Laut Zander ging es im Krishnamurti-Konflikt nicht um christologische Erkenntnis, sondern um Macht. Steiner habe den Hinduknaben als »Bedrohung« empfunden, und deswegen eine alternative Deutung theosophischer Lehren entwickeln müssen, die diese Bedrohung neutralisierte. Die christologische Forschungsgeschichte der Geisteswissenschaft liest sich in Zanders Kommentar wie eine Reprise der katholischen Konziliengeschichte und ihrer Räuberpistolen.

Auf S. 218-219 schreibt Zander:

» ... für Steiner war dieser Junge weit mehr, als ein religionsphilosophisches Programm, er war eine Bedrohung. Der neue Weltenlehrer konnte, einmal erwachsen, womöglich höchste Autorität beanspruchen ... Ein erstes Bollwerk errichtete Steiner schon in der Phase erster Gerüchte im April 1909, am Ostersonntag, als er die Figur des ›Maitreya-Buddha, des erneuten großen Lehrers und Führers der Menschheit‹, der ein Nachfolger Buddhas sei, einführt ... Am Osterdienstag verstärkt er seine Bastion: Der Ankunftstermin entziehe sich völlig unserem Wissen – das sprach gegen Krishnamurti. Steiner verhandelt im Medium des Vortrags. Er akzeptiert im Prinzip den kommenden Weltlehrer, macht aber mit der Konzeption des Maitreya-Buddha ein Deutungsangebot, das Besants und Leadbeaters Deutungsmacht begrenzen würde.«

Obwohl Zander die ganzen leicht durchschaubaren Knaben-Machenschaften Leadbeaters und Besants bekannt sind, breitet er weiter seine krude machtpolitische Deutung dieser Vorgänge aus. In Steiners gesamter Christologie sieht er nichts als taktische Schachzüge eines Kampfes um Deutungshoheit, für die inhaltlichen Aspekte der Christologie, die Steiner in diesen Jahren nach und nach entfaltet, ist er blind und kann sie offenbar nur ins Lächerliche ziehen.

Steiner sprach nicht erst am Ostermontag 1909 vom Maitreya-Buddha, sondern bereits am Karsamstag. In seinem Kölner Vortrag vom 10. April über »das makrokosmische und das mikrokosmische Feuer, die Vergeistigung des Atems und des Blutes«, sprach Steiner über das Geheimnis der Auferstehung. »Gerade in der Osterzeit wird die Menschenseele am stärksten empfinden lernen, was in die Seele zu gießen vermag die unerschütterliche Zuversicht, dass im Innersten des Menschen ein Quell des ewigen, göttlichen Daseins wohnt, ein Quell, der uns aus aller Enge heraustreibt und uns eins sein lässt, ohne dass wir uns verlieren, mit dem Quell des universellen Daseins, in dem wir jederzeit auferstehen, wenn wir uns zu seiner Erkenntnis durch Erleuchtung aufzuschwingen vermögen.«

Er sprach über die Vorverkündigung des Christus in den vorchristlichen Weisheitslehren und Religionen, über Auferstehungsmotive in der indischen Überlieferung, über die Offenbarung des kosmischen Christus im brennenden Dornbusch und auf dem Sinai. Aber was all diese vorchristlichen Offenbarungen von der christlichen unterschied, das war die Menschwerdung Gottes. Von zentraler Bedeutung für die Menschheitsgeschichte ist das Ostergeschehen, durch es erfüllen sich auch die Auferstehungshoffnungen der vorchristlichen Menschheit. Was Christus von allen göttlichen Wesen der Vorzeit unterschied, die vorübergehend als Avatare auf der Erde erschienen, war die Tatsache, dass er Mensch geworden, den Tod auf sich genommen und aus dem Tode auferstanden war.

»Es sagt die Verkündigung des Alten Testaments, dass der Mensch zum Beginne seines Erdendaseins erhalten hat den Lebensatem, und alle uralten Weisheiten sehen im Lebensatem dasjenige, was der Mensch nach und nach vergeistigen muss. Alle alten Weltanschauungen sahen das große, zu erstrebende Ideal in Atman, in dem, was den Atem so vergöttlicht, dass der Mensch durchzogen wird von einer spirituellen Atemluft.

Aber noch mehr muss vergeistigt werden am Menschen. Wenn sein ganzer physischer Leib vergeistigt werden soll, muss nicht nur der Atem, sondern auch das, was durch den Atem fortwährend erneuert wird, das Blut, der Ausdruck des Ich vergeistigt werden. Das Blut muss ergriffen werden von einem zum Spirituellen treibenden Impuls. Die Mysterien des Blutes - des Feuers, das im Menschen eingeschlossen ist - hat das Christentum hinzugefügt zu den alten Mysterien ...

Solange des Menschen Ich, das seinen physischen Ausdruck im Blute hat, nicht ergriffen war von einem auf der Erde befindlichen Impuls, so lange konnten die Religionen nicht lehren das, was man die Kraft der Selbsterlösung des menschlichen Ichs nennt. So wird uns geschildert, wie die großen geistigen Wesen, die großen Avatare, heruntersteigen und sich von Zeit zu Zeit verkörpern in menschlichen Leibern, wenn die Menschen Hilfe brauchen. Es sind Wesen, die nicht zu ihrer eigenen Entwickelung in einen Menschenkörper hinunterzusteigen brauchen, denn sie hatten ihre Menschheitsentwickelung in einem früheren Weltenzyklus vollendet. Sie steigen herunter, weil sie den Menschen helfen wollen. So steigt von Zeit zu Zeit, wenn die Menschheit Hilfe braucht, der große Gott Vishnu herab ins irdische Dasein. Eine der Verkörperungen des Vishnu, Krishna, spricht von sich selber, deutlich sagend, was eines Avatares Wesenheit ist. Er spricht selbst aus, was er ist, in dem göttlichen Liede, in der Bhagavad Gita. In ihr haben wir die herrlichen Worte, die der Krishna, in dem Vishnu als Avatar lebt, von sich selber ausspricht: ›Ich bin der Schöpfung Geist, ihr Anfang, ihre Mitte, ihr Ende; ich bin unter den Sternen die Sonne, unter den Elementen das Feuer, unter den Wassern das Weltenmeer, unter den Schlangen die ewige Schlange. Ich bin der Weltengrund.‹ ...

Alle Avatare haben die Menschheit erlöst durch Kraft von oben, durch das, was sie aus geistigen Höhen auf die Erde herunterstrahlen ließen. Der Avatar Christus aber hat die Menschheit erlöst durch dasjenige, was er aus den Kräften der Menschheit selber genommen hat, und er hat uns gezeigt, wie die Kräfte der Erlösung, die Kräfte zur Besiegung der Materie durch den Geist in uns selber gefunden werden können.

So konnte selbst ein solcher Erleuchteter wie der Kashyapa, trotzdem er durch die Spiritualisierung seines Atems seinen Leib unverweslich gemacht hatte, die volle Erlösung noch nicht finden. Der unverwesliche Leib muss warten in der geheimnisvollen Höhle, bis ihn abholt der Maitreya-Buddha. Denn erst dann, wenn der physische Leib vom Ich aus so vergeistigt ist, dass der Christus-Impuls in den physischen Leib einströmt, erst dann bedarf es nicht mehr des wunderbaren kosmischen Feuers, um die Erlösung herbeizuführen, sondern des im eigenen Innern des Menschen, in unserem Blute wallenden Feuers, das die Erlösung herbeiführt. Daher können wir auch von dem Lichte, das ausstrahlt von dem Mysterium von Golgatha, eine so wunderbar tiefe Legende beleuchten, wie diese über den Kashyapa erzählte.« (GA 109, 10.04.1909)

All diese Motive greift Steiner in seinem Vortrag vom Ostersonntag am 11. April in Köln auf (es gibt keinen Vortrag vom Osterdienstag, wie Zander behauptet) und führt sie in einer grandiosen Synthese zusammen. Kein Ereignis gibt es, das so tief in die Menschheitsgeschichte eingegriffen hat, wie das »Ereignis von Golgatha«. Durch es hat sich das Verhältnis der Menschheit zur Erde und zu sich selbst vollkommen gewandelt. All die spirituellen Einsichten Buddhas über das irdische Leben und den Weg zur Erlösung, die Befreiung aus dem Kreislauf des Leidens, erscheinen durch die Auferstehung in einem neuen Licht. Alter, Krankheit und Tod erscheinen nun nicht mehr als Anlass, das Erdendasein zu fliehen, sondern es gerade aufzusuchen, weil sie durch die Kräfte, die Christus hat in die Menschheit einfließen lassen, zu Instrumenten der Vervollkommnung, der Erlösung geworden sind. Die gesamte nachchristliche Geschichte der Menschheit steht im Zeichen der Nachwirkungen des Lebens Christi auf Erden. Und diese Nachwirkungen sind nicht etwa abgeschlossen, sondern sie dauern in die Gegenwart und Zukunft hinein fort.

