Vollkommen surreal wird Zanders Geschichtsdichtung bei seiner Schilderung des Konfliktes zwischen Annie Besant und Rudolf Steiner, zwischen der Theosophischen Gesellschaft Adyar und der Deutschen Sektion dieser Gesellschaft, die schließlich zur Begründung der Anthroposophischen Gesellschaft Ende Dezember 1912 führte. Erkenntnisfragen werden zu Machtfragen umdefiniert, Wahrheit wird zu Lüge und Lüge zu Wahrheit. Kern des Konfliktes war – entgegen Zanders wortreicher Umdeutungsversuche – die christologische Frage: Konnte Christus sich im 20. Jahrhundert erneut in einem Menschen inkarnieren – oder wie anders war seine Wiederkunft zu denken? Kern des Konfliktes war die Proklamation Krishnamurtis zur Reinkarnation Christi.

Auf S. 208-211 schreibt Zander:

»Von tiefer Zuneigung zu abgrundtiefer Enttäuschung – in dieser Abwärtsspirale liegt ein Schlüssel für das Drama Steiner gegen Besant und damit für das Scheitern ihrer theosophischen Ehe ... Kein Zweifel, Steiners Frustration gründet auch in der ehedem hingebungsvollen Verehrung: Der Theosophische Konflikt ist auch die Geschichte einer enttäuschten Liebe, Steiner musste lernen, dass die große Mutter Besant nicht nur Zuneigung erweckte, sondern auch Gehorsam verlangte ...

Steiner war seit 1906 verstärkt dabei, seine Theosophie christlich aufzuladen, und hat dabei auch zu seiner persönlichen Christus-Vorstellung gefunden. Besant hingegen sah in Krishnamurti einen geliebten Sohn und eine Art wiedergekehrten Christus. Vielleich wäre es bei einer schiedfriedlichen Aufteilung geblieben, hätte Besant mit Krishnamurti nicht auch die Machtfrage gestellt. Damit geriet Steiner spirituelle wie machtpolitische in die Defensive.

Aber mit dem Aufstieg Besants zur Präsidentin stand auch die Frau gegen den Mann. Rudolf Steiner, der keine Beziehungen zu Frauen auf Augenhöhe lebte, der als esoterischer Lehrer seine Partnerin unterrichtete, der von Verehrerinnen umschwärmt wurde, dieser Mann sollte sich Annie Besant unterordnen? ...

Da trafen in Besant und Steiner zwei Menschen aufeinander, die sich beide als Eingeweihte verstanden, die beanspruchten, höhere Erkenntnis zu besitzen und all die Geheimnisse aufdecken zu können, an denen sich die Menschheit bis dato die Zähne ausgebissen hatte. De facto bedeutete das die unentscheidbare Konkurrenz von Wahrheitsansprüchen ... Unterschiedliche Positionen waren ... in letzter Instanz nicht mehr den besseren Argumenten unterworfen, sondern galten als Ergebnis höherer Einsicht.«

Sehen wir zu, wie Licht in diesen Nebel gebracht werden kann, den Zander hier verbreitet und ob es wirklich »unentscheidbare Wahrheitsansprüche« gab.

Man halte sich eines vor Augen: die Geschichte hat Steiner im Krishnamurti-Konflikt Recht gegeben. Krishnamurti selbst hat Steiner Recht gegeben. Am 3. August 1929 sagte er sich endgültig von der Rolle los, in die ihn Leadbeater und Besant gedrängt hatten und löste den etwa 60.000 Mitglieder zählenden Orden auf, der zu seiner Unterstützung Anfang 1911 gegründet worden war.

Leadbeater? Was hatte der Pädophile in dieser Geschichte zu suchen? War er nicht von Annie Besant aus der Theosophischen Gesellschaft ausgeschlossen worden? Richtig. Zitieren wir Zander: »Leadbeater hatte ihm anvertraute Jungen Selbstbefriedigungstechniken gelehrt und sich dadurch der Vorwurf der Pädophilie oder auch der Homosexualität zugezogen. Leadbeater war angesichts dieser Vorwürfe nicht mehr zu halten und wurde Juni 1906 ausgeschlossen.«

Aber Annie Besant hatte ihn im Dezember 1908 wieder in die Gesellschaft aufgenommen, mit der Begründung, die theosophische Brüderlichkeit gebiete, gefallenen Brüdern eine neue Chance zu geben. Aus Protest darüber traten etwa 700 Mitglieder aus der englischen Landesgesellschaft aus. Leadbeater war eine wichtige Schachfigur, auf deren Mitwirkung als »Hellseher« in der Theosophischen Gesellschaft Besant offensichtlich nicht verzichten konnte.

Sehen wir uns die Folge der Ereignisse und der Handlungen Besants an, die eine deutliche Sprache sprechen und keiner weiteren Erklärungen bedürfen. Jiddu Krishnamurti war nicht der erste Junge, den Leadbeater »entdeckte« und unter seine Fittiche nahm. Bereits 1904 oder 1905 hatte er sich eines Sohnes des Generalsekretärs der amerikanischen Landesgesellschaft angenommen und behauptet, in ihm den künftigen Träger des Weltheilands erkannt zu haben. Doch die Affäre im Jahr 1906 setzte seinem Vorhaben ein vorzeitiges Ende. Besant schloss sich der allgemeinen Empörung an und trennte sich von Leadbeater.

1907 wurde sie unter Berufung auf einen nicht überprüfbaren Wunsch der »Meister« zur Präsidentin der Theosophischen Gesellschaft gewählt. Steiner hatte in diesem Zusammenhang geschrieben: »Nicht darauf, ob Mrs. Besant gewählt wird oder nicht, kommt es an, sondern darauf, dass sie die Wahl überhaupt in Zusammenhang bringen kann mit den erhabenen Meistern. Das ist es, was die denkbar größte Verwirrung anrichten muss, und was in Zukunft dahin führen könnte, dass auch der letzte Zusammenhang zwischen den Meistern und der Gesellschaft unterbrochen wird«. Trotzdem hatte er sich für Besant als Präsidentin ausgesprochen: »Jedenfalls aber liegt die Sache so, dass man etwa mit der besonderen spirituellen Richtung von Mrs. Besant nicht einverstanden zu sein brauchte und doch zugeben könnte, dass unter den gegenwärtigen Verhältnissen sie derjenige Kandidat für die Präsidentschaft ist, der einzig und allein in Betracht kommen kann

Im Mai 1907 kam es während des Münchner Kongresses zu einer Aussprache zwischen Besant und Steiner, über die sie Hübbe-Schleiden in einem Brief berichtete: »Er [Steiner] kennt den östlichen Weg nicht, daher kann er ihn auch nicht lehren. Er lebt den christlich-rosenkreuzerischen Weg ... Er hat seine eigene Schule und trägt auch selbst die Verantwortung dafür ... Er und ich arbeiten in vollkommener Freundschaft und Harmonie, aber in verschiedener Richtung.« (GA 264, S. 70)

Im Oktober 1908 wurde bei der Generalversammlung der Deutschen Sektion das Leipziger Mitglied Hugo Vollrath ausgeschlossen. Vollrath, den Ellic Howe als »geistreichen Schurken mit einem Hang zum Okkultismus« bezeichnete, stand in Kontakt mit der völkischen Bewegung und war Mitglied der Guido-von-List-Gesellschaft. Er setzte sich für die Verwirklichung der ariogermanischen Interpretation der Theosophie ein, die der völkische Wiener Okkultist propagierte. Vollrath appellierte an Annie Besant, aber diese stimmte nach einem Briefwechsel mit Steiner, in dem er sie umfassend über die Angelegenheit informierte, im März 1909 dem Ausschluss zu.

Im Februar 1909 kehrte der inzwischen von Besant rehabilitierte Leadbeater wieder nach Adyar zurück, der kurz darauf den 14-jährigen Krishnamurti am Meeresstrand als neuen Träger des künftigen Weltheilands entdeckte. Im Januar 1910 unterzog Leadbeater Krishnamurti einer dreitägigen »Einweihung«. Im »Theosophist«, dem Organ der Theosophischen Gesellschaft Adyar erschien im April 1910 eine Artikelserie Leadbeaters, in der die früheren Erdenleben Krishnamurtis seit dem Jahr 23.650 vor Christus beschrieben wurden.

