinem Beitrag zum Sammelwerk von Schnurbein kehrt Zanders Missverständnis wieder, Steiner habe die Völker den Rassen subsumiert.

Auf S. 310 schreibt er:

»Unterhalb der Rassen kennt Steiner als Substruktur das ›Volk‹, das er strukturanalog zur Rasse, also mit der gleichen Konstruktionslogik, nur auf einer nachgeordneten Ebene modelliert.«

Völker sind keine Varietäten von Arten. Bereits Rassen bilden in Steiners Systematik keine Arten, sondern lediglich Varietäten einer Art (oder einer »Gattung«, der »Menschheit«). Völker stellen aber eine andere ontologische Kategorie dar, sie sind keine Unterbegriffe der Rassen und daher auch nicht aus diesen ableitbar. Vielmehr stellen sie emergente geistige Formen mit einem selbstgegebenen geistigen Inhalt dar, die sich so über ihrem Substrat erheben, wie sich die Pflanzenwelt als emergente Seinsebene über dem mineralischen Substrat erhebt. Aus den Völkern als ihrem Substrat erheben sich wiederum als besondere emergente geistige Formen mit einem selbstgegebenen geistigen Inhalt die einzelnen Individuen, die Individualitäten der einzelnen Menschen.

Ebendies bringt Steiner am 10. Juni 1910 zum Ausdruck, wenn er ausführt:

»Einstmals wurde der Mensch durch die abnormen Geister der Form heruntergeführt auf die Erde, gebunden an die verschiedenen Punkte der Erdoberfläche; dadurch wurde die Grundlage der Rassenentwickelung geschaffen. Dann aber sehen wir immer mehr die Rassen sich vermischen. Wir sehen eingreifen in die Rassenentwickelung, das heißt sich aus ihr erheben die Volksentwickelung. Wir sehen sie hineingreifen bis in die Entwickelung des einzelnen Menschen.« (GA 121, 10. Juni 1910)

Erneut kommt Zander auf Steiners angeblichen Determinismus und Sozialdarwinismus im Kontext der Volksgeister zu sprechen und interpretiert alle möglichen Widersprüche in dessen Darstellungen hinein, wo keine vorhanden sind, oder macht ihm eine Dialektik zum Vorwurf, die er nicht erfunden hat, sondern die ein konstitutiver Bestandteil der Wirklichkeit selbst ist.

Auf S. 311-312 schreibt Zander:

1.

»Die Zugehörigkeit zu einem Volk bestimmt Steiner wie bei den Rassen 1917 sowohl durch biologische als auch durch ›karmische‹ Größen: Er kennt den Aspekt einer naturalen Zugehörigkeit (GA 174,57), doch postuliert er in seiner ›Karmadoktrin‹, dass der Mensch sich die Eltern und damit ein Volk bei einer neuen Inkarnation aussuche (GA 174,58). Zwei Theoriemodelle, Vererbung und Reinkarnation, stoßen hier, nur locker miteinander verbunden, aufeinander und sollen beide die Zugehörigkeit zu einer ›Nationalität‹ begründen, ohne dass Steiner die Vereinbarkeit dieser Modelle weiter reflektiert. Nicht weiter reflektiert wird, wie sich Steiner den Wechsel der Zugehörigkeit zu einem Volk41, die er als Freiheit von genetischen Bindungen versteht, vorstellt und wie sich ein solcher Wechsel zur ›blutsmäßigen‹ Zugehörigkeit und zu karmischen Bedingungen verhält.«

Anmerkung 41 verweist auf: Steiner: Aus dem mitteleuropäischen Geistesleben. Dornach 1962, S. 608.

2.

»Der Aufstieg und Niedergang von Völkern, unterliegt, wie schon die Rassengeschichte, einem notwendig ablaufenden Fortschrittsmodell:

›Aber in allem, was sich in und mit den Völkern entwickelt, entwickelt sich noch etwas anderes. Es ist ein Fortschritt in der menschlichen Entwickelung‹ (GA 121,25) – für Steiner ein ›notwendiger Gang‹. Er realisierte dabei 1908 durchaus die sozialdarwinistische Erniedrigung von Völkern zur Konkursmasse der Kosmologie:

›Ist das nicht ein ungeheuer harter Gedanke, dass ganze Völkermassen unreif werden und nicht die Fähigkeit entwickeln, sich zu entfalten, dass nur eine kleine Gruppe fähig wird, den Keim zur nächsten Kultur abzugeben? – Aber dieser Gedanke wird für Sie nicht mehr etwas Beängstigendes haben .... Die Rasse kann zurückbleiben, eine Völkergemeinschaft kann zurückbleiben, die Seelen aber schreiten über die einzelnen Rassen hinaus.‹ (GA 104.89)

Der Determinismus, denen die ›Völkermassen‹ unterliegen, soll durch eine ›individuelle Schicksalsgestaltung‹ überwunden werden.«

Zu 1.

Entgegen Zanders Behauptung, in »Biologie und Karma« stießen zwei »nur locker miteinander verbundene Theoriemodelle« aufeinander, deren »Vereinbarkeit« Steiner »nicht weiter« reflektiere, handelt es sich bei »Vererbung und Reinkarnation«, um zwei Aspekte ein und desselben Sachverhalts, die durch einfache Logik zueinander in Beziehung stehen.

Wenn man die geistige Individualität des Menschen nicht zur Resultante der Vererbung erklärt (biologischer Reduktionismus) oder sie gänzlich als Funktion der sozialen Konstellationen auffasst (soziologischer Reduktionismus), dann muss man davon ausgehen, dass sie bereits vor der Geburt bzw. Empfängnis existiert.

Der Leib wird von Eltern gezeugt und – sofern keine Reproduktionsmedizin diesen natürlichen Prozess konterkariert – von der Mutter geboren. Geboren wird der Leib, der Geist aber wird vom Leib empfangen, er inkarniert sich. Der Leib unterliegt der Vererbung, der Geist der Reinkarnation. Der Leib ist ein Ergebnis der Vererbung, der Geist ein Ergebnis seiner eigenen geistigen Vorgeschichte.

