Ein weiterer Irrtum bedarf hier der Korrektur. Er betrifft ebenfalls die Fabeln Zanders über Steiners Realschulzeit und dessen angebliche Emotionalität.

Auf S. 19 schreibt Zander wie bereits zitiert:

»Steiner erzählt viel von Mathematik und Physik, aber kaum etwas vom Geschichts- und Deutschunterricht. Und insbesondere wenn seine Tonlage emotional wird, spürt man, wo sein Herz schlug: ›Ich weiß, dass ich an der Geometrie das Glück zuerst kennengelernt habe.‹«

Der von Zander zitierte Satz: »Ich weiß, dass ich an der Geometrie das Glück zuerst kennengelernt habe«, bezieht sich nicht auf seine Realschulzeit, sondern auf die Zeit in der Neudörfler Dorfschule vor Eintritt in das Wiener Realgymnasium.

Steiner erzählt im 1. Kapitel vom Hilfsschullehrer Heinrich Gange in Neudörfl, in dessen Zimmer er ein Geometriebuch entdeckt hatte. Steiner schreibt im ersten Kapitel darüber:

»Bald nach meinem Eintreten in die Neudörfler Schule entdeckte ich in seinem Zimmer ein Geometriebuch. Ich stand so gut mit diesem Lehrer, dass ich das Buch ohne weiteres eine Weile zu meiner Benutzung haben konnte. Mit Enthusiasmus machte ich mich darüber her. Wochenlang war meine Seele ganz erfüllt von der Kongruenz, der Ähnlichkeit von Dreiecken, Vierecken, Vielecken; ich zergrübelte mein Denken mit der Frage, wo sich eigentlich die Parallelen schneiden; der pythagoreische Lehrsatz bezauberte mich.

Dass man seelisch in der Ausbildung rein innerlich angeschauter Formen leben könne, ohne Eindrücke der äußeren Sinne, das gereichte mir zur höchsten Befriedigung. Ich fand darin Trost für die Stimmung, die sich mir durch die unbeantworteten Fragen ergeben hatte. Rein im Geiste etwas erfassen zu können, das brachte mir ein inneres Glück. Ich weiß, dass ich an der Geometrie das Glück zuerst kennen gelernt habe.

In meinem Verhältnisse zur Geometrie muss ich das erste Aufkeimen einer Anschauung sehen, die sich allmählich bei mir entwickelt hat. Sie lebte schon mehr oder weniger unbewusst in mir während der Kindheit und nahm um das zwanzigste Lebensjahr herum eine bestimmte, vollbewusste Gestalt an.

Ich sagte mir: die Gegenstände und Vorgänge, welche die Sinne wahrnehmen, sind im Raume. Aber ebenso wie dieser Raum außer dem Menschen ist, so befindet sich im Innern eine Art Seelenraum, der der Schauplatz geistiger Wesenheiten und Vorgänge ist. In den Gedanken konnte ich nicht etwas sehen wie Bilder, die sich der Mensch von den Dingen macht, sondern Offenbarungen einer geistigen Welt auf diesem Seelen-Schauplatz. Als ein Wissen, das scheinbar von dem Menschen selbst erzeugt wird, das aber trotzdem eine von ihm ganz unabhängige Bedeutung hat, erschien mir die Geometrie. Ich sagte mir als Kind natürlich nicht deutlich, aber ich fühlte, so wie Geometrie muss man das Wissen von der geistigen Welt in sich tragen.

Denn die Wirklichkeit der geistigen Welt war mir so gewiss wie die der sinnlichen. Ich hatte aber eine Art Rechtfertigung dieser Annahme nötig. Ich wollte mir sagen können, das Erlebnis von der geistigen Welt ist ebenso wenig eine Täuschung wie das von der Sinnenwelt. Bei der Geometrie sagte ich mir, hier darf man etwas wissen, was nur die Seele selbst durch ihre eigene Kraft erlebt; in diesem Gefühle fand ich die Rechtfertigung, von der geistigen Welt, die ich erlebte, ebenso zu sprechen wie von der sinnlichen. Und ich sprach so davon. Ich hatte zwei Vorstellungen, die zwar unbestimmt waren, die aber schon vor meinem achten Lebensjahr in meinem Seelenleben eine große Rolle spielten. Ich unterschied Dinge und Wesenheiten, «die man sieht» und solche, ›die man nicht sieht‹.

Ich erzähle diese Dinge wahrheitsgemäß, trotzdem die Leute, welche nach Gründen suchen, um die Anthroposophie für phantastisch zu halten, vielleicht daraus den Schluss ziehen werden, ich wäre eben als Kind schon phantastisch veranlagt gewesen; kein Wunder, dass dann auch eine phantastische Weltanschauung sich in mir ausbilden konnte.

Aber gerade deshalb, weil ich weiß, wie wenig ich später meinen persönlichen Neigungen in der Schilderung einer geistigen Welt nachgegangen bin, sondern nur der inneren Notwendigkeit der Sache, kann ich selbst ganz objektiv auf die kindlich unbeholfene Art zurückblicken, wie ich mir durch die Geometrie rechtfertigte, dass ich doch von einer Welt sprechen musste, ›die man nicht sieht‹.

Nur das muss ich auch sagen: ich lebte gerne in dieser Welt. Denn ich hätte die Sinnenwelt wie eine geistige Finsternis um mich empfinden müssen, wenn sie nicht Licht von dieser Seite bekommen hätte.

Der Hilfslehrer in Neudörfl lieferte mir mit seinem Geometriebuch die Rechtfertigung der geistigen Welt, die ich damals brauchte (GA 28, S. 17-18).