Am 11. Januar 1911 wurde der »Orden des Sterns im Osten« zur Unterstützung der künftigen Mission Krishnamurtis gegründet. Anfang 1911 erteilte Besant einigen Schweizer Logen die Erlaubnis, eine Schweizer Sektion zu gründen, die in Konkurrenz zur Deutschen Sektion trat, der eine ganze Reihe anderer Schweizer Logen angehörten. Diese Gründung sollte die Verhinderung von Auftritten Steiners in der Schweiz vorbereiten, da der deutsche Generalsekretär nur auf Einladung in der Schweiz Vorträge halten durfte. Auf Protest dieser Schweizer Logen musste Besant diesen zugestehen, eine eigene Sektion zu gründen. Besant reiste im Frühjahr 1911 durch Europa und kündigte in Vorträgen an, in Krishnamurti werde Lord Maitreya bzw. Christus wiedererscheinen. Im Juni 1911 ernannte sie Hübbe-Schleiden zum Repräsentanten des »Sterns im Osten« in Deutschland und Hugo Vollrath – dessen Ausschluss sie 1909 zugestimmt hatte – zu dessen Sekretär. Im September sagte Besant den Kongress der europäischen Sektionen in Genua ab, um eine offene Konfrontation mit Steiner zu vermeiden. Später behauptete sie, nur ihre eigene Teilnahme abgesagt zu haben. Bei der Generalversammlung der Deutschen Sektion im Dezember 1911 stellte Vollrath einen Antrag auf Wiederaufnahme in die Deutsche Sektion. Zur Begründung seines Antrags schrieb er: »Es liegt in meiner Natur als Repräsentant der arischen Rasse, nachdem ich drei Jahre versucht habe, in Schweigen zu verharren, als unbesiegter Kämpfer in das Reich der Sanftheit und des Friedens einzutreten, nicht aber als gelehrter, diplomatischer Stubenhocker beim warmen Ofen.« Dem Antrag wurde natürlich nicht stattgegeben.

Im März 1912 schrieb Steiner einen Brief an Besant, in dem er erklärte, die Ernennung Vollraths zum Sekretär des »Ordens des Sterns im Osten stelle ein Misstrauensvotum ihm gegenüber dar, zumal sie dem Ausschluss Vollraths 1909 zugestimmt habe. Besant behauptete daraufhin, die Gründe für Vollraths Ausschluss nicht gekannt und nie eine Beschwerde von ihm erhalten zu haben. Wäre dies der Fall gewesen, hätte sie ihn nie als Sekretär des Ordens vorgeschlagen. Im Juni 1912 hielt Hübbe-Schleiden einen Vortrag, in dem er Steiner vorwarf, er versuche aus der Deutschen Sektion eine Art Jesuiten-Orden zu machen. Kurz darauf gründete er in Göttingen eine Loge, die nur aus sieben Mitgliedern bestand, der Steiner die Stiftungsurkunde verweigerte. Anfang Dezember fand eine Vorstandssitzung der Deutschen Sektion statt (Steiner gehörte dem Vorstand nicht an). Alle 28 Mitglieder des Vorstandes waren der Auffassung, eine Doppelmitgliedschaft im »Orden des Sterns des Ostens« und in der Deutschen Sektion sei aufgrund des Verhaltens der Leitung dieses Ordens nicht möglich. In einem Brief an Annie Besant forderten sie diese wegen gesellschaftsschädigenden Verhaltens zum Rücktritt auf. Gruppen aus ganz Europa schlossen sich dieser Aufforderung an. Daraufhin setzte Besant noch im Dezember die Lüge in die Welt, der deutsche Generalsekretär sei von Jesuiten erzogen worden, habe sich von diesem fatalen Einfluss nicht befreien können und vermöge deswegen in der deutschen Sektion keine Meinungsfreiheit zuzulassen. Im Januar 1913 behauptete sie im »Theosophist«: »Die Theosophische Gesellschaft steht einem organisierten Angriff gegenüber, der von den gefährlichsten Feinden der Gedanken- und Rede-Freiheit angezettelt wird: von Jesuiten ... In Deutschland wirken sie nun, um die Vorherrschaft des Christentums in der Theosophischen Gesellschaft zu sichern und um so die T.S. zu einer christianisierenden Sekte zu machen ...« Ebenfalls im Januar forderte sie Steiner auf, den Beschluss bezüglich der Doppelmitgliedschaft zu rechtfertigen bzw. aufzuheben. Der Vorstand der Deutschen Sektion wies diese Zumutung von sich. Besant entzog daraufhin am 7. März 1913 der Deutschen Sektion die Stiftungsurkunde und übertrug sie an Hübbe-Schleiden. Doch bereits Ende Dezember 1912 war in Voraussicht dieser letzten Konsequenz die Anthroposophische Gesellschaft gegründet worden. Vier Jahre nach Steiners Tod und vier Jahre vor Besants Tod löste Krishnamurti, wie bereits erwähnt, den Orden des Sterns im Osten auf und sagte sich von der ihm zugedachten Rolle los. Er bemerkte anlässlich dieser Auflösung: »Die Wahrheit ist ein wegloses Gelände. Sie kann nicht organisiert werden ... Sie haben sich daran gewöhnt, sich immer von jemandem sagen zu lassen, wie groß ihr geistiger Fortschritt ist. Wie kindisch! Mein einziges Anliegen besteht darin, den Menschen in absoluter und unbedingter Weise in Freiheit zu setzen.«

Quellen und Belege zu all diesen Vorgängen finden sich in Lorenzo Ravagli, Unter Hammer und Hakenkreuz: Der völkisch-nationalsozialistische Kampf gegen die Anthroposophie , 2004; Thomas Meyer, Scheidung der Geister: Die Bodhisattwafrage als Prüfstein des Unterscheidungsvermögens , 2010; Holger Niederhausen, Unwahrheit und Wissenschaft: Helmut Zander und Rudolf Steiner , 2013.

Ausführlicher werden die Vorgänge dargestellt in: Theosophie und Anthroposophie. Zur Geschichte einer spannungsreichen Beziehung

Das Kapitel über Steiners Christologie stellt ein weiteres, schier unentwirrbares Gewebe aus Dichtung und Wahrheit dar. In nahezu jeder Tatsachenbehauptung verbirgt sich ein tendenziöses oder falsches Urteil. »1906«, so Zander, »ist Steiner zum Christen geworden.«

Auf S. 212-213 schreibt Zander:

»Irgendwann im Jahr 1906 ist es passiert. Genauer gesagt ... es ist vermutlich in Schüben passiert: Im Lauf des Jahres 1906 ist er zum Christen geworden. 1906 ist das geistliche Taufjahr des Dr. Steiner ... Steiner war vor 1900 überhaupt kein Christ in einem belastbaren Sinn des Wortes ... Steiners Christianisierung beginnt mit den theosophischen Kontakten seit dem Jahr 1900. In seinem Buch »Die Mystik ...« ... von 1901 kommt Christus erstmals als Gegenstand intensiven Nachdenkens vor, aber nur dort, wo Steiner die Auffassungen von ›Mystikern‹ referiert ... Ein Jahr später, in ›Das Christentum ...‹ ... ist Jesus in die theosophische Weltanschauung integriert. Er gilt nun als ein Eingeweihter – und nicht als Christus, wie er ihn später und wie ihn das kirchliche Christentum versteht ... Wie nebensächlich es [das Christentum] damals noch war, dokumentieren die bis September 1905 publizierten Aufsätze des Erkenntnispfades ... wo das Christentum nicht einmal in Beispielen eine Rolle spielt.«

Was soll die Aussage bedeuten: »Steiner war vor 1900 kein Christ in einem belastbaren Sinn des Wortes?« Was macht einen Menschen zum Christen? Zander scheint es genau zu wissen. Zweifellos setzt eine solche Aussage ein dogmatisches Verständnis des Christentums voraus. Und so heißt es auch eine Seite weiter über Steiners »Christianisierung«, er habe begonnen, Jesus so zu verstehen, »wie ihn das kirchliche Christentum versteht.« Je mehr man also Jesus wie das kirchliche Christentum versteht, um so mehr ist man Christ. Aber Steiner hat Jesus nie so verstanden wie das kirchliche Christentum, sondern anders, weiter, tiefer, vollkommen neu – und vor allem, aufgrund einer Erfahrungserkenntnis, die über alle dogmatischen Formeln oder institutionellen Alleinvertretungsansprüche hinausgeht.