Die geistige Individualität wird nicht nur in eine Familie hineingeboren, sondern auch in ein Volk, da die Familie ja ihrerseits wiederum dem kulturellen Raum eines Volkes angehört. Völker sind im übrigen nach Steiners Auffassung keine »Rassen«, also auch nicht durch »naturale« – sprich biologische –  Faktoren bestimmt, sondern durch Sprache, Kultur und Tradition, also durch geistige Faktoren.

Und natürlich wird das Kind in einen Kulturraum hineingeboren, in dem es aufwächst und dessen »eigentümliche Geisteskonfiguration es sich im Laufe seines Heranwachsens aneignet. Die durch die Vererbung geschaffenen leiblichen Bedingungen der Inkarnation entsprechen wiederum der geistigen Vorgeschichte der Individualität, die sich in der betreffenden Familie inkarniert, ebenso wie die kulturellen Ausgangsbedingungen dieser geistigen Vorgeschichte entsprechen.

Die geistige Individualität aber schöpft ihren geistigen Inhalt weder aus den Bedingungen der Vererbung (aus der Biologie, was einem biologischen Reduktionismus entspräche), noch aus den Bedingungen der Volkskultur (aus den sozialen und kulturellen Konstellationen, was einem sozialen oder nationalen Reduktionismus entspräche), sondern wächst über all diese Bedingungen hinaus. »Die Natur macht aus dem Menschen bloß ein Naturwesen; die Gesellschaft ein gesetzmäßig handelndes; ein freies Wesen kann er nur selbst aus sich machen. Die Natur lässt den Menschen in einem gewissen Stadium seiner Entwicklung aus ihren Fesseln los; die Gesellschaft führt diese Entwicklung bis zu einem weiteren Punkte; den letzten Schliff kann nur der Mensch selbst sich geben«, heißt es bereits in der »Philosophie der Freiheit« 1893.

Auf diese Fragestellung ging Steiner wiederholt ein. Zum Beispiel in einem Vortrag am 17. Dezember 1916 in Dornach. Hier erläuterte er das Zusammenspiel von »Vererbung und Reinkarnation«, das bei der Geburt eines jedes Menschen eine Rolle spielt, am Beispiel Dantes:

»Ich habe in der letzten Zeit an verschiedenen Orten von dem Zusammenhange der Menschenseele zwischen Tod und neuer Geburt mit dem, was auftritt, wenn der Mensch durch die Geburt ins Dasein tritt, gesprochen. Ich habe darauf aufmerksam gemacht, dass der Mensch zwischen dem Tod und neuer Geburt mit den Kräften in Verbindung ist, die die Menschen durch Generationen zusammenführen. Durch das Immer-wieder-Zusammenkommen von Elternpaaren und so weiter in der Nachkommenschaft und in den sonstigen Bedingungen, die mit der Generationenfolge zusammenhängen, wird bewirkt, dass der Mensch, der zwischen Tod und Geburt in der ganzen Strömung darinnen ist, zuletzt zu dem Elternpaar geführt wird, durch das er sich verkörpern kann. So wie man im physischen Leben mit seinem physischen Leib zusammenhängt, so hängt man zwischen Tod und neuer Geburt zusammen mit den Verhältnissen, welche die Geburt aus einem bestimmten Elternpaar heraus vorbereiten. In den Kräften, die einen Menschen schließlich zu einem bestimmten Elternpaar führen, die bewirken, dass dieser Vater, diese Mutter wieder ihre Eltern hatten und so weiter rückwärts, in alldem, was sich da in verschiedenen Verzweigungen verästelt, was in der verschiedensten Weise zusammenwirkt, in alledem steckt man drinnen wahrend Jahrhunderten!

Ich mache Sie darauf aufmerksam, dass es schon eine stattliche Anzahl von Jahrhunderten gibt, wenn man nur in dem darinnensteckt, was durch dreißig Generationen zieht. Denn von Karl dem Großen bis auf unsere Zeit sind etwa dreißig Generationen, und in allem, was sich da so vollzieht an Sich-Lieben, Sich-Finden, Nachkommenschaft erzeugen, das zuletzt zu dem Elternpaar führt, aus dem man geboren wird, in alledem steckt man selbst darinnen, das hat man alles selber vorbereitet.

Ich wiederhole dies aus dem Grunde, weil bei denjenigen Persönlichkeiten, die man die Führenden nennt und die man als Führende in einer gewissen Weise anerkennen kann, es wichtig ist, einzusehen, wie gerade durch die eben angeführte Tatsache das zustande kommt, was sie dann für die Menschheit bedeuten. Ich möchte Ihren Blick auf eine führende Persönlichkeit lenken, aber das, was über sie zu sagen ist, zuletzt gipfeln lassen in einem Ausspruch, den ein anderer über diese Persönlichkeit getan hat. Sie werden gleich sehen, warum.

Wir haben in Dante eine ganz hervorragende Persönlichkeit am Ausgang des vierten nachatlantischen Zeitraums. Wir können eine solche hervorragende Persönlichkeit jenen Persönlichkeiten gegenüberstellen, die nach Eintritt des fünften nachatlantischen Zeitraums eine gewisse Bedeutung erlangt haben, wie zum Beispiel Thomas Morus. Fassen wir dasjenige, was wir bei einer solchen Persönlichkeit wie Dante im Allgemeinen erkannt haben, im Speziellen ins Auge. Eine Persönlichkeit wie Dante wirkt weithin impulsierend, weithin bedeutungsvoll. Da ist es schon interessant, wenigstens ahnend darüber nachzudenken, wie eine solche Seele, bevor sie durch die Geburt in ein physisches Erdendasein tritt, das für die Menschheit bedeutend sein wird, sich gewissermaßen, wenn ich den etwas barocken Ausdruck gebrauchen darf, zusammenstellt dasjenige, was sie werden soll, um in der richtigen Weise durch das richtige Elternpaar geboren zu werden. Selbstverständlich werden diese Verhältnisse aus der geistigen Welt heraus zustande gebracht; aber sie werden mit Hilfe der physischen Werkzeuge realisiert. Es wird also gewissermaßen aus der geistigen Welt heraus dieses Blut zu jenem Blut dirigiert und so weiter.