Die Freude an der Geometrie hatte also nichts mit Emotionen oder Emotionalität zu tun, sondern vielmehr damit, dass Steiner in ihr einer Form des Wissens begegnete, die unabhängig von der Sinneswahrnehmung durch geistige Operationen rein im Inneren erzeugt wird und doch eine objektive, überprüfbare Gesetzmäßigkeit beinhaltet, einem »Wissen, das scheinbar von dem Menschen selbst erzeugt wird, das aber trotzdem eine von ihm ganz unabhängige Bedeutung hat«. Insofern stellte sie für ihn eine Bestätigung, oder wie Steiner sagt, »Rechtfertigung« seiner geistigen Anschauungen dar. In der Geometrie begegnete Steiner erstmals der Möglichkeit, die jenseits der sinnlichen Wahrnehmungswelt verlaufenden Erfahrungen zu rechtfertigen, die ihm von Kindheit an vertraut waren. Später sollte er die Rechtfertigung dieser Erfahrungsart auf philosophischem Wege unternehmen. Das reine und doch zugleich inhaltsvoll-konstruktive Denken der Geometrie blieb aber auch für seine philosophischen Unternehmungen Vorbild.

Ein besonderer Stein des Anstoßes ist für Zander Steiners Bericht über seine Kantlektüre in der Schulzeit. Er projiziert in diesen Bericht eine Reihe von Widersprüchen hinein, die allerdings nur seinem eigenen Unverständnis des von ihm zitierten Textes entspringen.

Auf S. 20-21 schreibt Zander (vier Thesen, die einer näheren Untersuchung bedürfen sind durch Zahlen in eckigen Klammern hervorgehoben):

»Was aber hat diese Lektüre mit dem jungen Steiner gemacht? Wir wissen nicht, wie viel er begriffen hat, aber naheliegend ... ist die Vermutung, dass er gedacht hat: Wir erkennen von einem Gegenstand, von dem ›Ding‹, nur das, was unsere Sinnesorgane uns vermitteln. Und wir sehen das ›Ding‹ nur auf diejenige Art und Weise, wie es unsere Augen möglich machen. Mithin ist der Gegenstand ›an sich‹, das ›Ding an sich›, unzugänglich. So könnte Steiners Einsicht in den Fußstapfen Kants gelautet haben. Die Konsequenzen haben bei vielen Kant-Lesern des 19. Jahrhunderts ein erkenntnistheoretisches Erdbeben ausgelöst. Der Glaube der idealistischen Philosophie, man könne das ›Wesen‹ der Dinge erkennen, brach vielerorts zusammen ...

Das galt auch für Steiner. Sein Bericht über die Kant-Lektüre deutet darauf hin, dass auch er dessen Philosophie als eine Zerstörerin der Erkenntnis des ›Wesens‹ der Dinge gelesen hat. Mitten in den Erzählungen über seinen Kampf mit Kant gesteht er,

[1.] dass er sich bemühen musste, die religiösen Lehren mit der neuen Erkenntnistheorie in Deckung zu bringen, denn damit drohte jede Einsicht auf der Oberfläche zu enden oder gar Projektion zu sein.

Mit großen Augen liest man dann jedoch, dass die Kant-Lektüre, so Steiner 1924,

[2.] keine Konsequenzen gehabt habe: ›Die Ehrfurcht vor dem Geistigen ... wurde mir durch dieses Verhältnis zur Erkenntnis nicht im geringsten genommen.‹

[3.] Gerade durch Kant habe er erkannt, ›wie der menschliche Geist erkennend den Weg ins Übersinnliche finden kann‹.

Das jedoch kann so nicht stimmen. Schon der massive Gebrauch von Begriffen, die in seiner theosophischen Phase Karriere machten, wie das ›Übersinnliche‹ oder ›das Geistige‹, lässt erkennen, dass der alte Steiner hier dem jungen die Wörter lieh. Noch mehr Misstrauen hinterlässt eine Bemerkung wenige Zeilen später:

[4.] ›Ich verhielt mich zu Kant damals ganz unkritisch‹, was doch im Umkehrschluss heißt, dass er Kants Erkenntniskritik akzeptierte.

Vier Thesen formuliert Zander zu Steiners Kant-Lektüre:

[1] dieser habe eine Bedrohung für die religiösen Lehren dargestellt, deren Anhänger Steiner laut Zander zu dieser Zeit offenbar war,

[2] seine Kant-Lektüre habe keine Konsequenzen gehabt,

[3] er habe durch Kant erkannt, dass der menschliche Geist einen Weg ins Übersinnliche finden könne,

[4] er habe Kant unkritisch gelesen, also seine Erkenntniskritik akzeptiert.

Es ist offensichtlich, dass These [1] und [2] sich ebenso widersprechen wie These [2] und [3] oder These [3] und [4]. Die Frage ist nur: Ist hier die Quelle konfus – oder ist es ihr Interpret?

Wenden wir uns daher der Quelle zu.

Die Episode über Steiners Kant-Lektüre findet sich in der Autobiografie auf S. 29-31.

Es handelt sich um ein komplex konstruiertes Stück Prosa, dessen Aussagegehalt sich der oberflächlichen Lektüre, zu der Zander allein imstande scheint, nicht erschließt.