Es ist keineswegs abwegig, zu behaupten, Steiner habe sich gerade mit seiner radikalen Kritik an den Offenbarungsreligion vor der Jahrhundertwende als wahrerer Christ bewiesen, als die damaligen Anhänger des konfessionellen Christentums oder als Zander, der sich ihm gegenüber auf das Dogma beruft. Wie viel »belastbares Christentum« steckte denn Ende des 19. Jahrhunderts in den abendländischen Kirchen, wie viel in den christlichen Bekenntnissen, wie viel in den christlichen Traditionsgemeinschaften, die auf Jahrhunderte, wenn nicht Jahrtausende des Verrats an der christlichen Substanz zurückblickten? Wo also hatte man Ende des 19. Jahrhunderts das »belastbare Christentum« zu suchen? In folgenden Sätzen aus den »Einleitungen zu Goethes Naturwissenschaft Schriften« (1887) steckt mehr »belastbares Christentum«, als in Zanders gesamten hämischen Phrasen über Steiners »Christianisierung«, auch wenn er sich den Anschein gibt, genau zu wissen, worin das wahre Christentum bestehe.

»Mit dem geschenkten Glück ist es wie mit der geoffenbarten Wahrheit. Es ist allein des Menschen würdig, dass er selbst die Wahrheit suche, dass ihn weder Erfahrung noch Offenbarung leite. Wenn das einmal durchgreifend erkannt sein wird, dann haben die Offenbarungsreligionen abgewirtschaftet. Der Mensch wird dann gar nicht mehr wollen, dass sich Gott ihm offenbare oder Segen spende. Er wird durch eigenes Denken erkennen, durch eigene Kraft sein Glück begründen wollen. Ob irgendeine höhere Macht unsere Geschicke zum Guten oder Bösen lenkt, das geht uns nichts an; wir haben uns selbst die Bahn vorzuzeichnen, die wir zu wandeln haben. Die erhabenste Gottesidee bleibt doch immer die, welche annimmt, dass Gott sich nach Schöpfung des Menschen ganz von der Welt zurückgezogen und den letzteren ganz sich selbst überlassen habe.

Wer dem Denken seine über die Sinnesauffassung hinausgehende Wahrnehmungsfähigkeit zuerkennt, der muss ihm notgedrungen auch Objekte zuerkennen, die über die bloße sinnenfällige Wirklichkeit hinaus liegen. Die Objekte des Denkens sind aber die Ideen. Indem sich das Denken der Idee bemächtigt, verschmilzt es mit dem Urgrunde des Weltendaseins; das, was außen wirkt, tritt in den Geist des Menschen ein: er wird mit der objektiven Wirklichkeit auf ihrer höchsten Potenz eins. Das Gewahrwerden der Idee in der Wirklichkeit ist die wahre Kommunion des Menschen.« (GA 1, S. 125-126)

Die Kommunion mit der Wirklichkeit in ihrer höchsten Potenz findet im menschlichen Erkennen statt – das ist für die Moderne ein »belastbares Christentum«, weil es nicht auf Offenbarung und ihre zweifelhaften Deutungen oder auf äußere Instanzen angewiesen ist. Jeder einzelne Mensch trägt die Möglichkeit des Zugangs zum Urgrund des Weltendaseins in sich. Der Logos ist Mensch geworden, er hat den Geist gesandt, »der uns frei macht«, den Geist, der jedes einzelne Individuum zur Erkenntnis des Urgrundes zu führen vermag, aus dem das Weltendasein hervorgegangen ist. Jederzeit, an jedem Ort, vermag das autonom gewordene Individuum in diese Kommunion einzutreten, es hängt allein von der Tätigkeit seines Ich ab, – der Tätigkeit jenes Ich, das jeder einzelne Mensch sein Eigen nennt, von dem es – in den Offenbarungsschriften heißt – »Ihr seid Götter« (Joh 10,34), von dem Origenes sagte: »Wir wissen, dass Christus auf die Erde gekommen ist, und sehen zugleich, dass durch ihn viele Christusse [nicht etwa Christen!] entstanden sind, welche gleich wie er Gerechtigkeit übten« (Contra Cels. VI, 79).

Und wie viel mehr »belastbares Christentum« steckt in der Maxime der »Philosophie der Freiheit«: »Leben in der Liebe zum Handeln und Lebenlassen im Verständnisse des fremden Wollens?« als in der gehässigen Art, mit der Zander über Steiner, den Begründer der Anthroposophie und der individualisierten Christuserkenntnis im 20. Jahrhunderts herzieht, um dessen Andenken zu schänden und dessen einzigartige Leistungen für die Erneuerung der Kultur aus dem Geiste des lebendigen Christus zunichte zu machen? Unendlich viel mehr!

»Lebenlassen im Verständnisse des fremden Wollens« – »liebe Deinen Nächsten wie dich selbst«: hätte Zander auch nur ein Quentchen dieser christlichen Lebenswahrheit in sich aufgenommen, hätte er auch nur eine seiner hämischen Zeilen über Steiner schreiben können?

»1901«, so Zander, »kommt Christus erstmals als Gegenstand intensiven Nachdenkens« in Steiners Buch über die »Mystik« vor, »aber nur dort, wo Steiner die Auffassungen von ›Mystikern‹ referiert«. Christus auch dort zu erkennen, wo sein Name nicht genannt wird, setzt mehr, als ein dogmatisches Verständnis voraus. Über diese »Mystiker« (zu denen Steiner unter anderem Hegel zählt!) heißt es im einführenden Kapitel: »Gemeinsam ist diesen Geistern ein starkes Gefühl dafür, dass in der Selbsterkenntnis des Menschen eine Sonne aufgeht, die noch etwas ganz anderes beleuchtet als die zufällige Einzelpersönlichkeit des Betrachters. Was Spinoza in der Ätherhöhe des reinen Gedankens zum Bewusstsein gekommen ist, dass ›die menschliche Seele eine zureichende Erkenntnis von dem ewigen und unendlichen Wesen Gottes‹ hat, das lebte in ihnen als unmittelbare Empfindung; und die Selbsterkenntnis war ihnen der Pfad, zu diesem ewigen und unendlichen Wesen zu dringen.« Und der Mensch, der durch die Selbsterkenntnis zur »Selbsterweckung«, zur »Umwandlung seines ganzen Wesens« gelangt, der vermag aus Erfahrung zu sagen: »Wer die Dinge in solcher Art erkennt, der verwandelt sich in sich selbst; denn sein einzelnes Ich wird in solchen Augenblicken aufgesogen von dem All-Ich; alle Wesen erscheinen nicht in untergeordneter Bedeutung einem einzelnen beschränkten Individuum; sie erscheinen sich selbst. Es ist auf dieser Stufe kein Unterschied mehr zwischen Plato und mir; denn was uns trennt, gehört einer niederen Erkenntnisstufe an. Wir sind nur als Individuum getrennt; das in uns wirkende Allgemeine ist ein- und dasselbe. ... Dass diese Zweiheit, dass alle Vielheit als Einheit wiedergeboren wird in dem Aufleben der höchsten Erkenntnisstufe: das kann nicht bewiesen, das muss erfahren werden.« (S.31-32) »Und nennt man das höchste, das dem Menschen erreichbar ist, das Göttliche, dann muss man sagen, dass dieses Göttliche nicht als ein Äußeres vorhanden ist, um bildlich im Menschengeiste wiederholt zu werden, sondern dass dieses Göttliche im Menschen erweckt wird. Dafür hat Angelus Silesius die rechten Worte gefunden: ›Ich weiß, dass ohne mich Gott nicht ein Nu kann leben; werd' ich zu nicht, er muss vor Not den Geist aufgeben.‹« »Als geistiger Inhalt« so Steiner, »kommt der innerste Kern der Welt in der Selbsterkenntnis zum Leben. Das Erleben der Selbsterkenntnis bedeutet für den Menschen Weben und Wirken innerhalb des Weltenkernes.« (S. 34-35)

In der Schrift über das »Christentum ...«, so Zander, »... ist Jesus in die theosophische Weltanschauung integriert. Er gilt nun als ein Eingeweihter – und nicht als Christus ...«.

Um bereits zitierte Sätze hier noch einmal zu zitieren:

In der ersten Auflage des genannten Buches heißt es auf S. 87:

»Jesus ist Logos selbst, persönlich geworden. In ihm ist das Wort Fleisch geworden.«

Und auf S. 104:

Jesus »ist das lebendige Wort, in ihm ist Person geworden, was uralte Tradition war. Und der Evangelist darf das mit dem Satze aussprechen: in ihm ist das Wort Fleisch geworden.«

Und auf S. 111:

»Das Lamm, das erwürget war, und das Gott erkauft hat mit seinem Blute, der Jesus, der den Christus in sich gebracht hat, der also im höchsten Sine durch das Lebens-Todes-Mysterium gegangen ist, öffnet das Buch [mit den sieben Siegeln].«

»Nebensächlich«, so Zander, ist das Christentum noch 1905 in Steiners Aufsätzen über den Erkenntnispfad, wo es nicht einmal in Beispielen eine Rolle spielt.