In der Regel kann eine Persönlichkeit wie Dante nie zustande kommen aus einem homogenen Blut heraus. Einem Volke anzugehören, ist für eine solche Seele geradezu unmöglich. Da muss schon eine geheimnisvolle Alchimie stattfinden, das heißt, es muss verschiedenes Blut zusammenfließen. Was auch diejenigen sagen mögen, welche in Überpatriotismus die großen Persönlichkeiten für ein Volk in Anspruch nehmen wollen, es steckt nicht viel Reales dahinter!

Was Dante betrifft, so möchte ich zunächst, damit Sie sehen, dass ich nicht parteiisch bin, einen andern schildern lassen, was in seinem Wesen deutlich zutage tritt für den, der auf dieses Wesen einzugehen versteht. Man könnte sehr leicht glauben, dass ich irgendwie Politik treibe, was mir natürlich so fern wie möglich liegt. Deshalb habe ich bei Carducci, dem großen italienischen Dichter der neueren Zeit, der ein großer Dante-Kenner war, angefragt. ...

Nun sagt Carducci: In Dante wirken drei Elemente zusammen, und nur durch das Zusammenwirken dieser drei Elemente konnte Dantes Wesenheit das werden, was sie war. Erstens durch gewisse Glieder seiner Abstammung ein altetruskisches Element. Von diesem habe Dante dasjenige erhalten, was ihm die übersinnlichen Welten erschlossen hat, dadurch konnte er in so tiefer Weise über die übersinnlichen Welten sprechen. Zweitens liege in ihm das romanische Element, welches ihn das rechte Verhältnis gewinnen lässt zu dem Leben des Tages und das Ausgehen von gewissen Rechtsbegriffen. Und als drittes, sagt Carducci, liegt in Dante das germanische Element. Von diesem hat er die Kühnheit und Frische der Anschauung, einen gewissen Freimut und festes Eintreten für dasjenige, was er sich vorgesetzt hat. Aus diesen drei Elementen setzt Carducci das Seelenleben Dantes zusammen.

Das erste weist uns hin auf Altkeltisches, das ihn irgendwie durchblutet und ihn zurückführt in den dritten nachatlantischen Zeitraum, denn das Keltische im Norden führt zurück in dasjenige, was wir kennengelernt haben als den dritten nachatlantischen Zeitraum. Dann finden wir den vierten nachatlantischen Zeitraum im romanischen, den fünften im germanischen Elemente. Aus den drei Zeiträumen und ihren Impulsen setzt Carducci die Elemente in Dantes Seele zusammen, so dass wir also wirklich drei Schichten haben, welche nebeneinander oder vielmehr übereinander gelagert sind: dritter, vierter, fünfter Zeitraum, keltisch, romanisch, germanisch. Gute Dante-Forscher haben viele Bemühungen angestellt, um dahinterzukommen, wie Dante von der geistigen Welt aus sein Blut in der Weise hat mischen können, dass es ein derartig zusammengesetztes wurde. Sie haben es natürlich nicht mit diesen Worten ausgesprochen, wie ich es jetzt sage, aber sie haben diese Bemühungen angestellt, und manches ist, wie man glaubt, dadurch zustande gekommen, dass ein gutes Stück von Dantes Vorfahrenschaft in Graubünden zu finden ist. Das kann die Geschichte schon bis zu einem gewissen Grade bestätigen: Nach allen Windrichtungen hin, aber auch nach dieser Gegend, wo so viel Blutmischung stattgefunden hat, weist der Vorfahrenzug Dantes hin.

Wir sehen so, wie an einer einzelnen Persönlichkeit das merkwürdige Zusammenwirken der drei Schichten europäischer Menschheitsentwickelung zutage tritt. Und Sie sehen, ein Mann wie Carducci, der dieses Urteil nicht gefällt hat unter dem Einfluss der heutigen völkischen Tollheit, sondern aus einer gewissen Objektivität heraus, weist auf dasjenige hin, was bei Dante zugrunde liegt.« (GA 173, Dornach, 17. Dezember 1916)

Auch die Behauptung, von Steiner werde der »Wechsel der Volkszugehörigkeit« nicht weiter reflektiert, trifft nicht zu. Denn in dem von Zander herangezogenen Vortrag heißt es:

» ... eine solche Volksseele wirkt aus gewissen Tiefen des Geisteswesens heraus das ganze Leben auf den Menschen ein. Selbstverständlich muss das nicht sein. Der Mensch kann das eine Volk verlassen, in das andere aufgenommen werden. Aber die Wirkungen sind trotzdem so, wenn sie sich dadurch auch modifizieren. ... Wer während seines ganzen Lebens in seinem Volke stehenbleibt, hat eben diese Wirkung sein ganzes Leben hindurch. Wer von einem Volk in das andere geht, wird eben zuerst die Wirkung der einen Volksseele, nachher auch die der anderen Volksseele haben. Darauf kommt es jetzt nicht an. Es wäre interessant, die einzelnen Wirkungen des Wechselns der Volksseele anzudeuten, aber dazu ist nicht die Zeit.« (GA 65, Berlin, 13. April 1916)

Der betreffende Mensch wird also zunächst die Wirkungen der einen Volksseele in sich aufnehmen, danach die einer anderen, so dass die zweiten die ersten modifizieren usw..

Auf diese Frage kam Steiner des öfteren zurück. Zum Beispiel am 7. Januar 1917 in Dornach. Dieser Vortrag ist noch aus einem weiteren Grund von Bedeutung. Denn Steiner entkräftet in ihm den auch von Zander erhobenen Vorwurf, seine Charakterisierung europäischer Völker oder Volksseelen führe zu einer Hierarchisierung oder Abwertung.