Die Episode wird eingeleitet durch Schilderungen geistiger Erlebnisse, die in Steiner durch drei Lehrer hervorgerufen wurden: den Schuldirektor, der einen Aufsatz über »Die allgemeine Bewegung der Materie als Grundursache aller Naturerscheinungen« veröffentlicht hatte, einen Mathematiklehrer, der einen außerordentlich klaren und durchsichtigen Unterricht hielt, der durch seine Exaktheit ein Vorbild für Steiners eigenes mathematisches Denken wurde, und einen Lehrer für darstellende Geometrie, einen »großartigen Konstrukteur«, dessen Unterricht ebenfalls »musterhaft klar und geordnet« war.

An diese Schilderungen schließt Steiner folgende Sätze an:

»Hinter dem, was ich durch den Schuldirektor, den Mathematik- und Physiklehrer und den des geometrischen Zeichnens in mich aufnahm, stiegen nun in knabenhafter Auffassung die Rätselfragen des Naturgeschehens in mir auf. Ich empfand: ich müsse an die Natur heran, um eine Stellung zu der Geisteswelt zu gewinnen, die in selbstverständlicher Anschauung vor mir stand.

Ich sagte mir, man kann doch nur zurechtkommen mit dem Erleben der geistigen Welt durch die Seele, wenn das Denken in sich zu einer Gestaltung kommt, die an das Wesen der Naturerscheinungen herangelangen kann. Mit diesen Gefühlen lebte ich mich durch die dritte und vierte Realschulklasse durch. Ich ordnete alles, was ich lernte, selbst daraufhin an, mich dem gekennzeichneten Ziele zu nähern« (GA 28, S. 29).

An diese Bemerkungen schließt die Episode der Kant-Lektüre. Steiner leitet sie mit folgenden Sätzen ein:

»Als damals Kant in den Bereich meines Denkens eintrat, wusste ich noch nicht das geringste von dessen Stellung in der Geistesgeschichte der Menschheit. Was irgend ein Mensch über ihn gedacht hat, zustimmend oder ablehnend, war mir gänzlich unbekannt. Mein unbegrenztes Interesse an der Kritik der reinen Vernunft wurde aus meinem ganz persönlichen Seelenleben heraus erregt. Ich strebte auf meine knabenhafte Art danach, zu verstehen, was menschliche Vernunft für einen wirklichen Einblick in das Wesen der Dinge zu leisten vermag« (GA 28, S. 29).

Im Folgenden beschreibt Steiner, wie diese Kant-Lektüre verlief: es las die »Kritik der reinen Vernunft« während des langweiligen Geschichtsunterrichts und in den Schulferien, einzelne Seiten bis zu zwanzigmal hintereinander.

»Ich wollte« schreibt Steiner, »zu einem Urteile darüber kommen, wie das menschliche Denken zu dem Schaffen der Natur steht.

Die Empfindungen, die ich gegenüber diesen Denkbestrebungen hatte, wurden von zwei Seiten her beeinflusst« (GA 28, S. 30).

Steiner suchte also eine Antwort auf die Frage, was die menschliche Vernunft für das Erkennen der Dinge zu leisten vermag, wie das Denken sich zum Schaffen der Natur verhält. Diese »Denkbestrebungen« wurden nicht durch seine Kant-Lektüre angestoßen oder ausgelöst, sondern bestanden auch unabhängig von dieser. Sein »unbegrenztes Interesse an der Kritik der reinen Vernunft« wurde durch seine eigenen Erkenntniserlebnisse vorbereitet. Von Kant erwartete er eine Antwort auf die genannte Frage.

Nun folgen Ausführungen über die zwei anderen Erlebnisse oder Seelentatsachen, die seine »Empfindungen« beeinflussten:

»Zum ersten wollte ich das Denken in mir selbst so ausbilden, dass jeder Gedanke voll überschaubar wäre, dass kein unbestimmtes Gefühl ihn in irgendeine Richtung brächte.

Zum zweiten wollte ich einen Einklang zwischen einem solchen Denken und der Religionslehre in mir herstellen. Denn auch diese nahm mich damals im höchsten Grade in Anspruch. Wir hatten gerade auf diesem Gebiete ganz ausgezeichnete Lehrbücher. Dogmatik und Symbolik, die Beschreibung des Kultus, die Kirchengeschichte nahm ich aus diesen Lehrbüchern mit wirklicher Hingebung auf. Ich lebte ganz stark in diesen Lehren. Aber mein Verhältnis zu ihnen war dadurch bestimmt, dass mir die geistige Welt als ein Inhalt der menschlichen Anschauung galt. Gerade deshalb drangen diese Lehren so tief in meine Seele, weil ich an ihnen empfand, wie der menschliche Geist erkennend den Weg ins Übersinnliche finden kann. Die Ehrfurcht vor dem Geistigen – das weiß ich ganz bestimmt – wurde mir durch dieses Verhältnis zur Erkenntnis nicht im geringsten genommen« (GA 28, S. 30).

Diese beiden Einflüsse bestanden ganz unabhängig von seiner Kant-Lektüre. Es trafen also aufeinander:

1. Steiners Bedürfnis, zu einem »Urteil darüber kommen, wie das menschliche Denken zu dem Schaffen der Natur steht«,

2. sein Denken klar und bestimmt auszubilden, es durch und durch rational, unabhängig von Gefühlen zu machen und

3. sein Bedürfnis, diese Art des Denkens mit der Religionslehre in Übereinstimmung zu bringen.