Erinnern wird uns daran, welche zentrale Rolle die Entwicklung der Demut auf dem Schulungsweg spielt: »Wenn wir nicht das tiefgründige Gefühl in uns entwickeln, dass es etwas Höheres gibt, als wir sind, werden wir auch nicht in uns die Kraft finden, uns zu einem Höheren hinaufzuentwickeln. Der Eingeweihte hat sich nur dadurch die Kraft errungen, sein Haupt zu den Höhen der Erkenntnis zu erheben, dass er sein Herz in die Tiefen der Ehrfurcht, der Devotion geführt hat. Höhe des Geistes kann nur erklommen werden, wenn durch das Tor der Demut geschritten wird.« (GA 10, S.20) »Begegne ich einem Menschen und tadle ich seine Schwächen, so raube ich mir höhere Erkenntniskraft; suche ich liebevoll mich in seine Vorzüge zu vertiefen, so sammle ich solche Kraft ... Es genügt nicht, dass ich äußerlich in meinem Verhalten Achtung gegenüber einem Wesen zeige. Ich muss diese Achtung in meinen Gedanken haben.« »Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.« (Mt, 25,40)

Und wovon, wenn nicht von Christus spricht Steiner, wenn er die Erscheinung des »großen Hüters der Schwelle« beschreibt, dessen Identität mit Christus, dem »großen Erdenvorbild der Menschheit« er 1909 in der »Geheimwissenschaft im Umriss« enthüllen wird? (»Es verwandelt sich nämlich nunmehr dieser Hüter in der Wahrnehmung des Geistesschülers in die Christusgestalt ...«, GA 13, S. 394) »Ein unbeschreiblicher Glanz geht von dem zweiten Hüter der Schwelle aus; die Vereinigung mit ihm steht als ein fernes Ziel vor der schauenden Seele. Doch ebenso steht da die Gewissheit, dass diese Vereinigung erst möglich wird, wenn der Eingeweihte alle Kräfte, die ihm aus dieser Welt zugeflossen sind, auch aufgewendet hat im Dienste der Befreiung und Erlösung dieser Welt. Entschließt er sich, den Forderungen der höheren Lichtgestalt zu folgen, dann wird er beitragen können zur Befreiung des Menschengeschlechts. Er bringt seine Gaben dar auf dem Opfer-Altar der Menschheit. Zieht er seine eigene vorzeitige Erhöhung in die übersinnliche Welt vor, dann schreitet die Menschheitsströmung über ihn hinweg. Für sich selbst kann er nach seiner Befreiung aus der Sinnenwelt keine neuen Kräfte mehr gewinnen. Stellt er ihr seine Arbeit doch zur Verfügung, so geschieht es mit dem Verzicht, aus der Stätte seines ferneren Wirkens selbst für sich noch etwas zu holen. Man kann nun nicht sagen, es sei selbstverständlich, dass der Mensch den weißen Pfad wählen werde, wenn er so vor die Entscheidung gestellt wird. Das hängt nämlich ganz davon ab, ob er bei dieser Entscheidung schon so geläutert ist, dass keinerlei Selbstsucht ihm die Lockungen der Seligkeit begehrenswert erscheinen lässt. Denn diese Lockungen sind die denkbar größten. Und auf der anderen Seite sind eigentlich gar keine besonderen Lockungen vorhanden. Hier spricht gar nichts zum Egoismus. Was der Mensch in den höheren Regionen des Übersinnlichen erhalten wird, ist nichts, was zu ihm kommt, sondern lediglich etwas, das von ihm ausgeht: die Liebe zu seiner Mitwelt. Alles, was der Egoismus verlangt, wird nämlich durchaus nicht entbehrt auf dem schwarzen Pfade. Im Gegenteil: die Früchte dieses Pfades sind gerade die vollkommenste Befriedigung des Egoismus. Und will jemand nur für sich die Seligkeit, so wird er ganz gewiss diesen schwarzen Pfad wandeln, denn er ist der für ihn angemessene.« (S. 213-214)

Angeblich hat Steiner wesentliche Elemente seiner Christologie aus Annie Besants Buch »Esoterisches Christentum« geschöpft. Oder er hat sie aus der theologischen Literatur geschöpft. Das weiss nicht einmal Zander so genau ...

Auf S. 215 schreibt Zander:

»Für diese Vorstellung eines ›kosmischen Christus‹ gab es in der theosophischen Gesellschaft eine einschlägige Referenz: Annie Besant. Sie hatte diese Formulierung geprägt... Steiner hat sich nie zu der mutmaßlich hohen Bedeutung dieses Buches bekannt ... Steiner war damit in das Kraftfeld des theosophischen Christentums geraten ...«

Und auf S. 216:

»Mit solchen Positionen [der Gleichsetzung des Christus mit dem Logos] ... nähert sich Steiner den Themen der großkirchlichen Theologie an. Aber es ist schwer zu sagen, woran dies lag. Möglicherweise kam er in das Kraftfeld klassischen theologischen Bildungswissens, vielleicht las er theologische Literatur, er trat sicher in Kontakt mit Theologen, etwa mit dem liberalen Max Heinrich Christlieb.«

Besants Ausführungen über den kosmischen Christus sollen das Vorbild für Steiners Christuserkenntnis gewesen sein?

Es genügt ein Blick in Besants Buch, um diese Behauptung zu entkräften. Was schreibt Besant über den »kosmischen Christus«?

»Der mystische Christus ist also ein zweifacher – der Logos, die zweite Person der Dreieinigkeit, welche in die Materie hinabsteigt und die Liebe oder zweite Seite des sich entfaltenden göttlichen Geistes im Menschen. Der eine stellt kosmische Vorgänge dar, die in der Vergangenheit sich zugetragen haben, und gibt die Veranlassung zu dem Sonnenmythos, Der andere stellt einen sich im Individuum abspielenden Vorgang dar, die abschließende Stufe in seiner menschlichen Entwicklung, und er fügte der Mythe viele Einzelheiten hinzu. Beide haben zu der Evangeliengeschichte mit beigetragen und bilden zusammen die Gestalt des ›Mystischen Christus‹.

Zunächst wollen wir den kosmischen Christus betrachten, die Gottheit, welche sich in die Materie einhüllt, das Inkarnieren des Logos, das ›Fleisch‹-werden Gottes.

Wenn die Materie, welche unser Sonnensystem bilden soll, von dem unendlichen, den Raum erfüllenden Ozean der Materie getrennt wird, ergießt die dritte Person der Dreieinigkeit, der Heilige Geist, sein Leben in diese Materie, um sie zu beleben, damit sie nun Gestalt annehmen kann. Dann wird sie zusammengezogen und ihr Form erteilt durch das Leben des Logos, der zweiten Person der Dreieinigkeit, der Sich opfert, indem er Sich den Schranken der Materie unterwirft und ›der himmlische Mensch‹ wird, in dessen Körper alle Formen existieren, von dessen Körper alle Formen einen Teil bilden. Dies war die kosmische Geschichte, die in den wahren Mysterien dramatisch vorgeführt wurde ... Diese Schöpfungsvorgänge werden in der Bibel deutlich erwähnt; als ›der Geist Gottes schwebete auf dem Wasser‹ ...

Erst nachdem diese Arbeit des Geistes vor sich gegangen ist, kann der Logos, der kosmische, mystische Christus, Sich in die Materie einkleiden, indem Er in Wahrheit in dem Schoß der Jungfrau Wohnung nimmt, in dem Schoß der noch jungfräulichen, unfruchtbaren Materie. Diese Materie war von dem Heiligen Geiste belebt worden, der, die Jungfrau überschattend, Sein Leben der Materie einflößte und sie so vorbereitete, das Leben des zweiten Logos zu empfangen, der diese Materie als Trägerin Seiner Kräfte benutzte. Das ist der Vorgang der Inkarnation Christi, der Fleischwerdung ... Dies ist das Herabsteigen des Logos in die Materie, welches als Geburt Christi in einer Jungfrau beschrieben wird, und dies wird im Sonnenmythus zur Geburt des Sonnengottes bei dem Erscheinen des Zeichens Virgo.« (Besant, »Esoterisches Christentum«, 1903, S. 127-129)

Laut Besant ist die Fleischwerdung des Wortes zunächst die Entstehung des Adam Kadmon, des »himmlischen Menschen«, von der auch das 1. Buch Mose berichtet, alsdann das Herabsteigen desselben Logos in die jungfräuliche Materie, Mariae Empfängnis die Fleischwerdung dieses Logos, wobei diese »Empfängnis« gleichzeitig eine historische und eine allegorische Bedeutung hat.