Was die Beziehung des Einzelnen zur Volksseele betrifft, so ließen sich Steiners Erörterungen gut mit Freuds Formel: »Wo Es war, soll Ich werden«, zusammenfassen: Was unbewusst und damit unfrei an der Verbindung zum Volk ist, soll ins Bewusstsein gehoben und dadurch vergeistigt und frei werden. Durch die Anthroposophie wird das Allgemein-Menschliche ins Bewusstsein gehoben, das für alle Menschen, unabhängig von ihrer Volkszugehörigkeit gilt. Sie lehrt aber auch verstehen, in welcher Beziehung die Differenzierungen des Allgemein-Menschlichen, die durch die Völker zustande kommen, zu diesem stehen. Und sie lehrt einen Weg zur Befreiung von den Vereinseitigungen, die durch diese Differenzierungen zustande kommen. Schließlich zeigt sie auf, dass und wie diese Differenzierungen aus Freiheit bejaht werden können, ohne dass sie das Allgemein-Menschliche oder die Freiheit des Einzelnen einschränken.

»Wir haben verschiedene Erwägungen angestellt über die Zugehörigkeit des Menschen zu diesem oder jenem Volkstum, oder, wie man auch sagt in der neueren Zeit, zu dieser oder jener Nation oder Nationalität.

Nun ist gerade das Allgemein-Menschliche das, was der Mensch an sich trägt, ohne dass es sich in dieses oder jenes Volkstum individualisiert, spezifiziert, was man sich durch die Geisteswissenschaft voll zum Bewusstsein bringen kann, weil ja alles das, was den Hauptinhalt der anthroposophisch orientierten Geisteswissenschaft ausmacht, wirklich für jeden Menschen gilt, ohne irgendeinen Gruppenunterschied.

Und wenn man vom anthroposophischen Standpunkte aus nationale Differenzierungen betrachtet, so betrachtet man sie ja auch anders als vom nichtanthroposophischen Standpunkte, indem man gewissermaßen objektiv ins Auge fasst, worauf diese Differenzierungen beruhen. Die Dinge können objektiv ins Auge gefasst werden.

Wir sind uns ja der Dreigliedrigkeit unserer Seele in Empfindungsseele, Verstandes- oder Gemütsseele und Bewusstseinsseele bewusst, welche drei Glieder ausgefüllt, durchgeistigt, durchlebt werden von der Ichheit. Die Empfindungsseele ist dasjenige, was von der italienischen Volksseele besonders beeinflusst wird, wenn die Kräfte und Impulse der Volksseele in die einzelne Menschenseele hineinwirken. Die Verstandes- oder Gemütsseele im einzelnen Menschen ist für die französische, die Bewusstseinsseele für die britische Volksseele, das Ich für die mitteleuropäischen und das Geistselbst für die Volksseelen der slawischen Völker besonders empfänglich. Wenn wir dies erkennen und durchdringen, so sollten wir nicht mehr dazu verführt werden, Urteile zu fällen, wie sie eben sehr häufig gefällt werden.

Jemand, der diese Dinge gehört hat, ist nun gewissermaßen wütend geworden aus dem Grunde, weil er vernommen hat: Durch die anthroposophisch orientierte Geisteswissenschaft wird das deutsche Volkstum so interpretiert, als ob die Volksseele hereinwirkt in das Ich. –

Sein Irrtum war, dass er dies für etwas Höheres gehalten hat, als wenn die Bewusstseinsseele von der Volksseele beeinflusst wird. Das lag an ihm!

In der Geisteswissenschaft werden die Dinge in ihrer Objektivität nebeneinander hingestellt. Die Volksseelen haben ihre Aufgaben, und die bestehen in diesem Hereinwirken. Aber bei diesem Hereinwirken der Volksseele in die Menschenseele müssen wir uns durchaus klar sein, dass gerade in unserem fünften nachatlantischen Zeitraum eine gewisse Entwickelung vor sich gehen muss. Und als das erste Glied dieser Entwickelung müssten eigentlich diejenigen sich fühlen, die jetzt zur anthroposophisch orientierten Geisteswissenschaft hinneigen.

Wodurch wirkt denn eigentlich die Volksseele in das Menschengemüt herein? Wenn wir so, wie die Menschheit einmal ist, betrachten, was in bezug auf diese Sache geschieht, so müssen wir sagen:

Das Hereinwirken der Volksseele in die individuelle Menschenseele ist zunächst ein unterbewusstes, das nur teilweise heraufsteigt in das Bewusstsein. Der Mensch fühlt sich diesem oder jenem Volkstum angehörig, und in der Hauptsache geschieht ja die Einwirkung der Volksseele auf die Individualität des Menschen durch den Umweg des mütterlichen Prinzips. Das mütterliche Prinzip ist eingebettet in das Volksseelentum. Was den Menschen als physisch-ätherisches Naturwesen mehr herausreißt aus dem Gruppenhaften, ist die Einwirkung des väterlichen Impulses. Das habe ich in früheren Jahren öfter auseinandergesetzt. Für die christliche Weltanschauung liegt das schon in den Evangelien ausgedrückt. Auch darüber ist in früheren Jahren gesprochen worden.

Im wesentlichen wird, so wie die Dinge heute noch liegen, zunächst durch das Blut vom Volkstume aus in den Menschen hereingewirkt, und durch dasjenige, was im Ätherleibe dem Blute entspricht. Natürlich haben wir es da mit einem mehr oder weniger animalischen Impulse zu tun, und er bleibt animalisch für den weitaus größten Teil der heutigen Menschen. Der Mensch gehört einem gewissen Volkstum an durch sein Blut. Welche geheimnisvollen Kräfte und Impulse in das Blut hineinwirken, ist schwierig im einzelnen auseinanderzusetzen, weil diese Impulse außerordentlich vielgestaltig, mannigfaltig sind. Aber sie liegen unter der Oberfläche des Bewusstseins.

Viel bewusster lebt der Mensch in all dem, was an Menschlichkeit ohne Unterschied der Nation in ihm lebt.