»Es musste eine starke Himmelskraft in den physischen Stoff hineinstrahlen, sich in den physischen Stoff hineinopfern. Nicht bloß ein Gott in der Maske der Menschengestalt durfte es sein, sondern ein wahrer Mensch mit Menschenkräften, der den Gott in sich trägt, musste es sein. Es musste das Ereignis von Golgatha eintreten, damit der Stoff, in den der Mensch hineingestellt ist, bereit werde, gereinigt und geläutert werde, damit das Material des so gereinigten und geheiligten Stoffes geeignet sei, dass für künftige Inkarnationen die Urweltweisheit wieder verständlich werden könne. Und es muss nun die Menschheit dahin gebracht werden, zu verstehen, wie in diesem Sinne wirklich gewirkt hat das Ereignis von Golgatha.«

»Dann aber, wenn die Menschen immer mehr vorbereitet sein werden zum Empfang des Christus-Ich, dann wird sich das Christus-Ich immer mehr in die Seelen der Menschen ergießen. Sie werden dann sich hinaufentwickeln dahin, wo ihr großes Vorbild, der Christus Jesus, stand. Die Menschen werden dadurch erst verstehen lernen, inwiefern der Christus Jesus das große Menschheitsvorbild ist. Und wenn die Menschheit das verstanden haben wird, wird sie beginnen, in ihrem tiefsten Innern zu ahnen, dass die Gewissheit, die Wahrheit von der Ewigkeit des Lebens von dem toten Leichnam am Holze des Kreuzes von Golgatha ausgeht.«

Eine Fülle gedanklicher Motive und spiritueller Einsichten (unter anderem das Geheimnis der Vervielfältigung der verschiedenen Wesensglieder des Jesus von Nazareth durch den »Christus-Avatar«) flicht Steiner in diesem Vortrag kunstvoll ineinander, die hier unmöglich in Kürze zusammengefasst werden können. (Der Vortrag kann in seinem vollen Wortlaut hier nachgelesen werden).

Weder am Karsamstag noch am Ostersonntag spricht Steiner über den Zeitpunkt der Ankunft des Maitreya-Buddha, erst im September 1909 wird er auf diese Frage eingehen. Eines jedenfalls wird deutlich: mit all den Unterstellungen, die Zander in Steiners Ausführungen hineindeutet, haben diese auch nicht im entferntesten zu tun.

Auf den Gipfel treibt Zander seine Phantasmagorien mit seinen Bemerkungen über den Kongress der europäischen Sektionen der Theosophischen Gesellschaft in Budapest, der an Pfingsten 1909 stattfand. Hier soll sich Steiner angeblich auf ein »spirituelles Handelsgeschäft« verlegt und ein »strategisches Angebot zur Vermeidung eines spirituellen Weltenlehrers« vorgelegt haben. Das einzige spirituelle Handelsgeschäft, das jedoch jemals vorgeschlagen wurde, war ein Angebot, das Annie Besant Steiner unterbreitete.

Auf S. 220 schreibt Zander:

»Dabei verlegt sich Steiner auf ein spirituelles Handelsgeschäft, das etablierte Elemente des theosophischen Denkens so refiguriert, dass ein strategisches Angebot zur Vermeidung eines Weltenlehrers dabei herauskommt ... Zuerst erweitert er seine Anthropologie. Am Beispiel des russischen Naturwissenschaftlers Michail Lomonossow erläutert er, dass dessen naturwissenschaftliche Leistungen nur verständlich seien, wenn man wisse, dass er den ›Ätherleib des Galilei in sich‹ getragen habe ... Sodann erweitert er seine kosmische Christus-Deutung: ›Seit dem Ereignis von Golgatha ist er der planetarische Geist der Erde‹, will sagen: Der Christus könne gar nicht als Person wiederkommen. Und dann präsentiert Steiner seinen daraus resultierenden Kompromissvorschlag nach dem Lomonossow-Modell: ›Der Leib des Jesus von Nazareth, der Ätherleib, Astralleib und das Ich des Jesus von Nazareth, sie sind in großer Vervielfältigung in der geistigen Welt vorhanden‹, und solche Kopien hätten etwa Augustinus, Franz von Assisi und Elisabeth von Thüringen getragen. Diese ›Christus-Träger‹ sollten dann ›auf dieser Erde die Vorbereiter sein für sein Wiedererscheinen‹. Das war ein geschickter Schachzug ...«

Die zitierten Sätze sind ein einzigartiges Gemisch aus historischen Irrtümern und absichtlichen Verdrehungen.

Steiner »erweiterte« nicht seine kosmische Christus-Deutung auf dem Kongress in Budapest. Diese kosmische Christus-»Deutung« (bei der es sich natürlich nicht nur um eine Deutung, also eine beliebige Interpretation handelte, sondern um eine Christus-»Erkenntnis«, also eine Einsicht in einen tatsächlichen Sachverhalt) hatte er bereits im Jahr 1906 vorgetragen. In einem Vortrag am 2. Dezember hatte er die Einsetzungsworte des Abendmahls als Ausdruck einer umwälzenden spirituellen Tatsache angeführt:

»So müssen wir den Christus als den gemeinschaftlichen Geist der Erde auffassen. Könnten wir von einem fernen Stern herunterschauen auf die Erde durch lange Jahrtausende hindurch, so würden wir einen Zeitpunkt finden, wo Christus so auf der Erde wirkt, dass die ganze Astralmaterie von dem Christus durchdrungen ist. Der Christus ist der Erdengeist, und die Erde ist sein Leib. Alles, was auf der Erde lebt und sprießt und wächst, das ist der Christus. Er ist in all den Samenkörnern, in all den Bäumen und in allem, was auf der Erde wächst und sprießt. Darum musste Christus hindeuten auf das Brot und sprechen: «Das ist mein Leib.» Und von dem Saft der Weintrauben – beim Abendmahl handelte es sich nicht um einen schon gegorenen Wein – musste er sagen: ›Dies ist mein Blut‹, denn der Saft der Früchte der Erde ist sein Blut. Die Menschheit muss ihm darum auch erscheinen wie Wesenheiten, die auf seinem Leibe umhergehen. Darum sprach er auch zu seinen Jüngern nach der Fußwaschung: ›Der mein Brot isset, der tritt mich mit Füßen.‹ Dieser Ausspruch ist wörtlich zu nehmen in dem Sinne, dass die Erde der Leib des Christus ist. Gerade dadurch, dass er sich zum Träger der Erdenentwickelung macht, würde ein ferner Geist sehen können, wie immer mehr von seinem Geist einfließt in die Menschen – das Hineinziehen der Substanz des Christus Jesus in jeden einzelnen Menschen hinein. Am Ende würde er die ganze Erde verwandelt sehen, verchristete Menschen tragend, durch Christus vergottete Menschen. Nur was nicht teilgenommen hat an dieser Vergottung, das wird als das Böse beiseite gesetzt. Das muss einen späteren Zeitpunkt für seine Entwickelung zum Guten abwarten.« (GA 97, S. 291)

In einem anderen Vortrag, am 1. April 1907 (GA 106), mit dem Titel »Die Reinigung des Blutes von der Ich-Sucht durch das Mysterium von Golgatha« stellte er dar, wie Christus aus einem kosmischen Geist zum »Geist der Erde« geworden war, um in alle Menschen einzuziehen und jene Reinigung zu ermöglichen, die schon der – nicht von Steiner stammende – Titel des Vortrags andeutet:

»Ebenso wie jeder Mensch seinen Geist hat, wie jeder Mensch durchdrungen ist von seiner Geistigkeit, so ist für den, der diese Dinge durchschaut, jeder Planet und jedes stoffliche Wesen zu gleicher Zeit der Ausdruck eines geistigen Wesens. So ist unsere Erde der Körper oder der geistige Ausdruck des Erdengeistes. Das Mittel, durch das der Erdengeist in den Menschen hineindringen kann, ist diese Blutwärme. In der Blutwärme, die in dem Menschen lebt, die in der vor-lemurischen Zeit außerhalb des Menschen lebte, haben wir das Mittel, durch das der Geist der Erde in den Menschen selbst hineindringt ...