Deutlich unterscheiden sich hiervon Steiners Erkenntnisse über den kosmischen Christus. Die Empfängnis Jesu war nicht die Geburt Christi. Durch Maria wurde ein Mensch geboren. Jesus war Mensch, wenn auch ein außergewöhnlicher Mensch. Der kosmische Christus, der hohe Sonnengeist, trat erst mit der Taufe am Jordan in Jesus von Nazareth ein, in jenem Moment, als aus dem Himmel die Stimme ertönte: »Dieses ist mein vielgeliebter Sohn, heute habe ich ihn gezeugt«.

Diese Erkenntnis trug Steiner erstmals 1908 in seinen Vorträgen über das Johannes-Evangelium in Hamburg vor:

»Nun aber haben wir es bei dem Ereignis von Palästina nicht bloß zu tun mit dieser hochentwickelten Persönlichkeit des Jesus von Nazareth, die viele Inkarnationen durchgemacht und sich so hoch entwickelt hatte, dass sie eine so hervorragende Mutter brauchte, sondern wir haben es noch mit einem zweiten Mysterium zu tun.

Als der Jesus von Nazareth dreißig Jahre alt war, war er auch noch durch das, was er in seiner damaligen Inkarnation erlebt hatte, so weit gekommen, dass er einen Prozess vollziehen konnte, der in Ausnahmefällen vollzogen werden kann. Wir wissen, dass der Mensch besteht aus physischem Leib, Ätherleib, Astralleib und Ich. Dieser viergliedrige Mensch ist der Mensch, der unter uns lebt. Wenn der Mensch auf einer gewissen Entwickelungshöhe steht, ist es ihm möglich, in einem bestimmten Zeitpunkt sein Ich herauszuholen aus den drei Leibern und diese intakt als vollkommen heile Leiber zurückzulassen. Dieses Ich geht dann in die geistige Welt, und die drei Leiber bleiben zurück. Diesem Prozess begegnen wir zuweilen in der Weltenentwickelung. Bei irgendeinem Menschen tritt es ein, dass ein besonders hoher, entrückter Augenblick da ist, der unter Umständen sich auch über einen längeren Zeitraum ausdehnen kann. Da geht das Ich fort, geht in die geistige Welt; und weil die drei Leiber so hoch entwickelt sind durch das Ich, das in ihnen war, sind sie brauchbare Werkzeuge für eine noch höhere Wesenheit, die von ihnen Besitz nimmt.

Im dreißigsten Jahre des Jesus von Nazareth nimmt nun von dessen physischem Leibe, Ätherleibe und Astralleibe dasjenige Wesen Besitz, das wir den Christus genannt haben. Dieses Christus-Wesen konnte sich nicht in einem gewöhnlichen Kindesleibe inkarnieren, sondern nur in einem Leibe, der erst durch ein hochentwickeltes Ich dazu vorbereitet war. Denn dieses Christus-Wesen war vorher noch niemals in einem physischen Leibe inkarniert gewesen. Von dem dreißigsten Jahre ab haben wir es also mit dem Christus im Jesus von Nazareth zu tun.

Was war da eingetreten in Wahrheit? In Wahrheit war diese Leiblichkeit des Jesus von Nazareth, die er zurückgelassen hatte, so reif, so vollendet, dass in sie eindringen konnte der Sonnenlogos, das Wesen der sechs Elohim, wie wir es beschrieben haben als das geistige Wesen der Sonne. Es konnte sich für drei Jahre in dieser Leiblichkeit inkarnieren, konnte Fleisch werden. Der Sonnenlogos, der hineinscheinen kann durch die Erleuchtung in den Menschen, er selbst, der Heilige Geist, tritt ein, das Welten-Ich, das kosmische Ich tritt ein, und es spricht fortan der Sonnenlogos in diesen drei Jahren aus dem Jesuskörper. Der Christus spricht aus dem Jesuskörper die drei Jahre hindurch. Dieser Vorgang wird angedeutet im Johannes-Evangelium und auch in den anderen Evangelien als das Herabsteigen der Taube, des Heiligen Geistes auf den Jesus von Nazareth. Im esoterischen Christentum wird das so gesagt, dass in diesem Augenblicke das Ich des Jesus von Nazareth dessen Körper verlässt und dass in ihm fortan der Christus-Geist ist, der aus ihm spricht, um zu lehren und zu wirken.« (GA 103, 31.05.1908, S. 206 f.)

Zander behauptet nicht nur, Steiner habe seine Christologie bis zu einem gewissen Grad aus Annie Besants »Esoterischem Christentum« geschöpft, er behauptet auch, Steiner habe deren Buch als Schlüsseltext »gepriesen« (S. 215).

Zander spielt hier auf den langen Aufsatz Steiners über »Einweihung und Mysterien« an, der in mehreren Folgen von Juli bis September 1903 in der »Luzifer-Gnosis« erschien. Bei diesem Text handelt es sich in der Tat um einen »Schlüsseltext« für das Verständnis Steiners und seines Zugangs zum Christentum. Er geht in diesem Aufsatz nicht nur auf Annie Besant ein, sondern auch auf Edouard Schurés Buch über die »großen Eingeweihten«.

Hören wir, was er über beide sagt:

»Schuré deutet darauf hin, wie durch den Stifter des Christentums in der Form, dass es die Ohren der Menschheit hören konnten, die Weisheitskräfte der Mysterien in die geistigen Adern der Menschheit gegossen worden sind. – Und auf den Wegen, die Schuré darstellt, ist auch auf diesem Gebiete die Wahrheit zu suchen. – Die Kraft, die von Jesu Persönlichkeit ausstrahlt, ist lebendige Kraft in den Herzen aller derer, die sie in sich strömen lassen. Verstehen kann das lebendige Wort, das in dieser Kraft wirkt, nur, wer sich durch das Verständnis der Mysterienweisheit den Schlüssel zu diesem Worte holt. Und dazu gibt, soweit möglich, Annie Besants ›Esoterisches Christentum‹ die Grundlage. Es ist ein Buch, durch das der verborgene Sinn der Bibelworte sich für den hingebungsvollen Leser enthüllt.

In unserer Zeit sind solche Schlüsselbücher notwendig. Die Menschheit war in einem anderen Zustand als dem gegenwärtigen, als sie das Evangelium, die ›frohe Botschaft‹ erhielt. Heute hat der Verstand eine ganz andere Schulung als vor neunzehn Jahrhunderten. Heute kann der Mensch die lebendige Kraft des »offenbaren Wortes« nur erleben, wenn er mit seiner Urteilsfähigkeit diese Kraft erfassen kann. Aber was wahr ist, bleibt ewig wahr; auch wenn die Art, wie es der Mensch erfassen muss, sich im Laufe der Zeiten ändert. Dass heute der Verstand, die Urteilsfähigkeit ihre Rechte geltend machen, ist eine Notwendigkeit; der Kenner der Menschheitsentwickelung weiß, dass das so sein muss. Deshalb gibt er heute dem Verstande, was vor Jahrhunderten anderen Seelenkräften gegeben worden ist. – Aus dieser, und aus keiner anderen Erkenntnis heraus sollte der wahrhafte Theosoph wirken. Annie Besants »Esoterisches Christentum« will so aufgefasst werden.

Der Theosoph weiß, dass im Christentum die Wahrheit ist. Und er weiß auch, dass Jesus, in dem der Christus verkörpert war, kein Führer der Toten ist, sondern ein Führer der Lebendigen. Er versteht das große Meisterwort: Ich bin bei euch alle Tage bis ans Ende. An den lebendigen Führer, nicht an den der geschichtlichen Berichte wendet sich zuerst, wer so wie Annie Besant das Christentum erklären will. Was das ›lebendige Wort‹ noch heute dem Ohre verkündet, das lauschen will: das strahlt dann ein in die Evangelienberichte. Jawohl, er ist dageblieben bis heute, der Kündiger des Wortes, und er kann uns selbst sagen, wie wir den Buchstaben zu erfassen haben, der von seinen Taten und Reden berichtet. Esoterisch sollen die ›frohen Botschaften‹ erfasst werden, das heißt, erst muss in unserem Innern die lebendige Kraft erwacht sein, die ihnen den Stempel des ›Heiligen‹ aufdrückt. Und weil der Verstand, die Urteilskraft die großen Mittel der gegenwärtigen Kultur sind, müssen sie befreit werden aus den Banden der bloß sinnlichen Erfassung, des rein handgreiflichen Verstehens der Wirklichkeit. Der Verstand der Gegenwartsmenschheit muss selbst eintauchen in das Meer, das ihn mit wahrer Frömmigkeit erfüllt. Denn es ist nicht richtig, dass der kluge Verstand nur die ›Illusionen‹ zerstört, die der religiöse Sinn um die Dinge gewoben hat. Das vollbringt nur derjenige Verstand, der geblendet ist und festgebannt von den Erfolgen, die er in der Erkenntnis und Beherrschung der rein materiellen Naturkräfte erlangt hat.« (GA 34, S. 63 ff.)