Daher wird auch das Pathos, die Leidenschaft, der Affekt, mit dem sich der Mensch einer Nationalität angehörig fühlt, mit einer gewissen elementaren Kraft hervortreten. Der Mensch wird nicht versuchen, logische Gründe oder Urteile geltend zu machen, wenn es sich für ihn darum handelt, seine Zusammengehörigkeit mit seiner Nationalität zu bestimmen oder zu empfinden. Das Blut und das Herz, das unter dem Einflusse des Blutes steht, bringt den Menschen mit seiner Nationalität zusammen, lässt ihn in der Nationalität drinnen leben.

Die Impulse, die da in Betracht kommen, sind unterbewusst, und es ist schon viel gewonnen, wenn man sich dieses unterbewussten Charakters bewusst ist. Gerade in bezug darauf ist es wichtig, wenn der Mensch, der an die Geisteswissenschaft herantritt, in sich selber eine Entwickelung durchmacht, wenn er in bezug auf diese Dinge gewissermaßen anders empfindet als die übrige Menschheit.

Wenn Menschen, die nicht der Geisteswissenschaft angehören, gefragt werden, wie sie mit ihrer Nationalität zusammenhängen, so werden und müssen sie sagen: Durch das Blut! – Das ist die einzige Idee, die sie sich über die Zugehörigkeit zu ihrer Nationalität machen können. Der Geisteswissenschafter soll allmählich dazu kommen, sich nicht diese Antwort zu geben, sondern eine andere.

Würde er sich nicht allmählich zu dieser andern Antwort entwickeln können, so würde er die Geisteswissenschaft nur theoretisch nehmen, nicht im eigentlichen Sinne praktisch und lebendig.

Während also der Nichtgeisteswissenschafter sich nur die Antwort geben kann: Durch mein Blut hänge ich mit meiner Nationalität zusammen, durch mein Blut verteidige ich dasjenige, was in der Nation lebt, durch mein Blut fühle ich die Verpflichtung, mich zu identifizieren mit meiner Nationalität –, muss der Geisteswissenschaf ter sich die andere Antwort geben: Durch mein Karma bin ich mit der Nationalität verbunden, denn es ist ein Teil des Karma. – Sobald man Karmabegriffe einführt, vergeistigt man allerdings das gesamte Verhältnis. Und während der Nichtgeisteswissenschafter für alles das, was er als Angehöriger eines bestimmten Volkes tut, das Pathos, die Impulsivität, das Blut aufrufen wird, wird derjenige, der die geisteswissenschaftliche Entwickelung durchgemacht hat, sich durch das Karma verbunden fühlen mit diesem oder jenem Volkstum.

Das ist eine Vergeistigung der Sache. Äußerlich mag dasselbe ablaufen, äußerlich mag der Mensch, wenn er diese Vergeistigung empfindet, das gleiche geltend machen; aber innerlich wird die Sache vergeistigt sein, und er wird ganz anders empfinden als derjenige, der die Zugehörigkeit gewissermaßen nur animalisch empfindet.

Da sehen Sie gerade einen Punkt, in dem die Zugehörigkeit zur Geisteswissenschaft die Seele zu etwas anderem macht, eine andere Stimmung in die Seele hineinbringt. Sie sehen aber zugleich, wie weit das allgemeine Zeitbewusstsein zurück ist hinter dem, was heute von den willigen Leuten wohl gewusst werden könnte.

Das allgemeine Zeitbewusstsein kann gar nicht anders, als die Zugehörigkeit des Menschen zur Nationalität nach dem Blute, oder nach dem, was sehr wenig blutsmäßig, aber eben im Zusammenhange mit dem Blut und aus diesem Anschauen des Blutes heraus geregelt wird, auffassen. Es wird eine viel freiere Auffassung dieser Zugehörigkeit Platz greifen, wenn die ganze Angelegenheit als eine Karmaangelegenheit betrachtet wird. Dann werden gewisse feine Begriffe auftauchen für denjenigen, der sich vielleicht der oder jener Nationalität bewusst anschließt und dadurch eine Karmaschwenkung vollzieht. (GA 174, Dornach, 7. Januar 1917)

Zu 2.

In den unter 2. zitierten Sätzen bietet Zander wieder ein aus dem Zusammenhang gerissenes Konglomerat von Satz- und Gedankenfragmenten, das sich in dieser Zusammenstellung bei Steiner nicht findet. Zuerst zitiert er anderthalb Sätze aus GA 121 von 1909 und schließt daran die Behauptung an, die in diesen anderthalb Sätzen implizierte »sozialdarwinistische Erniedrigung« habe Steiner 1908 realisiert. Wie konnte aber Steiner die Konsequenz aus einem Gedanken, den er erst 1909 aussprach, bereits 1908 realisieren?

Dass in den Sätzen »Es ist ein Fortschritt in der menschlichen Entwickelung. Es kommt dabei nicht in Betracht, ob wir das eine höher oder niedriger stellen. Es kann zum Beispiel einer sagen: Mir gefällt die indische Kultur am besten. Das mag ein persönliches Urteil sein. Wer aber nicht auf persönliche Urteile schwört, der wird sagen: Es ist gleichgültig, wie wir die Dinge bewerten; der notwendige Gang führt die Menschheit vorwärts, mag man das später auch Niedergang nennen. Die Notwendigkeit führt die Menschheit vorwärts ...« keine »sozialdarwinistische Erniedrigung von Völkern zur Konkursmasse der Kosmologie« steckt, wurde bereits weiter oben nachgewiesen. Vielmehr verweist das Zitat im Kontext auf das Wirken der Zeitgeister, durch welche die einzelnen Völker, die zeitlich koexistieren, an einer sie alle umfassenden geistigen Sphäre teilhaben, durch die sie sich gegenseitig verstehen und harmonisch zusammenwirken können. Es geht also gerade nicht um eine »sozialdarwinistische Erniedrigung von Völkern zur Konkursmasse«, sondern um eine Erhöhung der Völker zum gemeinsamen Menschheitsgeist, dem sie alle zustreben.