Wenn Sie sich nun überlegen, dass alles, was im Geistselbst lebt, alles, was wir mit Manas bezeichnen, in einer Vielheit sich herniedersenkte, und dass alles das, was man als Budhi bezeichnet, sich als eine geistige Einheit über die Menschheit ergoss, so haben Sie den Gegensatz. Und Sie werden begreifen, dass die Menschheit erst durch die Ausgießung des Geistes vorbereitet werden musste auf die Ausgießung des Christos oder der Budhi, des Lebensgeistes. Bis zu dem Zeitpunkte, in dem der Christus Jesus auf der Erde erschien, ist alles, was vom Christus-Geist vorhanden war, eine Einheit. Es war eine einheitliche Hülle, welche die ganze Erde umgab, die in der festen Erde gleichsam ihr Knochensystem hatte. Wenn Sie die feste Erde nehmen mit alledem, was sie in sich hat, und dann dazunehmen, was die Erde an Wärme umgibt, dann haben Sie ungefähr das, was man den Körper des Christus-Geistes nennt. Daher das schöne Wort im Johannes-Evangelium, wo sich der Christus Jesus selbst bezeichnet als den Geist der Erde: ›Der mein Brot isset, der tritt mich mit Füßen.‹ Was isset der Mensch, wenn er isst? Das Brot. Er isst das Brot, das der Leib des Christus ist. Und indem er auf der Erde geht, tut der Mensch das andere: er tritt ihn mit Füßen. Ganz wörtlich ist das zu nehmen.

Ebenso wie sich in der lemurischen Zeit in die einzelnen Individualitäten ausgegossen hat von dem Element des Geistes der Jahvegeist, ebenso goss sich nach und nach in den Zeitaltern, die dem Christus Jesus vorangegangen waren, und in denjenigen, die ihm jetzt nachfolgen, langsam der Christus-Geist ein, der seinen Körper in der Wärme des Blutes hat. Und wenn der ganze Christus-Geist ausgegossen sein wird in die menschlichen Individualitäten hinein, dann wird das Christentum, die große Menschenbrüderschaft, die Erde erobert haben. Dann wird es überhaupt kein Bewusstsein von Cliquen und kleinen Zusammenhängen mehr geben, sondern nur das Bewusstsein, dass die Menschheit ein Bruderbund ist. Bei der größten Individualisierung wird dennoch jeder zum andern hingezogen sein. Die kleinen Stammes- und Volksgemeinschaften werden gewichen sein der Gemeinschaft des Lebensgeistes, der Budhi, der Gemeinschaft des Christus.

Das wird ein Seelenauge sehen, das als hellseherisches Auge herunterblickt auf unseren Planeten. Verfolgen könnte es, wie damals der Christus-Geist voll enthalten war in dem, was die Erde umgibt, und wie er sich hineinergießt in die einzelnen Menschen. Die Erde würde es sehen, sich immer mehr und mehr ändernd. Andere Farben und Stimmungen würden auftreten. Was in der Umgebung der Erde war, würde man jetzt im Inneren der einzelnen Menschen aufsuchen müssen. Dies bedeutet die Erscheinung des Christus Jesus, und das ist seine kosmische Bedeutung.« (GA 106)

Das Gesetz der »spirituellen Ökonomie«, das Zander nicht einmal dem Namen nach erwähnt, sondern abschätzig als »Lomonossow-Modell« bezeichnet, stellte Steiner nicht erst auf dem Kongress in Budapest dar, sondern erstmals im Januar 1909. Der betreffende Vortrag, der die Frage behandelt, wie die persönlichen Errungenschaften von Eingeweihten für die Menschheit erhalten bleiben, handelt davon, dass nichts von dem, was solche Menschen sich errungen haben, verloren geht. Wesensglieder, wie zum Beispiel der Ätherleib, die von Menschen durch und durch individualisiert (vom Ich durchdrungen) worden sind, lösen sich nach dem Tode nicht auf, sondern bleiben erhalten und können zum Quell der Inspiration für andere Menschen werden.

Steiner schildert, wie dieses Prinzip die gesamte nachatlantische Kultur durchdringt. Die sieben Rishis, die sagenhaften Begründer der uraltindischen, vorvedischen Kultur trugen die Ätherleiber von Eingeweihten der atlantischen Planetenorakel in sich, Hermes, dem Begründer der ägyptischen Mysterienkultur, wurde der Astralleib des Zarathustra zuteil, Moses dessen Ätherleib. Auch in der Neuzeit wirkte dieses Prinzip: so wurde auf Kopernikus der Ätherleib des Nicolaus Cusanus übertragen und Michail Lomonossow der Ätherleib Galileis. Dieses Gesetz der spirituellen Ökonomie wirkt sich in einem noch umfassenderen Sinn an den Wesensgliedern des Jesus von Nazareth aus, die von der Christuswesenheit vollständig durchdrungen worden sind.

In seinem Vortrag »Von Buddha zu Christus«, den Steiner am 31. Mai 1909 in Budapest hielt (GA 109), stellte er nichts dar, was er nicht bereits in früheren Vorträgen, teilweise bereits Jahre früher geschildert hätte. Die Besonderheit dieses Vortrags besteht darin, dass er eine Synthese all der genannten Motive darstellt. Er ist auch heute noch überaus lesenswert (der volle Wortlaut findet sich in den Quellentexten). Von der Vervielfältigung der Wesensglieder des Jesus hatte Steiner bereits in seinem Kölner Vortrag am 11. April 1909 gesprochen. Von einer »strategischen« Erweiterung der Christologie oder Anthropologie, die durch die Krishnamurti-Affäre veranlasst gewesen und in Budapest vorgeschlagen worden wäre, kann also keine Rede sein.

Was den spirituellen Tauschhandel anbetrifft, so berichtete Steiner im Jahr 1916 – sieben Jahre später – in einem Vortrag von diesem unmoralischen Angebot Annie Besants: »1909 in Budapest hatte ich Mrs. Besant etwas ganz Bestimmtes zu sagen. Dazumal war es ja auch, daß man mit mir hat einen Kompromiss schließen wollen, denn es ging damals die Absicht, diesen Alcyone [Krishnamurti] zum Träger des Christus zu ernennen. Man wollte mit mir einen Kompromiss schließen, man wollte mich zum wiederverkörperten Johannes ernennen, den Evangelisten, und man würde mich dann dort anerkannt haben. Das würde Dogma geworden sein dort, wenn ich auf alle diese verschiedenen Schwindeleien eingegangen wäre. Aber gegen all das, was dazumal im Werden war, bildete sich dort eine, ich möchte sagen, internationale Gesellschaft der ehrlichen Leute. Unter anderem war auch Mr. Keightley dabei, der früher immer Mrs. Besant auf die wissenschaftlichen Fehler hin ihre Bücher ausgebessert hat. Diese internationale Gesellschaft stellte mir von Indien aus den Antrag, ihr Präsident zu werden. Und ich sagte 1909 in Budapest zu Mrs. Besant: Es ist gar keine Rede davon, dass ich jemals in einer okkulten Bewegung irgend etwas anderes sein will, als im Zusammenhange mit der deutschen Kultur – nur mit der deutschen Kultur, innerhalb Mitteleuropa. – Das sagte ich Mrs. Besant 1909.« (GA 167, Berlin, 28.03.1916)

Zander kennt diese Geschichte, er verweist auf S. 221 seiner »Biographie« darauf. Aber ihre Bedeutung realisiert hat er offenbar nicht.