Annie Besant bietet also eine Grundlage, so weit es ihr möglich ist. Aber Steiner fährt fort: »Der Theosoph weiß, dass im Christentum die Wahrheit ist. Und er weiß auch, dass Jesus, in dem der Christus verkörpert war, kein Führer der Toten ist, sondern ein Führer der Lebendigen. Er versteht das große Meisterwort: Ich bin bei euch alle Tage bis ans Ende ... Jawohl, er ist dageblieben bis heute, der Kündiger des Wortes, und er kann uns selbst sagen, wie wir den Buchstaben zu erfassen haben, der von seinen Taten und Reden berichtet. Esoterisch sollen die ›frohen Botschaften‹ erfasst werden, das heißt, erst muss in unserem Innern die lebendige Kraft erwacht sein, die ihnen den Stempel des ›Heiligen‹ aufdrückt.«

Wovon spricht Steiner hier? Kann man seine Ausführungen anders verstehen, als dass er von seiner Beziehung zum Führer der Lebendigen spricht, der in dem Jesus verkörpert war? Vom Kündiger des lebendigen Wortes, der dageblieben ist, der heute zu den Menschen spricht, der sie lehrt, die Evangelien neu, aus esoterischer Erfahrung, zu verstehen? Aber dieses neue Verständnis setzt voraus, dass in unserem Innern die lebendige Kraft erwacht ist, die ihnen den Stempel des ›Heiligen‹ aufdrückt!

Im August und September 1904 führte Steiner mit dem Theosophen und esoterischen Schüler Günter Wagner eine Diskussion darüber, ob Vorträge Annie Besants über die »christliche Frage« ins Deutsche übersetzt werden sollten.

Steiner lehnte eine solche Übersetzung ab. Man kann diese Ablehnung zwanglos mit seiner Kenntnis des Buches von Besant über das »Esoterische Christentum« in Beziehung bringen. In einem dieser Briefe betont Steiner am 14. September 1904, er habe die »Weisung«, das christliche Element zu pflegen und habe diese Weisung so interpretieren müssen, dass der Text Annie Besants nicht übersetzt werden solle. (GA 264, 1984, S. 83.)

In seiner Rezension der dann doch bei Max Altmann erschienenen Übersetzung, die er in »Luzifer-Gnosis« veröffentlichte, schreibt Steiner jedenfalls: »Hätte Annie Besant vor einem Publikum gesprochen, das in seiner Mehrzahl aus Christen bestanden hätte, so würde sie allerdings die Vorträge anders eingerichtet haben. Dessenungeachtet wird auch jeder Angehörige eines europäischen Volkes, der sich in diese Vorträge vertieft, reichlich Nahrung finden für Vernunft und Herz. Und dass sie ihre Betrachtungen von einem Gesichtspunkte anstellen, der nicht unmittelbar der seinige ist, wird nur zur Erweiterung seines eigenen Gesichtskreises beitragen.« (GA 34, 1987, S. 505.)

Steiner betont also im August 1904, dass der »Gesichtspunkt« Annie Besants »nicht der seinige« ist.

Aufschlussreich zu dieser Frage ist ein Brief, den Marie Steiner im August 1907 von einer Italienreise mit Rudolf Steiner an Edouard Schuré schrieb, in dem sie einige Bemerkungen Annie Besants über ihr Buch zum »Esoterischen Christentum« mitteilte und zugleich ein anderes Geheimnis enthüllte (der Brief wurde erst im Jahr 2002 in der Gesamtausgabe veröffentlicht).

»Dies ist fast der Moment, wo ich Ihnen gerne von seiner [Steiners] vorhergehenden Persönlichkeit sprechen würde. Ich hätte dazu gewiss kein Recht, wenn er es mir selbst mitgeteilt hätte. Und ich finde es äußerst geschmacklos, von diesen Dingen so zu sprechen, wie es gewisse Theosophen tun, oberflächlich und als Unterhaltung. Man erzählt diese Dinge nicht, aber in bestimmten Augenblicken und zu intimen Freunden kann man sie sagen, die Last einer großen Verantwortung empfindend, wie ich sie empfinde. Ich weiß, dass ein unangebrachtes Vertrauen in diesem Punkt sehr unheilvoll sein würde.

Es ist mir wie eine Offenbarung gegeben worden, mit einer Sicherheit und einem Licht, die jeden Zweifel ausschließen, und ohne dass ich es gesucht hätte, in einem Moment, wo ich nicht darauf gefasst war, während der Lektüre des Buches ›Esoterisches Christentum‹ von Mrs. Besant. Es hat zu mir gesprochen und es war so blendend, dass ich sogar die Hand vor die Augen halten musste. Mrs. Besant, die ich befragte, sagte mir, dass es ›the Master Jesus‹ gewesen sein musste, denn das Buch ist nicht von ihr geschrieben worden, sondern durch Inspiration. Sie musste es schreiben, und ich glaube, dass sie ein unzureichendes Medium gewesen ist, denn, wie sie mir mehrmals gestanden hat – (ich habe insistiert): ›Christianity is not my line‹.

Und wirklich, sie ist es durchaus nicht. Es ist als ob sie nicht mehr klar sehen würde, wenn es sich um die großen Wahrheiten des Christentums, um seine Sendung und um seine einzigartige Rolle handelt. Und wenn sie mitten in ihren Vorträgen große, lapidare Worte über das Christentum sagt, Worte die einen Widerhall finden, so ist es als ob sie dazu getrieben wäre und sie sich hinterher nicht mehr daran erinnerte. So hat sie auf unserem Kongress von dem Christus gesagt: ›The Master to whom the masters look up, the Teacher from whom the teachers learn ...‹, aber in den Einzelheiten zieht sie nicht die Folgerungen aus diesen Worten, – und mit einem seltsamen Schauder, der mir psychologisch hochinteressant war, sagte sie mir: ›You know, when I have been born into christianity it was only to fight against it ... and to be killed!‹ –

Nun aber, der größte Lehrer in der Wissenschaft vom Christentum ist unter uns; es ist Herr Steiner, und es ist St. Thomas von Aquin, dessen universelles Wissen vermehrt wurde um die Wissenschaft der Reinkarnation, zwar früher schon besessen, aber für eine gewisse Zeit verhüllt wegen der besonderen Mission des Christentums.

Was ich so intim erfahren habe, ist mir bestätigt worden, sowohl durch Herrn Steiner, der ganz erschrocken war, – (es war im ersten Jahr unserer gemeinsamen Arbeit, und ausgenommen einige wenige Worte, die er mir bei dieser Gelegenheit sagte, spricht er niemals von diesen Dingen, die ihn betreffen, und niemals frage ich danach) - als auch durch tausend Einzelheiten. Ein Zweifel wäre gewiss zerstörend gewesen, aber niemals konnte mir der Schatten eines Zweifels kommen.

... So wenig leicht ist es mir, dieses Stück aus der Seele zu reißen, dass ich bis jetzt gezögert habe, den Brief abzusenden. Und doch fühle ich, dass ich es Ihnen sagen soll. Aber es ist, wie wenn man sich ein Glied ausreißen würde. Es muss wohl verstanden sein, dass dies nur für Sie gesagt ist. Und ich bitte Sie sogar, diesen Brief zu vernichten. Einmal, wie nebenbei, haben Sie mich auf einem Spaziergang danach gefragt und da konnte ich Ihnen nicht antworten. Schon äußerlich ist der Zeitpunkt am ungünstigsten, um den Wert dieser Inkarnation zu verstehen. In protestantischen Ländern könnten sich absurde Spekulationen daran anschließen. Und die Theosophen, zu sehr indisch, würden das Gespenst des Katholizismus wittern. Was die Größe dieses spirituellen Schrittes bedeutet, wer ist denn da, um es zu verstehen? Wenn Sie es nicht sind, vielleicht. Die vollkommene Synthese aller Wissenschaften zu sein, verstandesmäßig alles zu umfassen, was vom Verstand erfasst werden kann, es dann in die reinste Spiritualität zu erheben, es dort niederzulegen wie in einen edlen Kelch, es ist dies ein Ton, der in dieser Vollkommenheit auch nur einmal angeschlagen werden kann.