Das Zitat, das Zander nun anschließt: »Ist das nicht ein ungeheuer harter Gedanke, dass ganze Völkermassen unreif werden ...«, das belegen soll, dass Steiner die »sozialdarwinistische Erniedrigung von Völkern« realisiert haben soll, bezieht sich nicht auf Völker der Gegenwart oder der nachatlantischen Zeit, sondern auf die »Rassen« der atlantischen Zeit. Es ist daher nicht auf den Kontext übertragbar, auf den Zander es anwendet. Auch in diesem zweiten Zitat lässt Zander in einer für seine Zitierweise charakteristischen Art gewisse Sätze aus, die für das Verständnis des tatsächlich Gesagten von entscheidender Bedeutung sind.

Steiner spricht in der zitierten Passage aus GA 104 nicht über gegenwärtige Völker oder »Völkermassen«, sondern über die alte Atlantis und er weist in diesem Zusammenhang explizit darauf hin, dass das für die nachatlantischen Zeit maßgebliche Entwicklungsprinzip nicht die »Rassen-«, sondern die »Seelenentwicklung« sei, denn »keine Seele ist dazu verdammt, innerhalb irgendeiner Rasse zu bleiben«, die »Seelenentwicklung« schreitet über die »Rassenentwickelung« hinaus.

Nach Auseinandersetzungen über die zukünftige Epoche von Philadelphia (von der die Apokalypse des Johannes spricht), in der sich aus allen Völkern und Rassen, »aus allen Stämmen und Nationen« Menschen, die das »Prinzip des Fortschritts, die innere Freiheit und die Bruderliebe« in sich tragen, zu einem Bruderbund zusammenschließen werden, um durch die umfassende Verwirklichung des Christus-Prinzip die Menschheit auf ihrem Weg der spirituellen Evolution einen Schritt weiterzubringen, wirft Steiner einen Blick zurück in die atlantische Zeit:

»So ging es auch beim Herüberleben vom vierten Zeitlauf [der atlantischen Zeit] in unsere Zeit herein. Derjenige, der mit hellseherischen Blicken den Zeitenlauf zurückverfolgen kann, der kommt, wenn er hindurchgegangen ist durch die Zeiträume, die wir betrachtet haben – den griechisch-römischen, den ägyptisch-babylonischen, den altpersischen und den altindischen –, wenn er hindurchgegangen ist auch durch die Zeit der großen Flut, er kommt dann in die atlantische Zeit hinein.

Wir brauchen sie nicht ausführlich zu betrachten, aber wir müssen uns wenigstens klarmachen, wie sich diese atlantische Kultur herüberentwickelt hat. Auch da war es so, dass der große Teil der atlantischen Bevölkerung unreif war, sich weiterzuentwickeln, unfähig war, herüberzukommen in unsere Zeiten. Ein kleiner Teil, der in einem Gebiete in der Nähe des heutigen Irland lebte, entwickelte sich zur höchsten Kulturblüte des atlantischen Landes und zog gegen Osten. Wir müssen uns klar sein, dass dies nur der Hauptzug ist. Immer wanderten Völker von Westen nach Osten, und alle die späteren Völker in europäischen Gegenden, im nördlichen und im mittleren Europa, alle diese rührten her von jenem Zug, der da ging von Westen nach Osten.

Nur war unter der Leitung eines großen Führers der Menschheit derjenige Teil der Bevölkerung, der es zur höchsten Blüte gebracht hatte, am weitesten vorgeschritten. Der siedelte sich in Mittelasien an als ein ganz kleiner Volksstamm von auserwählten Menschen, und von da aus ging die Kolonie nach jenen Kulturgebieten, die wir angeführt haben, von da aus ging die Kulturströmung nach Alt-Indien, nach Persien, Ägypten, Griechenland und so weiter.

Sie können nun leicht fragen: Ist das nicht ein ungeheuer harter Gedanke, dass ganze Völkermassen unreif werden und nicht die Fähigkeiten entwickeln, sich zu entfalten, dass nur eine kleine Gruppe fähig wird, den Keim zur nächsten Kultur abzugeben? – Aber dieser Gedanke wird für Sie nicht mehr etwas Beängstigendes haben, wenn Sie unterscheiden zwischen Rassenentwickelung und Seelenentwickelung. Denn keine Seele ist dazu verdammt, innerhalb irgendeiner Rasse zu bleiben. Die Rasse kann zurückbleiben, eine Völkergemeinschaft kann zurückbleiben, die Seelen aber schreiten über die einzelnen Rassen hinaus. ... Keine Seele ist an einen zurückgebliebenen Leib gebunden, wenn sie sich nicht selber bindet.« (GA 104, Nürnberg, 21. Juni 1908)

Diese Ausführungen Steiners sind nicht zuletzt ein weiterer Beleg dafür, dass er kein Rassist war, denn nicht nur ist die Seelenentwicklung von der Rassenentwicklung völlig unabhängig, besteht doch der Fortschritt der Menschheit darin, dass sich erstere von der letzteren emanzipiert, sondern das »Prinzip des Fortschritts«, das moralische Ideal, dem die Menschheit zustrebt wird von ihm ausdrücklich in die »innere Freiheit und die Bruderliebe« gesetzt. Das »Prinzip der inneren Freiheit« kann man auch so formulieren, dass »keine Seele dazu verdammt ist, innerhalb irgendeiner Rasse zu bleiben« – d.h. keine Seele ist dazu verdammt, durch ihren Leib, durch ihren Organismus determiniert zu sein, denn eine jede kann sich von den Eigenschaften und Merkmalen des Leibes emanzipieren – ja darin besteht gerade der Fortschritt der Menschheit als Ganzer, dass die einzelnen Seelen diese Freiheit realisieren. Und das »Prinzip der Bruderliebe«, der »Selbstlosigkeit«, das neben jenes der inneren Freiheit tritt, ist der Gegensatz des Bruderhasses, des Egoismus, der sich unter anderem im Rassenhass manifestiert, der auf der Liebe zu dem beruht, das ist wie man selbst, und der dazu antreibt, andere zu bekämpfen, weil sie nicht so sind, wie man selbst ist. Der Egoismus aber, das Überhandnehmen der Selbstliebe wird laut Steiners Apokalypsedeutung »zum Kriege des einzelnen gegen den einzelnen auf den mannigfaltigsten Gebieten des Lebens« führen, »zum Kriege der Stände gegen die Stände, der Kasten gegen die Kasten, der Geschlechter gegen die Geschlechter.«

Besonders pikant sind Zanders Auslassungen über Steiners Kritik an René Marans »Veritable roman nègre« »Batouala«. Wie bereits in der Analyse des Beitrags »Sozialdarwinistische Rassentheorien« dargestellt, handelt es sich bei Steiners Vortragsäußerungen um ein vielschichtiges Spiel mit Metaphern, das Zander kritiklos wörtlich versteht.