Selbst in den Berichten, die Steiner über seine Forschungen zum Fünften Evangelium gab, die sich insbesondere mit der Kindheits- und Jugendgeschichte Jesu beschäftigen, sieht Zander nichts als vereinspolitische Manöver.

Auf S. 228 schreibt Zander:

»Christologie war zum tagespolitischen Geschäft geworden ... Monat für Monat verändert er seine Christus-Vorstellung. Aber er sucht in seinen Modifikationen nun nicht mehr nach eine Konsens mit Besant, sondern entwickelt eine eigene Christologie, die sich in zentralen Punkten von der Gegnerschaft zu Krishnamurti herschrieb.«

Auf S. 230:

»Besonders prägnant kartete Steiner im Oktober 1913 nach, als er sich zum Verkünder seines eigenen, des ›Fünften Evangeliums‹ aufschwang, das er durch ›Akasha-Forschung‹ ermittelt habe.«

Und auf S. 229:

»Mit der Trennung von der Theosophischen Gesellschaft endeten die großen christologischen Vorträge. Das Gebäude von Steiners Christus-Vorstellung stand grosso modo mit dem Jahr 1911.«

»Monat für Monat veränderte er seine Christus-Vorstellung« – angeblich aus vereinspolitischen Gründen. Man kann diese permanente Erweiterung und Vertiefung der Darstellungen zur Christologie auch ganz anders lesen: als Ergebnis eines unabschließbaren Erkenntnisprozesses, der in immer größere Tiefen und umfassendere Weiten führte. So jedenfalls wurde es von seinen Zeitgenossen, seinen Zuhörern wahrgenommen. Und warum sollten wir dem voreingenommenen- von Häme durchdrungenen Zander mehr glauben, als ihnen?

Nachdem erst die unausschöpfbare Fülle der Christuswesenheit, die alle Religionen und die gesamte Menschheitsgeschichte umschließt und übersteigt, begonnen hatte, sich dem Erkennen Steiners zu erschließen, erweiterte sich durch sie der Blick in alle Bereiche der Wirklichkeit, die ganze Welt erschien im Lichte des »Zentralereignisses der Weltgeschichte« in anderer Gestalt. Von Tag zu Tag schlossen sich neue Verbindungen zwischen dem spirituellen Kern der Welt und den angrenzenden Bereichen der Wirklichkeit auf. Nicht umsonst hat man im Hinblick auf Steiners Anthroposophie von einer »christozentrischen Esoterik« gesprochen.

Hat Steiner in der Frage der Christuserkenntnis jemals nach einem »Konsens« mit Annie Besant gesucht? Nein, das hat er nicht. Der einzige »Konsens«, den er anstrebte, war der Konsens mit der geistigen Realität, die Konkordanz seiner Vorstellungen mit der Wirklichkeit des Wesens, das er durch sie darzustellen versuchte. Und diese konsensuelle Erkenntnis war 1911 keineswegs abgeschlossen, sie entwickelte sich bis zu seinem Tode weiter.

Stand also das Gebäude der »Christus-Vorstellung« 1911 fertig da?

Wer den Inhalt der Vorträge über das Fünfte Evangelium aus dem Jahr 1913 zur Kenntnis nimmt, kann sich der Einsicht kaum erwehren, dass in ihnen eine wesentliche Erweiterung der Christologie enthalten ist. Aber diese Erweiterung setzte sich auch in den folgenden Jahren fort, bis hin zu den Grundlegungen einer heilsamen Gesellschaftsordnung aus der Anschauung der Christuswesenheit (Kernpunkte der sozialen Frage), bis zur Erneuerung des religiösen Lebens (Christengemeinschaft), bis zur Begründung einer heilendenden Pädagogik (Waldorfpädagogik), bis zur Erneuerung der Heilkunst und einer die Erde heilenden Landwirtschaft. Im wahrsten Sinne des Wortes stellte die Weiterentwicklung der Christuserkenntnis in den folgenden Jahren das in alle Lebens- und Wirklichkeitsbereiche ausstrahlende Wesen des Heilands in nie dagewesenen Dimensionen dar. All dies wäre nicht nötig gewesen, wenn, wie Zander behauptet, Steiner allein aus vereins- und machtpolitischen Beweggründen, aus der Gegnerschaft zu Krishnamurti, seine Christologie aus- und umgebaut hätte, wenn diese wirklich 1911, wie er phrasenhaft bemerkt, »grosso modo« gestanden hätte.

All dies aber war nicht Ausdruck des Hochmuts (»er schwang sich zur Verkündigung seines eigenen Evangeliums auf«), sondern ist in Demut gebettet.

Seinen ersten Vortrag zu diesem Thema in Kristiania am 1. Oktober 1913 begann Steiner mit den Worten:

»Ich möchte von vornherein betonen, dass es nicht etwa irgendeiner Sensationslust oder ähnlichen Dingen entspringt, dass das Thema gerade den Inhalt hat: das Fünfte Evangelium« (GA 148, S. 9), um kurz darauf zu bemerken:

»Offen gestanden: mit einem Gefühl, das ganz eigenartig ist, entschließt man sich, in Worte zu prägen dasjenige, was sich da eröffnet dem hellsichtigen Bewusstsein, wenn man hineinschaut in das Bewusstsein des Petrus und der anderen, die bei jenem Pfingstfeste versammelt waren. Mit einer heiligen Scheu nur kann man sich entschließen von diesen Dingen zu reden. Man möchte sagen, man ist fast überwältigt von dem Bewusstsein, man betrete heiligsten Boden des menschlichen Anschauens, wenn man in Worten auszudrücken versucht, was sich dem Seelenblicke eröffnet. Dennoch erscheint es aus gewissen Vorbedingungen unserer Zeit heraus notwendig, über diese Dinge zu sprechen; allerdings mit dem vollen Bewusstsein, dass andere Zeiten kommen werde als die unsrigen sind, in denen man mehr Verständnis entgegenbringen wird demjenigen, was gesagt werden muss über das Fünfte Evangelium ...« (S. 26)

Seinem zweiten Vortrag schloss er folgende »persönlichen Bemerkungen« an:  »... ich darf am Ende dieser ersten Mitteilung, die ich heute zu machen hatte, vielleicht ein paar persönliche Worte zu Ihnen sprechen, die neben dieser Tatsache doch eben ausgesprochen werden müssen. Ich fühle mich gewissermaßen okkult verpflichtet, von diesen Dingen jetzt zu sprechen. Dasjenige aber, was ich sagen möchte, ist das Folgende: Ich weiß sehr wohl, dass wir gegenwärtig in einer solchen Zeit leben, in der sich mancherlei für die nächste Erdenzukunft der Menschheit vorbereitet, und dass wir innerhalb unserer – jetzt Anthroposophischen – Gesellschaft gleichsam als diejenigen uns fühlen müssen, denen eine Ahnung aufgeht, dass in den Seelen der Menschen etwas vorzubereiten ist für die Zukunft, was vorbereitet werden muss. Ich weiß, es werden Zeiten kommen, in denen man noch ganz anders, als es unsere heutige Zeit uns gestattet, wird über diese Dinge sprechen können. Denn wir alle sind ja Kinder der Zeit. Es wird aber eine nahe Zukunft kommen, in der man genauer, präziser wird sprechen können, in der vielleicht manches von dem, was heute nur andeutungsweise erkannt werden kann, viel, viel genauer wird erkannt werden können in der geistigen Chronik des Werdens. Solche Zeiten werden kommen, wenn es auch der heutigen Menschheit noch so unwahrscheinlich vorkommt. Dennoch liegt gerade aus diesem Grunde eine gewisse Verpflichtung vor, schon heute wie vorbereitend über diese Dinge zu sprechen. Und wenn es mich auch eine gewisse Überwindung gekostet hat, gerade über dieses Thema zu sprechen, so überwog denn doch die Verpflichtung gegenüber demjenigen, was sich in unserer Zeit vorbereiten muss. Das führte dazu, zum ersten Male gerade bei Ihnen hier über dieses Thema zu sprechen.