Und davor, vor dem 13. Jahrhundert, noch ungetrübt, ist da Alexandria, da ist Philo als Lehrer und dann Johannes der Evangelist, – da ist das Rom der Cäsaren, das Rom, das erschaudern macht, – aber nicht wie bei Mrs. Besant mit einem noch persönlichen Schaudern – es ist in keiner Weise äußerlich, aber es verschließt das Gesicht, und auf dem Grunde der Seele geschieht etwas, was die Vision unzählbarer Schmerzen und namenloser Grausamkeiten sein muss.« (GA 262,  S. 190 f).

Für den Fall, dass seine Hypothese, Steiner habe seine Christologie aus Besant geschöpft, nicht verfängt, bietet Zander gleich eine zweite, noch groteskere an: er habe sie aus dem »klassischen theologischen Bildungswissen« geschöpft bzw. von zeitgenössischen Theologen übernommen. Nun waren die theologischen Vertreter der Großkirchen zu Steiners Zeiten einhellig der Meinung, seine Christologie sei ketzerisch, weswegen Steiners Werke auch auf den Index gesetzt wurden. Auch die protestantische Theologie stand Steiner feindselig gegenüber. Diejenigen – hauptsächlich protestantischen – Theologen hingegen, die – wie zum Beispiel Friedrich Rittelmeyer oder Emil Bock – erkannten, dass die Großkirchen die religiösen Bedürfnisse der Gegenwart nicht mehr befriedigten, wandten sich an Steiner, um ihr Christentum durch ihn mit neuem Inhalt erfüllen zu lassen.

Wie erschien einem protestantischen Theologen Steiners Theosophie auf den ersten Blick? Hören wir Friedrich Rittelmeyer (»Meine Lebensbegegnung mit Rudolf Steiner«, 1953):

»Nur wenig hatte ich bisher aus dieser Welt erfahren. Was sich dagegen regte, war ein ausgesprochener Widerwille. Ein Wust von unbegründeten Behauptungen, ein vorwitziges und voreiliges Hineinstarren in geheimnisvolle Geisthintergründe der Welt, langweilig und lähmend, eine echte Verfallserscheinung von durcheinandergemischten Orientalismus und Christentum, nicht bestehend vor ernsteren geistigen Ansprüchen, unerträglich dem wahren religiösen Empfinden, frech, kalt und sensationslüstern: – so schien es mir.« (S. 12)

Und wie erschien sie ihm auf den zweiten Blick?

»Nachdem ich zwanzig Jahre lang die Meinungen der protestantischen Theologen sowohl auf orthodoxer wie auf liberaler Seite mitangehört hatte, konnte ich mir ein Urteil darüber zutrauen, ob die Mitteilungen Rudolf Steiners, der ja nicht einmal aus einer theologischen Schule kam, ernst zu nehmen sind. ›Es ist der Wille der geistigen Welt, dass die Menschheit jetzt mehr darüber erfährt. Es wird sich schon herausstellen, wozu das gut ist.‹ Wenn ich die immer öder und hilfloser werdenden Schilderungen der Theologen vom Leben Jesu zur Hand nehme und sie mit den Schilderungen Rudolf Steiners vergleiche, so sehe ich etwas von diesem ›Willen der geistigen Welt‹. Aber die Theologie lebt weiter, als ob nichts geschehen wäre.« (S. 59)

»Wann werden die christlichen Theologen in größerer Zahl einsehen, dass hier der einzige Weg zur Rettung des Christentums ist? Dass das Christentum im andern Fall entweder seiner Auflösung entgegengeht durch das verdunkelte Denken oder ins Orthodoxe und weiterhin ins Katholische zurücksinkt durch das halbe Denken? ...

Wenn man mich heute fragte: Warum bist du Anthroposoph? – so würde ich erwidern: Nicht weil ich alles durch eigne Forschung nachprüfen konnte, was Rudolf Steiner gesagt hat – davon kann nicht die Rede sein – , aber weil ich in dem wenigen, was ich nachprüfen konnte, immer nur und allmählich immer mehr überraschende Bestätigungen fand. Nicht weil ich die Forschungsergebnisse der ›Geisteswissenschaft‹ in Bausch und Bogen auf Treu und Glauben annehmen könnte, aber weil sie mir über sehr viele Gebiete ein überzeugendes Licht verbreitet haben, über die sonst kein Licht zu erhalten war. Nicht weil ein neuer Papst neue Dogmen aufgestellt hätte, aber weil ein Vorangeschrittener der Menschheit Wirklichkeiten sah, bei denen es sich immer als gut erwies, wenn man mit ihnen auch als Möglichkeiten rechnete und lebte. Nicht weil ich außer Steiner in meinem Leben keinen Menschen kennengelernt hätte, der geistig bedeutend gewesen wäre, aber weil ich einfach vor mir sehe, wie Rudolf Steiner sie alle überragte ... Vor allem: weil hier ein Weltbild da ist, mit dem das Christentum leben und in die Zukunft gehen kann, und weil das Christentum ohne ein solches Weltbild auf die Dauer nicht in höherem Sinn ehrlich auf der Erde leben kann ...

Die Anthroposophie ist mir eine Menschheitstat, die aus dem Materialismus endgültig herausführt, ein geistiges Erlösungswerk, das von Mitteleuropa aus de ganze Menschheit ergreifen will, eine Rettung des Christentums aus dem geläuterten Forschergeist der Zeit heraus, ein wirkliches lebendiges Wort Christi an die Gegenwart, das gerade nötig war, wenn die Menschheit nicht zugrunde gehen sollte.« (S. 125-127)

»Rudolf Steiner«, so Rittelmeyer in einem Aufsatz 1925, »war der erste Christ von allen, die wir kennen, dem der Himmel auf der Erde offen stand ... Geheimnisse hoch über seinem Geist gab es natürlich auch für ihn in Fülle. Niemand wusste besser als er, wie reich an für uns noch unerreichbaren Höhen der Himmel ist. Aber doch waren ihm die göttlichen Geheimnisse in wahrhaft unerhörter Fülle aufgetan ...

Hätte ich keinen andern Beweis für den Wirklichkeitsernst dessen, was Rudolf Steiner verkündigte, so wäre mir von erschütternder Überzeugungskraft die Art, wie er von Christus sprach. Es sind die stärksten und tiefsten Eindrücke, die ich in der Erinnerung an ihn habe. Da war Christus absoluteste Realität. Mit der größten Ehrfurcht, aber ohne jeden Hauch von gefühligem oder angezwungenem Wesen wurde von ihm gesprochen. Er war eben da, wirklich da, sodass die Erinnerung an solche Stunden ein unvergessliches Bild dafür ist, wie Christus als der göttliche Helfer der Menschheit gegenwärtig sein kann. Alles religiöse Reden, das ich vorher gehört hatte, erschien mir unwahr oder mindestens unwesenhaft neben der Art, wie Steiner über diese Welt sprach ...

Das Vorbild wahrer Andacht ist mir Rudolf Steiner. Man schämt sich für die Menschheit wenn man immer wieder lesen muss, dass ihm von ›Frommen‹ Gottlosigkeit vorgeworfen wird, weil ihm das Wort Gott nicht so glatt über die Lippen ging wie ihnen. Für den, der wirklich religiöse Empfindungen hat, ist jeder Satz, den Steiner über die höhere Welt gesprochen hat, in eine tiefe Gottgläubigkeit eingetaucht.« (Ebenda, Ausgabe 2015, S. 223 f.)

Nach der Vereinbarung über die Trennung der östlichen und westlichen esoterischen Schule zwischen Besant und Steiner auf dem Münchner Kongress 1907 hielt letzterer die Vortragsreihe »Die Theosophie des Rosenkreuzers«. In ihr vermag Zander »inhaltlich wenig Neues« zu erkennen.

Auf S. 216 schreibt Zander:

»Der nächste Vortragszyklus, mit dem er am Tag nach Besants Abreise ... begann ... hieß ›Die Theosophie des Rosenkreuzers‹. Inhaltlich gab es wenig Neues, nur am Ende kam Steiner kurz auf die Rosenkreuzer zu sprechen, 1907 blieb Steiners Rosenkreuzertheosophie eine Theoriehülse.«

Nur am Ende kam Steiner kurz auf die Rosenkreuzer zu sprechen?