Auf S. 316-318 schreibt Zander:

»Verräterische Indizien sind dafür die alltäglichen mentalen oder umgangssprachlichen (und nicht spezifisch anthroposophischen) Diskriminierungen: ... bei der Lektüre von ›Negerromanen‹ durch Schwangere befürchtet Steiner Mulatten – geistiger Wirkungen wegen:

›Wir geben diese Negerromane den schwangeren Frauen zu lesen, da braucht gar nicht dafür gesorgt zu werden, dass Neger nach Europa kommen, damit Mulatten entstehen; da entsteht durch rein geistiges Lesen von Negerromanen eine ganze Anzahl von Kündern in Europa, die ganz grau sind, Mulattenhaare haben werden, die mulattenähnlich aussehen werden!‹ (GA 348,189)

Dass Steiner jenseits konkreter Erfahrung spricht, dokumentiert seine Farbvermutung über Mulattenkinder: Kinder von schwarzen und weißen Elternteilen werden nicht, wie im Farbkasten, grau, sondern braun ...

Es ist nicht auszuschließen, dass Steiner in seinem Leben nie einen schwarzen Afrikaner zu Gesicht bekommen hat. Aber er las populäre Literatur. Rene Marans Roman Batuala, ein echter Negerroman aus dem Jahr 1922 findet sich in Steiners Bibliothek – möglicherweise hängt damit die oben zitierte Polemik gegen Negerromane (GA 348,189) zusammen. Dass es sich bei diesem Roman um ein ›Vorbild für Steiners umstrittene Neger-Zitate‹ gehandelt habe, wie Kritiker laut und Anthroposophen offenbar eher kleinlaut konstatieren, kann aber nur behaupten, wer den Roman nicht gelesen hat. Der 1887 geborene französische Kolonialbeamte, Sohn eines schwarzen Vaters und einer Mischlingsmutter, formulierte eine harsche Kritik an der Rolle der weißen Kolonialherren, die sich nicht gerade wie Steiners Mitglieder der ›am Geiste schaffenden Rasse‹ (GA 349,67) verhalten. Und Marans Darstellung eines lustvollen Fruchtbarkeitskults wird dem puritanischen Steiner selbst, dann, wenn dies seinem Stereotyp der Triebhaftigkeit von ›Negern‹ entgegengekommen sein sollte und er den Roman wirklich gelesen hat, nicht gefallen haben.«

Steiners Äußerungen über »Mulatten« im Vortrag vom 30. Dezember 1923 (GA 348) sind insgesamt als ein Spiel mit Metaphern zu verstehen. Sie beinhalten nicht eine Kritik an der schwarzafrikanischen Kultur oder an den Mulatten (Mischlingen), sondern eine Kritik an der europäischen Zivilisation und am Kolonialismus. Der »Negerroman« auf den Steiner Bezug nahm, stammte von einem französischen Kolonialbeamten, und handelte von »Negern« (»Batouala, Véritable roman nègre«) von René Maran (1887-1960), als Sohn guyanesischer Eltern in Bordeaux aufgewachsen, Regierungsbeamter in der Zentralafrikanischen Republik.) Zwar spricht sich Maran in seinem Nachwort gegen den Kolonialismus aus, und wirft den europäischen Kolonisatoren geistige Mediokrität und moralischen Verfall vor, gleichzeitig bestätigt er aber durch das Bild, das er vom Leben der Afrikaner entwarf, vollumfänglich deren Vorurteile. Wäre Zander nicht positiv voreingenommen für Maran und negativ voreingenommen gegen Steiner, müsste er gegen ersteren genau dieselben Vorwürfe erheben, die er auch gegen Steiner erhebt. Es ist nicht auszuschließen, dass Zander nie einen Blick in dieses Buch hineingeworfen hat, denn seine Auslassungen bewegen sich jenseits konkreter Anschauungen. Die Schwarzen werden in Marans Buch als faul, dumm und sexbesessen dargestellt. Außerdem wird die weibliche Beschneidung darin verherrlicht. Der Untergang des Bewusstseins in besinnungslosem Rausch und sexuelle Orgien werden als naturnahes afrikanisches Leben angepriesen, das frei von den Verirrungen der westlichen Zivilisation sei. Das Buch ist nicht nur rassistisch, sondern auch frauenfeindlich. Es ist ein Beispiel für den in Europa zu Beginn der 1920er Jahre grassierenden »Negerkult«, der die kolonialistische Unterdrückung und Entwürdigung im Medium der kulturellen Aneignung fortsetzte und überbot. Die ironische Pointe besteht darin, dass der Verfasser selbst Schwarzer war.

Der Roman ist für Steiner eine Metapher der geistigen Verwüstung, die der Kolonialismus in der Welt anrichtete und der Verlogenheit, die darin bestand, dass die Kulturen der kolonialisierten Völker zu Vorbildern der europäischen Erneuerung stilisiert wurden und die Kolonialisierung mit geistigen Mitteln fortgesetzt wurde. »Der Mulatte« ist eine Metapher für diese geistige Verwüstung, ebenso das »mulattenähnliche Kind«. Schwangere, die diesen Roman lesen, bekommen nicht mulattenähnliche Kinder, weil sie durch einen geheimnisvollen Vorgang während der Lektüre durch Schwarze befruchtet werden, sondern weil sie ihre Seelen mit Schundliteratur erfüllen und sich die Verödung ihrer Seelen auf ihre Kinder überträgt, die daraufhin, wie Zander richtig bemerkt, nicht »braun«, sondern »grau« werden. Grauheit ist als Metapher für Farblosigkeit, geistige Ödnis, zu verstehen.