Wenn ich von Überwindung spreche, so fassen Sie dieses Wort wirklich so auf, wie es ausgesprochen wird. Ich bitte ausdrücklich, dasjenige, was ich gerade bei dieser Gelegenheit zu sagen habe, wirklich nur aufzufassen wie eine Art Anregung, wie etwas, was ganz gewiss in Zukunft viel besser und präziser wird ausgesprochen werden können. Und das Wort Überwindung werden Sie besser verstehen, wenn Sie mir gestatten, eine persönliche Bemerkung nicht zu unterdrücken: Es ist mir durchaus klar, dass für die Geistesforschung, der ich mich ergeben habe, zunächst manches außerordentlich schwierig und mühevoll herauszuholen ist aus der geistigen Schrift der Welt; gerade Dinge von dieser Art! Und ich würde mich gar nicht wundern, wenn das Wort ›Andeutung‹, das ich gebrauchte, eine noch viel schwerere und weitere Bedeutung hätte, als es vielleicht jetzt aufgefasst zu werden braucht.

Ich will durchaus nicht sagen, dass ich heute schon imstande bin, alles das präzise zu sagen, was sich in der geistigen Schrift darstellt. Denn gerade ich fühle mancherlei Schwierigkeiten und Mühe, wenn es sich darum handelt, Bilder, die sich auf die Geheimnisse des Christentums beziehen, aus der Akasha-Chronik zu holen. Ich fühle Mühe, diese Bilder zu der nötigen Verdichtung zu bringen, sie festhalten zu können, und betrachte es gewissermaßen als mein Karma, dass mir die Pflicht auferlegt ist, dies zu sagen, was ich eben ausspreche.

Denn ganz zweifellos würde ich weniger Mühe haben, wenn ich in der Lage gewesen wäre, in der mancher unserer Zeitgenossen ist, in meiner ersten Jugend eine wirklich christliche Erziehung erhalten zu haben. Das habe ich nicht gehabt; ich bin in einer vollständig freigeistigen Umgebung aufgewachsen, und auch mein Studium hat mich zum Freigeistigen geführt. Mein eigener Bildungsgang war ein rein wissenschaftlicher. Und das macht mir eine gewisse Mühe, diese Dinge jetzt zu finden, von denen ich zu sprechen verpflichtet bin.

Gerade diese persönliche Bemerkung darf ich vielleicht machen aus zwei Gründen: aus dem Grunde, weil ja gerade durch eine ganz eigenartige Gewissenlosigkeit ein törichtes, albernes Märchen über meine Zusammenhänge mit gewissen katholischen Strömungen durch die Welt gesendet worden ist [Annie Besants Behauptung, Steiner sei ein Jesuitenzögling]. Von allen diesen Dingen ist nicht ein einziges Wort wahr. Und wohin es gekommen ist mit dem, was sich heute vielfach Theosophie nennt, das kann man einfach daran ermessen, dass auf dem Boden der Theosophie solche gewissenlose Aufstellungen und Gerüchte in die Welt geschickt werden. Da wir aber gezwungen sind, nicht in nachsichtiger Weise, phrasenhaft darüber hinwegzugehen, sondern demgegenüber die Wahrheit hinzustellen, so darf diese persönliche Bemerkung gemacht werden. –

Auf der anderen Seite fühle ich mich gerade dadurch, dass ich in meiner Jugend dem Christentum fernstand, diesem um so unbefangener gegenüber und glaube, da ich erst durch den Geist zu dem Christentum und der Christus-Wesenheit geführt worden bin, gerade auf diesem Gebiete ein gewisses Recht zu haben auf Vorurteilslosigkeit und Unbefangenheit, um über diese Dinge Aussagen zu machen. Vielleicht wird man – gerade in dieser Stunde der Weltgeschichte – mehr geben können auf das Wort eines Menschen, der aus wissenschaftlicher Bildung kommt, der in seiner Jugend dem Christentum ferngestanden hat, als eines solchen, der seit der frühesten Jugend mit dem Christentum im Zusammenhang gewesen ist. Und ich glaube wahrhaftig nicht, dass das Christentum etwas verlieren kann, wenn es in seinen tieferen Elementen dargestellt wird von einem Bewusstsein, das erst aus dem Geist selber sich zu dem Christentum hingefunden hat. Aber wenn Sie diese Worte ernst nehmen, so werden Sie wie angedeutet fühlen, was in mir selber lebt, wenn ich jetzt spreche von den Geheimnissen, die ich bezeichnen möchte als die Geheimnisse des sogenannten Fünften Evangeliums.« (GA 148 S. 36-38)

Welchen Eindruck Steiners Vorträge in Kristiania auf die damaligen Zuhörer machten, kann man aus dem Munde des russischen Schriftsteller Andrej Belyi erfahren, der bei diesen Vorträgen anwesend war:

»In München kamen rund zweitausend Menschen zusammen; in Kristiania zwischen zwei- oder dreihundert. Sie durften anwesend sein, als der Doktor zum ersten Mal den Gipfel alles von ihm über Christus Mitgeteilten enthüllte.

Und er selbst – nie habe ich ihn so erlebt ...

Er machte den Eindruck eines Menschen, der unter größten Anstrengungen einen Sinai erklommen und dort bestimmte Erlebnisse gehabt hat, der plötzlich durch unvorhersehbare Umstände erschüttert und vielleicht nicht durch das Geschaute, sondern durch die Stimme bezwungen wurde ...

Nicht nur ich allein, eine ganze Anzahl von Menschen hatten in Kristiania dieselbe Empfindung: dieser Kurs war eine Verpflichtung, eine Bindung. Wenn Steiner bis dahin verehrt, geachtet wurde, so wurde er nun ein bis ins Innerste erschütterter Bruder, er, der Lehrer, war auf unsere Teilnahme, ja, auf unser Mitgefühl angewiesen. Er rang um die Worte, er hatte die Gabe der Rede ... verloren! ...

Sein Sprechen – in den beiden ersten Vorträgen – war für seine Verhältnisse ein Stottern, die Erregung, die seiner sich bemächtigt hatte, verschlug ihm die Sprache. Das erste, was wir erfassten – nicht mit dem Kopf, mit dem Herzen – , war diese Erregung, die ihn am Sprechen hinderte. Ich weiß noch ganz genau, wie er mitten im Satz abbrach, den Blick regungslos in eine Bühnenecke gerichtet (das Pult stand auf der Bühne), immer noch schauend, und, ohne ihn zu beenden, um einen neuen Satz rang. Das Ganze war wie ein Selbstgespräch, es hatte nichts von einer Unterweisung ...

da war die Stummheit des Zacharias, da zerbrach vor uns die Aureole des Lehrers, ein ›Lehrer‹ kann niemals so sprechen, wie der Doktor damals sprach. So spricht ein Bruder, dem es nicht mehr um die Beherrschung des Stoffes als Voraussetzung einer ordnungsgemäßen Vermittlung geht ...