4. Als vierter entscheidender Faktor kommt hinzu, dass für Steiner die »geistige Welt« Inhalt seiner Anschauung war. An den Religionslehren empfand er – nicht an Kant – »wie der menschliche Geist erkennend den Weg ins Übersinnliche finden kann.« »Die Ehrfurcht vor dem Geistigen« wurde durch sein Verhältnis zur rationalen Erkenntnis nicht im geringsten beeinträchtigt. Nebenbei bemerkt, sollte man nicht überlesen, dass Steiner davon spricht, er habe die religiösen Lehren zur Dogmatik, Symbolik usw. tief in seine Seele aufgenommen. Von einem auch nur im entferntesten vergleichbaren Einfluss Kants ist nirgends die Rede.

Noch einmal betont Steiner im folgenden Absatz:

»Auf der andern Seite beschäftigte mich unaufhörlich die Tragweite der menschlichen Gedankenfähigkeit. Ich empfand, dass das Denken zu einer Kraft ausgebildet werden könne, die die Dinge und Vorgänge der Welt wirklich in sich fasst. Ein ›Stoff‹, der außerhalb des Denkens liegen bleibt, über den bloß ›nachgedacht‹ wird, war mir ein unerträglicher Gedanke. Was in den Dingen ist, das muss in die Gedanken des Menschen herein, das sagte ich mir immer wieder« (GA 28, S. 31).

Daran im Anschluss kommt er noch einmal auf Kant zu sprechen:

»An dieser Empfindung stieß aber auch immer wieder das an, was ich bei Kant las. Aber ich merkte damals diesen Anstoß kaum. Denn ich wollte vor allem durch die ›Kritik der reinen Vernunft‹ feste Anhaltspunkte gewinnen, um mit dem eigenen Denken zurecht zu kommen. Wo und wann ich meine Ferienspaziergänge machte: ich musste mich irgendwo still hinsetzen, und mir immer von neuem zurechtlegen, wie man von einfachen, überschaubaren Begriffen zur Vorstellung über die Naturerscheinungen kommt. Ich verhielt mich zu Kant damals ganz unkritisch; aber ich kam durch ihn nicht weiter« (GA 28, S. 31).

Aus dieser Rekonstruktion ergibt sich in bezug auf die vier von Zander formulierten Thesen folgendes:

[1] Kant stellte keine Bedrohung für die religiösen Lehren dar, mit denen sich Steiner beschäftigte. Er war auch nicht Anhänger dieser Lehren. Steiner bemühte sich nicht, die »religiösen Lehren« mit der »neuen Erkenntnistheorie in Übereinstimmung« zu bringen, sondern mit seinen Denkbestrebungen, die von seiner Kant-Lektüre völlig unabhängig waren. Die religiösen Inhalte waren für Steiner keine Lehren im gewöhnlichen Sinn, denn sein Verhältnis zu ihnen war dadurch bestimmt, dass ihm »die geistige Welt als ein Inhalt der menschlichen Anschauung galt«.

Und im Gegensatz zu der vielleicht krassesten Fälschung Zanders behauptet Steiner nicht, er habe »durch Kant erkannt, wie der menschliche Geist erkennend den Weg ins Übersinnliche finden kann«, sondern er habe an den religiösen Lehren »empfunden«, »wie der menschliche Geist erkennend den Weg ins Übersinnliche finden kann«.

[2] Die Behauptung, Steiners Kant-Lektüre habe keine Konsequenzen gehabt, ist völlig aus der Luft gegriffen, sie ist eine reine Erfindung Zanders. Steiner spricht an den Stellen, die Zander zitiert, überhaupt nicht über Kant, sondern über seine Erkenntniserfahrungen an der »Dogmatik und Symbolik, der Beschreibung des Kultus, der Kirchengeschichte«.

[3] Ebenso ist die Behauptung Zanders, Steiner habe durch Kant erkannt, »dass der menschliche Geist einen Weg ins Übersinnliche finden« könne, vollkommen aus der Luft gegriffen, dieser Halbsatz bezieht sich, wie bereits unter [1] bemerkt, auf die Theorien des Übersinnlichen aus der christlichen Tradition.

[4] Die Behauptung, Steiner habe Kants Erkenntniskritik unkritisch gelesen, ergo habe er sie akzeptiert, ist ebenfalls aus der Luft gegriffen. Vielmehr sagt Steiner ausdrücklich im Hinblick auf Kant:

»Ich empfand, dass das Denken zu einer Kraft ausgebildet werden könne, die die Dinge und Vorgänge der Welt wirklich in sich fasst. Ein ›Stoff‹, der außerhalb des Denkens liegen bleibt, über den bloß ›nachgedacht‹ wird, war mir ein unerträglicher Gedanke. Was in den Dingen ist, das muss in die Gedanken des Menschen herein, das sagte ich mir immer wieder. An dieser Empfindung stieß aber auch immer wieder das an, was ich bei Kant las.«

Steiner akzeptierte also nicht Kants Erkenntniskritik, sondern stieß sich daran, weil er andere Erfahrungen und – soweit zu dieser Zeit bereits möglich –, auch andere Auffassungen entwickelt hatte. Für ihn gab es ja gerade keinen »Stoff, der außerhalb des Denkens liegen bleiben« durfte. Insofern ist auch Zanders »Vermutung«:

»dass er [Steiner] gedacht hat: Wir erkennen von einem Gegenstand, von dem ›Ding‹, nur das, was unsere Sinnesorgane uns vermitteln. Und wir sehen das ›Ding‹ nur auf diejenige Art und Weise, wie es unsere Augen möglich machen. Mithin ist der Gegenstand ›an sich‹, das ›Ding an sich›, unzugänglich. So könnte Steiners Einsicht in den Fußstapfen Kants gelautet haben«

vollkommen aus der Luft gegriffen, ein hanebüchener Unsinn.