Im Folgenden einige Auszüge aus Marans »Roman«.

Batuala, die schwarze Hauptfigur sagt über sich selbst:

»Was ihn, Batuala, betraf, so hielt er bis auf weiteres daran fest, dass Nichtstun einfach nur das Hinnehmen alles dessen, was uns umgibt, bedeutet. In den Tag hineinleben, ohne sich des Gestern zu erinnern, noch sich um morgen zu bekümmern, nicht voraussorgen – das war die wahre Vollkommenheit.« (S. 15)

Yassigindja, eine Frau sinniert: »Eine Frau darf sich dem Mann, der sie begehrt, nie entziehen. Gerade das Gegenteil ist wahr. Das einzige geltende Gesetz ist der Instinkt. Seinen Mann betrügen  oder vielmehr nicht nur ihm allein gehören, das ist doch vollständig gleichgültig.

Es genügt, den gewohnten Besitzer, von dessen Gut man genossen hat, mit Hühnern, Böcken oder Negerschürzen für den ihm zugefügten Schaden abzufinden. Und alle ist wieder gut.« (S. 41)

Den Höhepunkt des Buches stellt aber die seitenlange Schilderung dessen dar, was Zander als »lustvollen Fruchtbarkeitskult« bezeichnet, bei dem es sich in Wahrheit um einen Ritus weiblicher Beschneidung und an ihn anschließende Massenvergewaltigungen handelt:

»Nackt, den Körper mit Asche und Maniok gebleicht – wer diese Sitte vernachlässigt, den treffe der Tod – mit glatt geschorenem Haar und wilden Augen näherten sie sich tanzend.

Ihre Tänze begleiteten sie mit dem Rhythmus teils näselnder, teils gutturaler Laute, die man nicht verstand ... Und sie bewegten sich in einer Art Raserei, die zum Lärm der Lieder und Kundehs den Takt angab ...

Als der Augenblick der Männer gekommen war, brach ein wahres Delirium aus.

Man sah nur noch unmäßig heulende Münder in von Schweiß triefenden Gesichtern. Das war nur noch ein einziges Gestampf, das die Erde bis in weite Fernern erschütterte.

Was waren das für Schreie, für Gelächter, für Gesten! Denn das Beisammensein so vieler Männer und Frauen, das Bier, der Hand, die Bewegung und die Freude hatten bebend heiße Begierden entfacht ...

Die jungen Mädchen, von denen einige auffallend bleich waren, drehten sich tanzend um sich herum. Trotzdem zitterten sie vor Schreck, so sehr sie sich auch bemühten, dagegen anzukämpfen ...

Die Alte tat einige Schritte vorwärts, spreizte ihr kräftig die Schenkel auseinander, packte mit beiden Händen, was sie zu packen hatte, zog daran wie an einer Gummiliane, und mit einem einzigen Ruck – ratsch – schnitt sie es heraus.

Ohne auch nur den Kopf zu drehen, warf sie diese heißen blutigen Fleischfetzen aufs Geradewohl hinter sich, so dass sie zuweilen jemanden ins Gesicht trafen.

Das alles war vollständig gleichgültig. Wenn es einmal auf der Erde lag, konnten sich die Hunde darüber hermachen ...

Jetzt erreichte der Tumult seinen Höhepunkt.

Dagegen war alles, was sich vorher abgespielt hatte, nichts. Alles Geschrei, alle wirren Tänze waren nur Vorbereitung für die letzte Steigerung: den Liebestanz, den man nur an diesem Abend tanzt, an dem es erlaubt ist, sich Ausschweifung und Verbrechen hinzugeben ...

Zwei Frauen tauchten auf ...Beide waren nackt, enthaart und trugen Glasketten um den Hals, einen Ring in der Nase und im Ohr ...

Außer den Festtagsjuwelen trug Yassigindja noch einen enormen Phallus aus bemaltem Holz. Dieses Symbol des männlichen Gliedes, das am Gürtel um ihre Taille befestigt war und an ihrem Unterleib baumelte, deutete die Rolle an, die sie in dem Tanz zu spielen hatte ... Dann kam sie, mehr gleitend als gehend, auf ihre Partnerin zu ... Als der beschleunigte Tanzrhythmus schließlich den Krampf anzeigte, den das Verlangen auslöst – hielten sie sich, die Körper von kurzen Schauern geschüttelt, unbeweglich, unbeweglich, glückselig umschlingen ...

Ein seltsamer Wahnsinn ergriff nun dieses menschliche Durcheinander, das die Tänzerinnen umgab. Die Männer entledigten sich des Stofffetzens, der ihnen als Schambinde diente, und die Frauen taten ihre buntgescheckten Schürzen ab. Brüste baumelten. Kinder ahmten die Bewegungen der Älteren nach. Ätzend wie Rauch breitete sich ein schwerer Geruch von Geschlecht, Urin, Schweiß und Alkohol aus. Die Paare paarten sich. Sie tanzten wie Yassigindja und ihre Freundin zuvor getanzt hatten. Man kämpfte, heisere Schreie wurden laut. Hier und da warfen sich die Körper an die Erde und setzten die getanzten Gesten in Wirklichkeit um. Verdoppelt durch den Rausch des Alkohols wuchs sich der sexuelle Rausch zur schrankenlosen, ungeheuren, rohen Freude aus. Flüche ertönten. Blut spritzte auf. Umsonst. Nur die Gier allein beherrschte sie noch ... In der Menge verloren, tanzten sie den Tanz der Liebe, den ersten aller Tänze, von dem alle anderen abstammen und dem keiner gleichkommt.« Und so weiter und so fort. (S. 81 ff)