Seine Gwbärden sagten vernehmbar: ›Herr, wofür widerfährt mir dies?‹ Doch in dieser offenkundigen ›Kleinheit‹ (der Doktor als sich an uns lehnender Bruder) zeigte sich die Größe des Christen. Wenn der Wellenschlag der Probleme dieses Zyklus Nichtmitglieder erreichte, erhob sich stets dieselbe Kritik.: ›Wie anmaßend!‹ Und seine Gnosis wurde der Überheblichkeit geziehen. Die ›Gnosis‹, seine Gnosis, war er selbst, es war die Weise, wie er uns das ›Fünfte Evangelium‹ brachte, unwissend, wie es zu bringen, wie es auch nur zu berühren sei ...

Glauben Sie mir, der ich seine Wahrhaftigkeit, seine Ehrlichkeit, seinen Widerwillen gegen jegliche Sentimentalität und Rhetorik kannte, glauben Sie mir: sein Kleinheit und Schwäche vor dem Bild des Christus Jesus und vor uns – das ist die Wahrheit seiner Beziehung zum Thema ›Christus‹ und die Wahrheit seins Brudersein in jenem Augenblick.« (Andrej Belyi, Verwandeln des Lebens, S. 452 f.)

Steiner war sich ebensosehr wie seine Zuhörer der möglichen Folgen dieser Mitteilungen bewusst, die er aus einer »okkulten Verpflichtung« heraus vorbrachte. Was er über seine Vorträge »Von Jesus zu Christus« sagte, die er im Oktober 1911 in Karlsruhe gehalten hatte, gilt nicht weniger von seinen Vorträgen über das Fünfte Evangelium.

Von dieser Vortragsreihe, in der er über den grundlegenden Antagonismus des Jesuitismus und des Rosenkreuzertums sprach, ging die Feindschaft der katholischen Kirche gegen die Anthroposophie aus. (1911 führte Steiner in Karlsruhe aus: »Die eine Bewegung, die uns doch auch im Zusammenhang einer geisteswissenschaftlich christlichen Betrachtung interessieren muss, und von der wir als einer in gewisser Weise außerordentlich gefährlichen Verirrung sprechen dürfen, ist die, welche im äußeren exoterischen Leben genannt wird der Jesuitismus, und wir haben im Jesuitismus gegeben eine gefährliche Überspannung des Jesus-Prinzips. Und in demjenigen, was seit Jahrhunderten innerhalb Europas als Rosenkreuzertum besteht, haben wir eine intime, überall sorgfältig die Wege der Wahrheit suchende Christus-Bewegung ... Es gibt wohl kaum einen größeren Gegensatz in der Kulturentwickelung der letzten Jahrhunderte, als den zwischen dem Jesuitismus und dem Rosenkreuzertum, weil in dem Jesuitismus nichts von dem enthalten ist, was das Rosenkreuzertum als das höchste Ideal der Beurteilung von Menschenwert und Menschenwürde ansieht; und weil sich das Rosenkreuzertum immer hat bewahren wollen vor einem jeglichen Einfließen dessen, was auch nur im schwachen Sinne als ein jesuitisches Element bezeichnet werden kann.« GA 113) Und 1923 im Rückblick über diese seine Ausführungen: »Ich habe es bereits öfter angedeutet, dass diese Wirkung in solcher Linie liegt, unter anderem einmal in einem Vortragszyklus, der den Titel trägt ›Von Jesus zu Christus‹, der in Karlsruhe gehalten worden ist, und der ja, weil gewisse Wahrheiten, von denen viele Leute wollen, dass sie verhüllt bleiben, einmal aus einem esoterischen Pflichtgefühl heraus ausgesprochen wurden, gerade am meisten angefeindet worden ist. Ja, man kann sagen, von gewissen Seiten her begann überhaupt die Feindschaft gegen Anthroposophie gerade von diesem Zyklus aus.« (Dornach, 7. Mai 1923, GA 224, S. 148-149.)

Wozu es diese Feindschaft nach 100 Jahren gebracht hat, kann man in Zanders Werken besichtigen. Man sollte sich nicht der Illusion hingeben, dass er ein interesseloser Historiker ist.

Vollends in das Reich wüstester Spekulationen driftet Zander im dreizehnten Kapitel ab, das dem Thema »Esoterische Schule« gewidmet ist. Dreist werden authentische Zeugnisse ignoriert und an deren Stelle wilde Vermutungen gesetzt, deren einzige Quelle Zanders trübes Bewusstsein ist.

Auf S. 236 f. schreibt Zander:

»Leider wissen wir so gut wie nichts über Steiner in seiner Zeit als esoterischer Schüler ... er war ein Neubürger im Land der Meditation, jedenfalls gibt es keinerlei Hinweise, dass er in seiner vortheosophischen Phase damit Erfahrungen gesammelt hätte ...

Kritiker und Wissenschaftler haben sich auch gefragt, welche psychische Disposition Steiner besaß, ob er, polemisch gefragt, ›geisteskrank‹ war oder, seriöser, an Schizophrenie litt. Aber neuere psycho-medizinische Überlegungen dazu fehlen. Oder nahm er vielleicht auch Drogen? Mit dem Schnupftabak, den er liebte, könnte er auch Kokain ... zu sich genommen haben, vielleicht bewusst, vielleicht auch ohne es zu wissen. Halluzinogene Mittel mögen, wenn er sie den nahm, einzelne Erfahrungen erklären, aber seine Beschäftigung mit meditativen Techniken über zweieinhalb Jahrzehnte geht darin nicht auf. Steiner bliebt als esoterischer Schüler weitgehend verborgen.«

»Leider wissen wir so gut wie nichts ... jedenfalls gibt es keinerlei Hinweise«: Ignoranz und systematische Leugnung tatsächlich vorhandener Hinweise öffnen Tür und Tor für die wildesten Spekulationen über Dinge, von denen wir nicht nur »so gut wie nichts«, sondern schlechterdings gar nichts wissen und auf die es absolut keine Hinweise gibt: auf eine mögliche Geisteskrankheit Steiners, auf einen möglichen Drogenkonsum. In diesen wüsten Spekulationen und Unterstellungen kommt Zanders eigentliche Intention, Steiner in jeder denkbaren Hinsicht unglaubwürdig zu machen und ihn der Lächerlichkeit preiszugeben, ungehemmt zum Durchbruch. Denn entgegen seiner Behauptung, es gebe keinerlei Hinweise, gibt es durchaus Hinweise – zwar nicht auf Steiners esoterische Schülerschaft bei Annie Besant, denn eine solche gab es nicht –dafür aber auf Steiners meditative Praxis. Sie finden sich an prominenter Stelle in seiner Autobiografie.

Steiner schreibt im 22. Kapitel über einen bedeutenden Umschwung, der sich in seinem fünfunddreißigsten Lebensjahr (1896) vollzogen habe. Er habe in dieser Zeit das Wesen der Meditation – die er auch schon früher geübt habe – erkannt, und begonnen, sie als »seelische Lebensnotwendigkeit« zu empfinden. Seine Ausführungen über die drei Formen der Erkenntnis, die er damals unterschied (die aus der Sinnesbeobachtung gewonnene begriffliche Erkenntnis, das Erleben des reinen Denkens bzw. das Leben in reinen Begriffen, aus dem die ›Philosophie der Freiheit‹ entstand, und das leibfreie geistige Erkennen), machen auch deutlich, was von Zanders Unterstellungen über den möglichen Gebrauch halluzinogener Substanzen zu halten ist. Bereits die ideell-geistige Erkenntnis (das reine Denken) zeichnet aus, dass es seine Inhalte nicht aus der Sinneswelt schöpft. Das Geisterkennen beruht darauf, dass das geistige Wesen des Menschen vollständig leibfrei geworden ist. Diese Erkenntnis kommt zustande, indem die leiblichen Vorgänge nicht nur bis zu einem gewissen Grade, wie beim reinen Denken, sondern vollständig zurückgedrängt werden.