Ebenso aus der Luft gegriffen ist Zanders Vorwurf, Steiner habe behauptet, Kant bereits mit 13 oder 14 Jahren gelesen zu haben.

Auf S. 22 schreibt Zander:

»Bei all dem ist Steiner ein Erinnerungsfehler, vielleicht eine weitere Freudsche Fehlleistung unterlaufen, indem er seine Kant-Lektüre weiter zurück in seine Biografie verlegt, als es die Wirklichkeit hergab. Denn die Reclamausgabe erschien erst 1877. Steiner war also schon sechzehn Jahre alt, als er auf Kant stieß, nicht dreizehn oder vierzehn, wie er in ›Mein Lebensgang‹ behauptet.«

Steiner behauptet nirgends in ›Mein Lebensgang‹, er habe Kant bereits mit dreizehn oder vierzehn Jahren gelesen. Vielmehr schreibt er:

»Ich sagte mir, man kann doch nur zurechtkommen mit dem Erleben der geistigen Welt durch die Seele, wenn das Denken in sich zu einer Gestaltung kommt, die an das Wesen der Naturerscheinungen herangelangen kann. Mit diesen Gefühlen lebte ich mich durch die dritte und vierte Realschulklasse durch. Ich ordnete alles, was ich lernte, selbst daraufhin an, mich dem gekennzeichneten Ziele zu nähern.

Da ging ich einmal an einer Buchhandlung vorbei. Im Schaufenster sah ich Kants ›Kritik der reinen Vernunft‹ in Reclams Ausgabe. Ich tat alles, um mir dies Buch so schnell als möglich zu kaufen.« (GA 28, S. 29).

Mit keinem Wort erwähnt Steiner, wie alt er bei dieser Begegnung mit der Reclam-Ausgabe war. Die Reclam-Ausgabe erschien 1877, Steiner war damals in der Tat 16 Jahre alt. Soweit kann Zander also rechnen. Aber lesen kann er nicht.

Der Satz Steiners: »Da ging ich einmal an einer Buchhandlung vorbei«, leitet einen neuen Absatz ein und folgt auf die Bemerkung im vorangehenden Absatz: »Mit diesen Gefühlen lebte ich mich durch die dritte und vierte Realschulklasse durch ...« Nachdem Steiner also die dritte und vierte Realschulklasse durchlebt hatte, ging er einmal an einer Buchhandlung vorbei und sah die besagte Reclam-Ausgabe. Ende 1876 trat Steiner in die fünfte Klasse ein und wurde am 27. Februar 1877 16 Jahre alt. Es war damals üblich, Neuerscheinungen vorzudatieren – so wie ja auch Steiners »Philosophie der Freiheit« vordatiert wurde – die Reclam-Ausgabe könnte also durchaus Ende 1876 erschienen sein. Aber selbst wenn nicht, befand sich Steiner seit Herbst in der fünften Klasse und wurde Anfang 1877 16 Jahre alt.

Aber all das ginge auch einfacher. Zander hätte nur ein anderes Dokument zu Rate ziehen müssen, das ihm nachweislich bekannt ist, geht er doch in seiner »Anthroposophie in Deutschland« (S. 540, 1023 u.ö.) ebenso wie in der Biografie (S. 40) darauf ein: das »Dokument von Barre«. Ja, er bezeichnet dieses Dokument (autobiografische Aufzeichnungen Steiners für Edouard Schuré aus dem Jahr 1907) sogar als »eminent wichtige Quelle für Steiners Biographie«. In diesen Aufzeichnungen schrieb Steiner explizit, wie alt er war, als er Kant das erste Mal las:

»Sehr früh wurde ich auf Kant hingelenkt. Im fünfzehnten und sechzehnten Jahre studierte ich Kant ganz intensiv ...« (GA 262, S. 15. – Die Dokumente von Barr sind hier zugänglich.)

Wer unterliegt hier also einer Erinnerungstäuschung, einer Freudschen Fehlleistung? Zanders Behauptungen sind ein klassisches Beispiel für etwas, das Freud als »Projektion« bezeichnet hätte: eine Person überträgt unbewusst die eigenen Charakterschwächen auf eine andere Person und wirft dieser Verfehlungen vor, die sie in Wahrheit selbst begangen hat. Das ist aber bei Zander kein Einzelfall, sondern Methode – im Grunde beruhen nahezu alle Urteile, die Zander über Steiner fällt – insbesondere die moralischen –, auf solchen unbewussten Projektionen. Man muss also die berühmte Schere in Zanders Kopf immer anwenden, wenn er ein Urteil über Steiner fällt und an die Stelle von Steiner – Zander setzen, um zu erkennen, von wem eigentlich die Rede ist.

Zander entblödet sich nicht, den »Nationalismus«, der zu seinen Hauptvorwürfen gegen Steiner gehört, schon in dessen zarter Kindheit zu suchen. So behauptet er, »der Junge« sei der »toxischen Dosis des Nationalismus« »hilflos ausgeliefert« und ein »trotzig-strammer Deutschnationaler« gewesen. Ja, Steiners »Kinderseele« sei »tiefgehend« vom Nationalismus »imprägniert« worden.

Auf S. 24-25 schreibt Zander:

»Die Nationalitätenkonflikte färbten Rudolf Steiners Seele ein, noch bevor er wusste, dass die Apotheose der Nation das tödliche Gift für die europäische Kultur des 20. Jahrhunderts werden würde.

Der Junge war dieser toxischen Dosis des Nationalismus hilflos ausgeliefert ...