»Im Zusammenhange mit dem Umschwung in meinem Seelenleben stehen für mich inhaltsschwere innere Erfahrungen. –

Ich erkannte im seelischen Erleben das Wesen der Meditation und deren Bedeutung für die Einsichten in die geistige Welt. Ich hatte auch früher schon ein meditatives Leben geführt; doch kam der Antrieb dazu aus der ideellen Erkenntnis seines Wertes für eine geistgemäße Weltanschauung. Nunmehr trat in meinem Innern etwas auf, das die Meditation forderte wie etwas, das meinem Seelenleben eine Daseinsnotwendigkeit wurde. Das errungene Seelenleben brauchte die Meditation, wie der Organismus auf einer gewissen Stufe seiner Entwickelung die Lungenatmung braucht ...

Was jetzt eintrat, war Meditieren als seelische Lebensnotwendigkeit. Und damit stand die dritte Art der Erkenntnis vor meinem Innern ...

In einer solchen aus innerer geistiger Lebensnotwendigkeit geübten Meditation entwickelt sich immer mehr das Bewusstsein von einem «inneren geistigen Menschen», der in völliger Loslösung von dem physischen Organismus im Geistigen leben, wahrnehmen und sich bewegen kann. Dieser in sich selbständige geistige Mensch trat in meine Erfahrung unter dem Einfluss der Meditation. Das Erleben des Geistigen erfuhr dadurch eine wesentliche Vertiefung.

Dass die sinnliche Erkenntnis durch den Organismus entsteht, davon kann die für diese Erkenntnis mögliche Selbstbeobachtung ein genügendes Zeugnis geben.

Aber auch die ideell-geistige Erkenntnis ist von dem Organismus noch abhängig. Die Selbstbeobachtung zeigt dafür dieses: Für die Sinnesbeobachtung ist der einzelne Erkenntnisakt an den Organismus gebunden. Für die ideell-geistige Erkenntnis ist der einzelne Akt ganz unabhängig von dem physischen Organismus; dass aber solche Erkenntnis überhaupt durch den Menschen entfaltet werden kann, hängt davon ab, dass im allgemeinen das Leben im Organismus vorhanden ist.

Bei der dritten Art von Erkenntnis ist es so, dass sie nur dann durch den geistigen Menschen zustande kommen kann, wenn er sich von dem physischen Organismus so frei macht, als ob dieser gar nicht vorhanden wäre.

Ein Bewusstsein von alledem entwickelte sich unter dem Einfluss des geschilderten meditativen Lebens. Ich konnte die Meinung, man unterliege durch eine solche Meditation einer Art von Autosuggestion, deren Ergebnis die folgende Geist-Erkenntnis sei, für mich wirksam widerlegen. Denn von der Wahrheit des geistigen Erlebens hatte mich schon die allererste ideell-geistige Erkenntnis überzeugen können. Und zwar wirklich die allererste, nicht bloß die im Meditieren an ihrem Leben erhaltene, sondern die, welche ihr Leben begann. Wie man in besonnenem Bewusstsein ganz exakt Wahrheit feststellt, das hatte ich schon getan für das, was in Frage kommt, bevor überhaupt von Autosuggestion hat die Rede sein können. Es konnte sich bei dem, was die Meditation errungen hatte, also nur um das Erleben von etwas handeln, dessen Wirklichkeit zu prüfen ich vor dem Erleben schon völlig imstande war.« (GA 28, Kapitel 22).

Was die unterstellte »esoterische Schülerschaft« Steiners bei Besant anbetrifft, so gibt es anstelle der wilden Spekulationen Zanders ebenfalls ein authentisches Zeugnis, das Zeugnis Rudolf Steiners. Auch dieses findet sich in seiner Autobiografie. Auch hier gibt es keinerlei vernünftigen Grund, es anzuzweifeln. Seine Ausführungen über die Esoterische Schule der Theosophischen Gesellschaft und über die in dieser gepflegte Erkenntnisart finden sich im Kapitel 32. Auch hier hebt er hervor, dass die Erkenntnismethode, die er selbst praktizierte und seinen esoterischen Schülern zu vermitteln versuchte, sich von der in der Theosophischen Gesellschaft praktizierten grundlegend unterschied. H.P. Blavatsky empfing ihre Erkenntnisse in »einem Bewusstseinszustand, der gegenüber dem modernen von der Bewusstseinsseele durchleuchteten ein ins Traumhafte herabgestimmter war«. Dieser Bewusstseinszustand ist aber »nicht genügend unabhängig von den im Körperlichen wirkenden Kräften«.

»Diese ›Esoterische Schule‹ ging auf H.P. Blavatsky zurück. Diese hatte für einen kleinen inneren Kreis der Gesellschaft eine Stätte geschaffen, in der sie mitteilte, was sie in der allgemeinen Gesellschaft nicht sagen wollte. Sie hielt es wie andere Kenner der geistigen Welt nicht für möglich, gewisse tiefere Lehren der Allgemeinheit mitzuteilen.

Nun hängt all das zusammen mit der Art, wie H.P. Blavatsky zu ihren Lehren gekommen ist. Es gab ja immer eine Tradition über solche Lehren, die auf alte Mysterien-Schulen zurückgehen. Diese Tradition wird in allerlei Gesellschaften gepflegt, die streng darüber wachen, dass von den Lehren aus den Gesellschaften nichts hinausdringe.

Aber von irgend einer Seite wurde es für angemessen gehalten, an H.P. Blavatsky solche Lehren mitzuteilen. Sie verband dann, was sie da erhielt, mit Offenbarungen, die ihr im eigenen Innern aufgingen. Denn sie war eine menschliche Individualität, in der das Geistige durch einen merkwürdigen Atavismus wirkte, wie es einst bei den Mysterien-Leitern gewirkt hat, in einem Bewusstseinszustand, der gegenüber dem modernen von der Bewusstseinsseele durchleuchteten ein ins Traumhafte herabgestimmter war. So erneuerte sich in dem ›Menschen Blavatsky‹ etwas, das in uralter Zeit in den Mysterien heimisch war.

Für den modernen Menschen gibt es eine irrtumsfreie Möglichkeit, zu entscheiden, was von dem Inhalte des geistigen Schauens weiteren Kreisen mitgeteilt werden kann. Mit Allem kann das geschehen, das der Forschende in solche Ideen kleiden kann, wie sie der Bewusstseinsseele eigen und wie sie ihrer Art nach auch in der anerkannten Wissenschaft zur Geltung kommen.

Nicht so steht die Sache, wenn die Geist-Erkenntnis nicht in der Bewusstseinsseele lebt, sondern in mehr unterbewussten Seelenkräften. Diese sind nicht genügend unabhängig von den im Körperlichen wirkenden Kräften. Deshalb kann für Lehren, die so aus unterbewussten Regionen geholt werden, die Mitteilung gefährlich werden. Denn solche Lehren können ja nur wieder von dem Unterbewussten aufgenommen werden. Und Lehrer und Lernender bewegen sich da auf einem Gebiete, wo das, was dem Menschen heilsam, was schädlich ist, sehr sorgfältig behandelt werden muss.

Das alles kommt für Anthroposophie deshalb nicht in Betracht, weil diese ihre Lehren ganz aus der unbewussten Region heraushebt.

Der innere Kreis der Blavatsky lebte in der ›Esoterischen Schule‹ fort. –

Ich hatte mein anthroposophisches Wirken in die Theosophische Gesellschaft hineingestellt. Ich musste deshalb informiert sein über alles, was in derselben vorging. Um dieser Information willen und darum, weil ich für Vorgeschrittene in der anthroposophischen Geist-Erkenntnis selbst einen engeren Kreis für notwendig hielt, ließ ich mich in die ›Esoterische Schule‹ aufnehmen. Mein engerer Kreis sollte allerdings einen andern Sinn als diese Schule haben. Er sollte eine höhere Abteilung, eine höhere Klasse darstellen für diejenigen, die genügend viel von den elementaren Erkenntnissen der Anthroposophie aufgenommen hatten. –

Nun wollte ich überall an Bestehendes, an historisch Gegebenes anknüpfen. So wie ich dies mit Bezug auf die Theosophische Gesellschaft tat, wollte ich es auch gegenüber der ›Esoterischen Schule‹ machen. Deshalb bestand mein ›engerer Kreis‹ auch zunächst in Zusammenhang mit dieser Schule. Aber der Zusammenhang lag nur in den Einrichtungen, nicht in dem, was ich als Mitteilung aus der Geist-Welt gab. So nahm sich mein engerer Kreis in den ersten Jahren äußerlich wie eine Abteilung der ›Esoterischen Schule‹ von Mrs. Besant aus. Innerlich war er das ganz und gar nicht. Und 1907, als Mrs. Besant bei uns am theosophischen Kongress in München war, hörte nach einem zwischen Mrs. Besant und mir getroffenen Übereinkommen auch der äußere Zusammenhang vollständig auf.

Dass ich innerhalb der ›Esoterischen Schule‹ der Mrs. Besant hätte etwas Besonderes lernen können, lag schon deshalb außer dem Bereich der Möglichkeit, weil ich von Anfang an nicht an Veranstaltungen dieser Schule teilnahm, außer einigen wenigen, die zu meiner Information, was vorgeht, dienen sollten.

Es war ja in der Schule damals kein anderer wirklicher Inhalt als derjenige, der von H.P. Blavatsky herrührt, und der war ja schon gedruckt.

Außer diesem Gedruckten gab Mrs. Besant allerlei indische Übungen für den Erkenntnisfortschritt, die ich aber ablehnte.« (Kapitel 32)

Es gibt darüber hinaus einen weiteren authentischen Hinweis auf Steiners esoterische Schülerschaft. Er findet sich in einem autobiografischen Vortrag, den er 1913 hielt, veranlasst durch die von Annie Besant erhobene Beschuldigung, er sei ein »Jesuitenzögling«. Dieser Vortrag fand während der ersten Generalversammlung der Anthroposophischen Gesellschaft nach Ausschluss aus der Theosophischen Gesellschaft Adyar statt. Hier gab Steiner einen Hinweis auf den Beginn seiner systematischen esoterischen Schulung, im Jahr 1879 oder 1880.

»Es folgte aber bald darauf noch etwas anderes. Mein Felix war gewissermaßen nur der Vorherverkünder einer anderen Persönlichkeit, die sich eines Mittels bediente, um in der Seele des Knaben, der ja in der spirituellen Welt darinnenstand, die regulären, systematischen Dinge anzuregen, mit denen man bekannt sein muss in der spirituellen Welt. Es bediente sich jene Persönlichkeit, die nun wieder so fremd wie möglich allem Klerikalismus gegenüberstand und damit selbstverständlich gar nichts zu tun hatte, eigentlich der Werke Fichtes, um gewisse Betrachtungen daran anzuknüpfen, aus denen sich Dinge ergaben, in welchen doch die Keime zu der ›Geheimwissenschaft‹ gesucht werden könnten, die der Mann, der aus dem Knaben geworden ist, später schrieb. Und manches, aus dem die ›Geheimwissenschaft‹ geworden ist, wurde damals in Anknüpfung an Fichtes Sätze erörtert.

Ebenso unansehnlich im äußeren Berufe war jener ausgezeichnete Mann wie Felix auch. Ein Buch war es, das er gleichsam als Anhaltspunkt benutzte, das wenig in der äußeren Welt bekannt geworden ist und das in Österreich oft wegen seiner antiklerikalen Richtung unterdrückt wurde, durch welches man sich aber zu ganz besonderen geistigen Wegen und geistigen Pfaden anregen lassen kann.« (Der Vortrag kann hier nachgelesen werden).

Von Ehrgeiz, Geltungssucht und Größenwahn getrieben erscheint Steiner als esoterischer Lehrer in Zanders Darstellung. Um seine Unterstellungen zu untermauern schreckt er auch vor Zitatfälschungen nicht zurück.

 

Auf S. 237 schreibt Zander:

» ... im April schrieb er seiner künftigen Geliebten [sic!] Marie von Sivers ›fleißigste Meditationsarbeit‹ vor ... und er verlangt von ihr, › es mit Deiner Meditation, wie wir es besprochen haben‹ zu halten.«

Zander zitiert aus zwei Briefen Steiners an Marie von Sivers, die im Abstand eines halben Jahres verfasst wurden. Der erste Brief enthält keine Vorschriften für Marie von Sivers und der zweite ebensowenig.

Im ersten Brief vom 16. April 1903 berichtet Steiner Marie von Sivers von einer Sitzung der Schlaraffen, in die er nach einem Vortrag in Weimar geschleppt worden sei.

»Diese Schlaraffia ist über ganz Mitteleuropa verbreitet und hat überall ihre Mitglieder, die sich gradweise in ›Pilger‹, ›Junker‹, ›Ritter‹ und ›Herrlichkeiten‹ gliedern. Ob es noch höhere Grade gibt, ist ein Mysterium, zu dem ich noch nicht gedrungen bin. Nun ist aber die Grundlage der ganzen Gesellschaft die Trivialität. Es schmerzte, die Reden zu hören, die da in einem eigenen Schlaraffendialekt gehalten wurden. Meine Erfahrung ist, dass es solches gibt, und dass Tausende von Menschen in Deutschland und Österreich in der Schlaraffia etwas sehen, wo sie ihr Bestes suchen. Man muss so etwas sehen, um zu wissen, was alles in Menschengemütern an Strebungen lebt, die von der Richtung zum Höheren, zum Geistigen abzieht. Man weiß sonst oft gar nicht, wo der Quellpunkt gewisser astraler Vibrationen liegt, die einem mit Macht entgegentreten, und deren Ursprung in den Orten unter der Oberfläche unseres sozialen Daseins zu suchen ist. An solchen Orten versammeln sich die Kräfte, die der Theosophie widerstreben; sie treiben da unter den merkwürdigsten Masken ihr Spiel. Man lernt sie da besonders als Schmeichler kennen, die sich mit einer ganz eigenen Herzenssprache in die Menschenseelen schleichen. Es geht ganz feierlich zu. ›Herrlichkeit‹ sitzt auf einem ›Thron‹, zur einen Seite vom ›Kanzler‹, zur andern vom ›Marschall‹ umgeben. Man hat Kopfbedeckungen, die die Würden symbolisch zum Ausdruck bringen. Man hat Namen, die einen ganz abtrennen von allem ›Profanen‹. Man verbringt die ganze ›Sippung‹ (deutsch: Sitzung) in zeremoniellen Formen. Es ist notwendig, den Zauber jeglicher Zeremonie zu kennen, wenn man die bestimmende Gewalt dieser ›Sippungen‹ auf die Menschen durchschauen will. Viele der Dinge, die uns in unserem Streben entgegenwirken, führen, wenn man ihre Fäden verfolgt, an solche und ähnliche Orte, die sich dem gewöhnlichen Beobachter entziehen. Die Menschen, die vor uns sitzen, sind oft recht wenig bei uns, weil sie von Kräften dirigiert werden, die da und dorthin lenken. Solchen Dingen kann nur durch die wirklichen Theosophen entgegengewirkt werden, die dies ganz sind, und die deshalb Akkumulatoren von Astralkräften darstellen, die auf eine Besserung des Empfindens und Fühlens wirken. Ich weiß, dass jeder Gedanke, wenn er auch unausgesprochen bleibt und nur seine Richtung in der theosophischen Linie hat, eine Kraft ist, die gegenwärtig viel bedeutet. Ohne einen Grundstock von wahren Theosophen, die in fleißigster Meditationsarbeit, das Gegenwart-Karma verbessern, würde die theosophische Lehre doch nur halbtauben Ohren gepredigt.« (GA 262, S. 52-53)

Kein Wort also von einer Vorschrift, die an Marie von Sivers gerichtet wäre.

Der zweite Brief vom 21. November 1903 enthält ebenfalls keine »Vorschrift«, sondern offensichtlich eine Ermutigung oder Ermunterung, wenn Steiner schreibt: »Sei frisch, liebe Vertraute, sieh manchmal in Deinen Papieren nach und halte es mit Deiner Meditation, wie wir es besprochen haben.« (GA 262, S. 62).