Hier erleben wir einen kleinen, trotzig-strammen Deutschnationalen ... 1924 ... liest man, wie er sich von seinen kroatischen und ungarischen Wohnorten distanzierte und herausstrich, aus einer ›urdeutschen Familie‹ zu stammen ... aber das sind altersmilde Rückblicke, die jedoch die tief reichende nationalistische Imprägnierung seiner Kinderseele bestätigen«.

Steiner soll also schon in seiner Kindheit durch den Nationalismus vergiftet worden sein, denn das wird ja gesagt, wenn von einem »tödlichen Gift« und einer »toxischen Dosis« die Rede ist. Er soll ein trotzig-strammer Deutschnationaler gewesen sein und soll noch 1924 betont haben, dass er aus einer »urdeutschen Familie« stammte. Und zwar soll Steiner das in seinen Lebenserinnerungen (»Mein Lebensgang«) getan haben.

Es ist aufschlussreich, die Passage in Steiners Autobiografie, auf die Zander sich mit diesen Behauptungen bezieht, im Kontext – und vor allem im Original – zu lesen. Es handelt sich um den letzten Absatz des 2. Kapitels. Die Sätze, die sich auf nationale Fragen beziehen, werden kursiv hervorgehoben. Steiner spricht über die Zeit des russisch-türkischen Krieges, als er 16-17 Jahre alt war.

»Im Elternhause hörte ich damals viel diskutieren über den russisch-türkischen Krieg (1877/78). Der Beamte, der damals die Ablösung meines Vaters im Dienste an jedem dritten Tag hatte, war ein origineller Mensch. Er kam immer zur Ablösung mit einer mächtigen Reisetasche. Darinnen hatte er große Manuskriptpakete. Es waren Auszüge aus den verschiedensten wissenschaftlichen Büchern. Er gab sie mir nach und nach zum Lesen. Ich verschlang sie. Mit mir diskutierte er dann über diese Dinge. Denn er hatte wirklich auch im Kopfe eine zwar chaotische, aber umfassende Anschauung von alledem, was er zusammengeschrieben hatte. – Mit meinem Vater aber politisierte er. Er nahm begeistert Partei für die Türken; mein Vater verteidigte mit starker Leidenschaft die Russen. Er gehörte zu denjenigen Persönlichkeiten, die Russland damals noch dankbar waren für die Dienste, die es den Österreichern beim ungarischen Aufstande (1849) geleistet hatte. Denn mit den Ungarn war mein Vater gar nicht einverstanden. Er lebte ja an dem ungarischen Grenzorte Neudörfl in der Zeit der Magyarisierung. Und immer war über seinem Haupte das Damoklesschwert, dass er nicht Leiter der Station Neudörfl sein könne, weil er nicht magyarisch sprechen könne. Es war dies in der dortigen urdeutschen Gegend zwar ganz unnötig. Aber die ungarische Regierung arbeitete darauf hin, dass die ungarischen Linien der Eisenbahnen mit magyarisch sprechenden Beamten auch bei Privatbahnen besetzt würden. Mein Vater wollte aber seinen Posten in Neudörfl so lange behalten, bis ich mit der Schule in Wiener-Neustadt fertig war. Durch alles dieses war er den Ungarn recht wenig geneigt. Und weil er die Ungarn nicht mochte, liebte er in seiner einfachen Art zu denken: die Russen, die 1849 den Ungarn ›den Herrn gezeigt hatten‹. Diese Denkweise wurde außerordentlich leidenschaftlich, aber in der zugleich außerordentlich liebenswürdigen Art meines Vaters gegenüber dem ›Türkenfreund‹ in der Person seines ›Ablösers‹ vertreten. Die Wogen der Diskussion gingen manchmal recht hoch. Mich interessierte das Aufeinanderplatzen der Persönlichkeiten stark, ihre politischen Ansichten fast gar nicht. Denn mir war damals weit wichtiger, die Frage zu beantworten: inwiefern lässt sich beweisen, dass im menschlichen Denken realer Geist das Wirksame ist?« (S. 37-38)

Zwei Untertanen des österreichisch-ungarischen Kaiserreiches stritten über die Russen und die Türken. Was hat das mit Deutschnationalismus zu tun? Die Sympathien des einen lagen bei den Türken, die des anderen bei den Russen. Steiners Vater sympathisierte mit den Russen, weil sie es den Ungarn beim Aufstand 1849 »gezeigt« hatten, mit deren Regierung er – da er durch die Magyarisierung bedroht war – , gar nicht einverstanden war. Was hat die Bedrohung durch den magyarischen Nationalismus mit Deutschnationalismus zu tun? Dass die Ungarn von allen Völkern des Habsburgerreiches die glühendsten Nationalisten waren, kann man in jeder Geschichte des Vielvölkerstaates nachlesen. In den ihr unterstehenden Gebieten Kroatiens und Rumäniens betrieb die ungarische Regierung eine rücksichtslose Magyarisierungspolitik. Dass sein Vater hätte Ungarisch sprechen müssen, sei, so Steiner, »in der urdeutschen Gegend«, in der der Bahnhof von Neudörfl lag, ganz unnötig gewesen. Steiner spricht also 1924 nicht davon, er sei aus einer »urdeutschen Familie« hervorgegangen, sondern er spricht von einer »urdeutschen Gegend«. Und er schreibt, die politischen Ansichten der beiden Personen, die miteinander stritten, hätten ihn so gut wie gar nicht interessiert, weit wichtiger sei ihm die Frage gewesen: »inwiefern lässt sich beweisen, dass im menschlichen Denken realer Geist das Wirksame ist?«

Wo lässt sich in all diesen Ausführungen eine »Intoxikation durch das tödliche Gift des Nationalismus« erkennen? Wo der »trotzig-stramme Deutschnationalismus«? Steiner hat sich für diese politischen Fragen schlicht nicht interessiert.

Nun ist es auch interessant, einen Blick in das erste Kapitel von Steiners Autobiografie zu werfen, in der er von der Zeit spricht, als die Familie nach Neudörfl zog. Steiner war damals 8 Jahre alt. Diese Schilderungen decken also die »Kindheit« und die »Kinderseele« ab. Eine der bedeutendsten Figuren in diesem ersten Kapitel ist der Pfarrer von Neudörfl, der »ein energischer ungarischer Patriot« war. Müsste nun nicht, wenn Steiner damals oder auch später ein »trotzig-strammer Deutschnationaler« gewesen wäre, der vom Gift des Nationalismus durchtränkt war, dieser Nationalismus aus seinen Schilderungen des »ungarischen Patrioten« heraushörbar sein?

Im Folgenden werden die Äußerungen Steiners über den Pfarrer, dies seine Wertschätzung zum Ausdruck bringen, kursiv hervorgehoben.

»Neben dem Hilfslehrer liebte ich von den Persönlichkeiten, die an der Schulleitung beteiligt waren, den Pfarrer. Er kam zweimal in der Woche regelmäßig zur Erteilung des Religionsunterrichtes und auch sonst öfter zur Inspektion in die Schule. Das Bild dieses Mannes hat sich tief in meine Seele eingeprägt; und er trat durch mein ganzes Leben hindurch immer wieder in meiner Erinnerung auf. Unter den Menschen, die ich bis zu meinem zehnten, oder elften Jahre kennen lernte, war er der weitaus bedeutendste. Er war energischer ungarischer Patriot. An der damals im Gange befindlichen Magyarisierung des ungarischen Gebietes nahm er lebhaften Anteil. Er schrieb aus dieser Gesinnung heraus Aufsätze in ungarischer Sprache, die ich dadurch kennen lernte, dass sie der Hilfslehrer ins Reine abschreiben musste, und dieser mit mir, trotz meiner Jugend, über den Inhalt immer sprach. Der Pfarrer war aber auch ein tatkräftiger Arbeiter für die Kirche. Das trat mir einmal recht eindringlich durch eine Predigt vor die Seele.

In Neudörfl war nämlich auch eine Freimaurerloge. Sie war vor den Dorfbewohnern in Geheimnis gehüllt, und von ihnen mit den allersonderbarsten Legenden umwoben worden. Die leitende Rolle in dieser Freimaurerloge hatte der Direktor einer am Ende des Dorfes gelegenen Zündwarenfabrik inne. Neben ihm kamen unter den Persönlichkeiten, die in unmittelbarer Nähe daran beteiligt waren, nur noch ein anderer Fabrikdirektor und ein Kleiderhändler in Betracht. Sonst merkte man die Bedeutung der Loge nur an der Tatsache, dass von Zeit zu Zeit ›weither‹ fremde Gäste kamen, die den Dorfbewohnern im hohen Grade unheimlich vorkamen. Der Kleiderhändler war eine merkwürdige Persönlichkeit. Er ging stets mit gesenktem Kopfe, wie in Gedanken versunken. Man nannte ihn den ›Simulierer‹, und man hatte durch seine Sonderbarkeit weder die Möglichkeit, noch das Bedürfnis, an ihn heranzukommen. Zu seinem Hause gehörte die Freimaurerloge.

Ich konnte kein Verhältnis zu dieser Loge gewinnen. Denn nach der ganzen Art, wie sich die Menschen meiner Umgebung in dieser Hinsicht benahmen, musste ich es auch da aufgeben, Fragen zu stellen; und dann wirkten die ganz abgeschmackten Reden, die der Zündwarenfabrikbesitzer über die Kirche führte, auf mich abstoßend.

Der Pfarrer hielt nun eines Sonntags in seiner energischen Art eine Predigt, in der er die Bedeutung der wahren Sittlichkeit für das menschliche Leben auseinandersetzte und dann von den Feinden der Wahrheit in Bildern sprach, die von der Loge hergenommen waren. Dann ließ er seine Rede gipfeln in dem Satze: ›Geliebte Christen, merket wer ein Feind dieser Wahrheit ist, zum Beispiel ein Freimaurer und ein Jude.‹ Für die Dorfleute waren damit der Fabrikbesitzer und der Kleiderhändler autoritativ gekennzeichnet. Die Tatkraft, mit der dies gesprochen wurde, gefiel mir ganz besonders.

Auch diesem Pfarrer verdanke ich besonders durch einen starken Eindruck außerordentlich viel für meine spätere Geistesorientierung. Er kam einmal in die Schule, versammelte die «reiferen» Schüler, zu denen er mich rechnete, in dem kleinen Lehrerstübchen um sich, entfaltete eine Zeichnung, die er gemacht hatte, und erklärte uns an ihr das kopernikanische Weltsystem. Er sprach dabei sehr anschaulich über die Erdbewegung um die Sonne, über die Achsendrehung, die schiefe Lage der Erdachse und über Sommer und Winter, sowie über die Zonen der Erde. Ich war ganz von der Sache hingenommen, zeichnete tagelang sie nach, bekam dann von dem Pfarrer noch eine Spezialunterweisung über Sonnen- und Mondfinsternisse und richtete damals und weiter alle meine Wissbegierde auf diesen Gegenstand. Ich war damals etwa zehn Jahre alt und konnte noch nicht orthographisch und grammatikalisch richtig schreiben.

Von tiefgehender Bedeutung für mein Knabenleben war die Nähe der Kirche und des um sie liegenden Friedhofes. Alles, was in der Dorfschule geschah, entwickelte sich im Zusammenhange damit. Das war nicht nur durch die in jener Gegend damals herrschenden sozialen und staatlichen Verhältnisse bewirkt, sondern vor allem dadurch, dass der Pfarrer eine bedeutende Persönlichkeit war. Der Hilfslehrer war zugleich Orgelspieler der Kirche, Kustos der Messgewänder und der anderen Kirchengeräte; er leistete dem Pfarrer alle Hilfsdienste in der Versorgung des Kultus. Wir Schulknaben hatten den Ministranten- und Chordienst zu verrichten bei Messen, Totenfeiern und Leichenbegängnissen. Das Feierliche der lateinischen Sprache und des Kultus war ein Element, in dem meine Knabenseele gerne lebte. Ich war dadurch, dass ich an diesem Kirchendienste bis zu meinem zehnten Jahre intensiv teilnahm, oft in der Umgebung des von mir so geschätzten Pfarrers« (GA 28, S. 19-22).

Zander wundert sich darüber, dass Steiner, trotz seiner mangelnden »katholischen Sozialisation«, zu »einem der bedeutenden Religionsstifter und Weltanschauungsdenker des 20. Jahrhunderts werden« konnte.

Auf S. 25-26 schreibt Zander:

»Nur vorsichtig hat Steiner den Schleier über seiner religiösen Sozialisation gelüftet, obwohl wir gerade hierüber gern mehr wüssten, ist er doch zu einem der bedeutenden Religionsstifter und Weltanschauungsdenker des 20. Jahrhunderts aufgestiegen ... Steiner wurde, davon muss man ausgehen, vom achten oder zehnten Lebensjahr an weitgehend areligiös groß. Lebenslang merkt man ihm an, dass er das katholische Frömmigkeitsgefühl nur sehr punktuell und das katholische Lehrgebäude nur schlecht kennt.«

Die erste Unwahrheit in diesen Sätzen ist die Behauptung, Steiner sei zu einem »Religionsstifter aufgestiegen«. Steiner hat keine Religion gestiftet, sondern eine Wissenschaft entwickelt, die sich auch auf die Inhalte der religiösen, insbesondere christlichen Offenbarung erstreckte. Er hat auch nicht die »Christengemeinschaft« gestiftet, sondern Vorträge für protestantische Pfarrer gehalten, die diese Christengemeinschaft gründeten. Steiner selbst hat die Vorstellung, die Anthroposophie sei eine »Religion« stets von sich gewiesen.

Was die Behauptung anbetrifft, Steiner sei ab seinem achten oder zehnten Lebensjahr weitgehend areligiös groß geworden, so widerstreitet diese seinen Ausführungen im zweiten Kapitel des Lebensgangs und auch Zanders eigenen Ausführungen. Noch einige Seiten zuvor (S. 21) behauptete Zander: »Mitten in den Erzählungen über seinen Kampf mit Kant gesteht er [Steiner] dass er sich bemühen musste, die religiösen Lehren mit der neuen Erkenntnistheorie in Deckung zu bringen, denn damit drohte jede Einsicht auf der Oberfläche zu enden oder gar Projektion zu sein.« Zander verortet Steiners Kantlektüre in seinem sechzehnten Lebensjahr. Wie ist es möglich, dass Steiner »die religiösen Lehren« mit Kants Erkenntnistheorie »zur Deckung zu bringen« versuchte, wenn er seit seinem achten Lebensjahr weitgehend areligiös aufwuchs?

Steiner selbst schreibt über sein 15. und 16. Lebensjahr im Hinblick auf sein Verhältnis zu den religiösen Lehren des Christentums:

»Zum zweiten wollte ich einen Einklang zwischen einem solchen Denken und der Religionslehre in mir herstellen. Denn auch diese nahm mich damals im höchsten Grade in Anspruch. Wir hatten gerade auf diesem Gebiete ganz ausgezeichnete Lehrbücher. Dogmatik und Symbolik, die Beschreibung des Kultus, die Kirchengeschichte nahm ich aus diesen Lehrbüchern mit wirklicher Hingebung auf. Ich lebte ganz stark in diesen Lehren. Aber mein Verhältnis zu ihnen war dadurch bestimmt, dass mir die geistige Welt als ein Inhalt der menschlichen Anschauung galt. Gerade deshalb drangen diese Lehren so tief in meine Seele, weil ich an ihnen empfand, wie der menschliche Geist erkennend den Weg ins Übersinnliche finden kann. Die Ehrfurcht vor dem Geistigen – das weiß ich ganz bestimmt – wurde mir durch dieses Verhältnis zur Erkenntnis nicht im geringsten genommen (GA 28, S. 30-31).

Steiner mag zwar das »katholische Frömmigkeitsgefühl« nur punktuell vertraut gewesen sein, mit der Dogmatik, Symbolik und Kirchengeschichte war er aber sicherlich vertraut. Dafür, dass Steiner das katholische Lehrgebäude nur schlecht gekannt habe, liefert Zander auch keinerlei Nachweis. Wer in Steiners Vortragswerk nach Auseinandersetzungen mit der katholischen Dogmatik sucht, wird leicht die Haltlosigkeit dieser Behauptung erkennen können.