Steiner begann seine Vortragsreihe mit folgenden Worten:

»Was hier vorgebracht werden soll, das wird in der Ankündigung ›Theosophie nach rosenkreuzerischer Methode‹ genannt. Damit ist gemeint die eine uralte und immer neue Weisheit in einer unserer Gegenwart angemessenen Methode, in einer Methode die man eigentlich, so wie sie sich hier in der Art der Darstellung ausrücken wird, seit dem vierzehnten Jahrhundert kennt.« (GA 99, S. 11)

Steiner erhob also gar nicht den Anspruch »inhaltlich viel Neues« zu bieten. Das Neue war vielmehr die Methode der Darstellung »einer uralten und immer neuen Weisheit«. Wollte man das Neue finden, das diese Vortragsreihe gegenüber der alten Theosophie zu bieten hat, müsste man die Methode der Darstellung untersuchen. Diese Methode der Darstellung wiederum bedingt die Methode des Zugangs zu dieser uralten Weisheit. Und über diese lässt sich Steiner in seinem ersten Vortrag grundsätzlich aus. Die »rosenkreuzerische Methode« betrifft das Verhältnis des modernen Menschen zur okkulten Weisheit. Sie stützt sich auf die beiden wesentlichen Errungenschaften der Moderne: das aufgeklärte Denken und das autonome, selbstbestimmte Subjekt.

»Nun möchte ich Ihnen zwei charakteristische Dinge angeben, welche die rosenkreuzerische Weisheit auszeichnen und die wichtig sind für ihre Weltmission. Das eine hängt zusammen mit des Menschen ganzer Stellung zu dieser rosenkreuzerischen Weisheit, die etwas anderes ist als die okkulte Form der christlich-gnostischen Weisheit. Wir müssen zwei Tatsachen des Geisteslebens vorläufig nur flüchtig berühren, wenn wir uns diese merkwürdige Stellung der rosenkreuzerischen Weisheit klar vor die Seele führen wollen. Die erste dieser zwei Tatsachen ist, was man die Stellung des Schülers zu dem Lehrer nennt, und zwei Dinge haben wir zu betrachten in bezug auf diese Stellung. Wir wollen besprechen erstens das, was man Hellsehen nennt, und zweitens das, was man Glauben an die Autorität nennt.« (GA, S. 14)

»Nun«, fährt Steiner fort, »ist für die Rosenkreuzer-Methode ein wesentlicher Unterschied zwischen dem Auffinden der geistigen Wahrheiten und dem Begreifen derselben.

Niemand kann eine geistige Wahrheit direkt in den höheren Welten finden, der nicht einen höheren Grad spiritueller Fähigkeit - also des Hellsehens - entwickelt hat. Für das Auffinden der spirituellen Wahrheit ist das Hellsehen die notwendige Voraussetzung. Aber auch nur für das Auffinden, denn bis heute und auch bis lange in die Zukunft hinüber wird von keiner wahren Rosenkreuzerei exoterisch etwas gelehrt werden, was nicht mit dem gewöhnlichen, allgemeinen logischen Verstande begriffen werden kann. Das ist es, worauf es ankommt.

Wenn gegenüber dieser rosenkreuzerischen Form von Theosophie eingewendet wird, man gebrauche zum Begreifen Hellsehen, so ist das nicht richtig. Nicht die Fähigkeit des Wahrnehmens ist es, worauf es ankommt. Wer die rosenkreuzerische Weisheit nicht mit dem Denken begreifen kann, der hat nur seinen logischen Verstand noch nicht weit genug ausgebildet. Wenn man alles in sich aufnimmt, was die gegenwärtige Kultur gibt, was man heute erlangen kann, wenn man nur Geduld und Ausdauer hat und nicht zu bequem ist, um zu lernen, dann kann man begreifen und einsehen, was der Rosenkreuzer-Lehrer lehrt.

Wer irgendwie eine solche Rosenkreuzer-Weisheit anzweifelt und sagt: Ich kann sie nicht begreifen –, bei dem ist nicht daran schuld, dass er noch nicht auf die höheren Plane hinauf kann, sondern dass er seinen logischen Verstand nicht genug anstrengen will, oder dass er nicht genügend Erlebnisse des gewöhnlichen Bildungslebens herbeitragen will, um wirklich zu begreifen.«

Und die zweite »Neuigkeit« betrifft das Verhältnis zwischen Lehrer und Schüler:

»Die zweite Seite in der rosenkreuzerischen Weisheit – in der Stellung zwischen Lehrer und Schüler – ist die, dass im wesentlichen das Verhältnis vom Schüler zum «Guru», dem orientalischen Lehrer, gegenüber den anderen Einweihungen ein anderes ist. Die Art und Weise, wie der Schüler dem Guru gegenübersteht, kann eigentlich innerhalb der rosenkreuzerischen Weisheit gar nicht mit dem Glauben an eine Autorität bezeichnet werden. Durch ein Beispiel aus dem gewöhnlichen Leben werde ich Ihnen das anschaulich machen. Der Rosenkreuzer-Lehrer will nicht anders zu seinem Schüler stehen als der kundige Mathematiker zu dem Mathematikschüler. Kann man davon sprechen, dass der Mathematikschüler seinem Lehrer aus Autoritätsglauben anhängt? Nein! Kann man davon sprechen, dass der Mathematikschüler den Lehrer nicht braucht? Ja – könnten da viele sagen, denn man hat vielleicht durch gute Bücher den Weg zum Selbststudium gefunden. Aber hier ist nur der Weg ein anderer, als wenn man sich Stuhl an Stuhl gegenübersitzt. Im Prinzip könnte man es natürlich. Ebenso könnte auch jeder Mensch, wenn er zu einer gewissen Stufe des Hellsehens aufsteigt, alle spirituellen Wahrheiten finden, aber ein jeder wird es unvernünftig finden, das Ziel auf einem Umweg zu erreichen. Ebenso unvernünftig wäre es zu sagen: Mein Inneres muss die Quelle sein für alle spirituellen Wahrheiten. –

Wenn der Lehrer die mathematischen Wahrheiten kennt und sie dem Schüler überliefert, dann braucht der Schüler keinen Autoritätsglauben mehr, dann sieht er die mathematischen Wahrheiten durch ihre eigene Richtigkeit ein, und er braucht gar nichts anderes, als sie richtig einzusehen. Nicht anders ist es mit der ganzen okkulten Entwickelung im rosenkreuzerischen Sinne. Der Lehrer ist der Freund, der Ratgeber, der die okkulten Erlebnisse vorlebt und sie den Schüler leben lässt. Hat man sie einmal, dann braucht man sie ebensowenig auf Autorität hin anzunehmen, als in der Mathematik den Satz: Die drei Winkel eines Dreiecks sind 180 Grad. Alle Autorität ist in der Rosenkreuzerei keine eigentliche Autorität, sondern vielmehr das, was notwendig ist für die Abkürzung des Weges zu den höchsten Wahrheiten.«

Noch ein dritter Aspekt wird von Steiner hervorgehoben. Er betrifft das Verhältnis der spirituellen Weisheit zur Lebenspraxis. Erstere soll nämlich als werktätige Erkenntnis und werktätige Liebe in das alltägliche Handeln eingreifen.

»Die andere Seite ist die, welche sich auf das Verhältnis der spirituellen Weisheit zur allgemeinen geistigen Kultur bezieht. In den Darstellungen, die in den nächsten Tagen hier vorüberziehen sollen, werden Sie sehen, dass die geistige Wahrheit unmittelbar in das praktische Leben einfließen kann. Nicht irgendwelches System stellen wir auf, das man nur theoretisch verwerten kann, sondern etwas, was man brauchen kann, wenn man die tiefen Grundlagen unseres gegenwärtigen Weltenwissens erkennen will, wenn man die geistigen Wahrheiten einfließen lassen will in unser alltägliches Leben. Rosenkreuzer-Weisheit muss nicht nur in den Kopf gehen, auch nicht bloß in das Herz, sondern in die Hand, in unsere manuellen Fähigkeiten, in das, was der Mensch täglich tut. Es ist kein sentimentales Mitfühlen, es ist ein Sich-Erarbeiten der Fähigkeiten, innerhalb des allgemeinen Menschheitsdienstes zu wirken. Denken Sie sich, irgendeine Gesellschaft träte auf und würde nur allein Menschenbrüderschaft zu ihrem Ziele machen, würde nichts tun, als Menschenbrüderschaft predigen. Rosenkreuzerei wäre das nicht, denn der Rosenkreuzer sagt: Denke dir einen Menschen, der das Bein gebrochen hat und vor dir auf der Straße liegt. Wenn vierzehn Menschen herumstehen und warmes Empfinden und Mitleid haben, und keiner dabei ist, der das Bein wieder einrichten kann, so sind alle vierzehn weniger wesentlich als der eine, der hinzutritt, der vielleicht gar nicht sentimental ist, der aber die Fähigkeit besitzt, ein Bein einzurichten und es auch tut. –

Und das ist die Gesinnung, die den Rosenkreuzer durchflutet. Auf die werktätige Erkenntnis, auf die Möglichkeit, aus der Erkenntnis heraus einzugreifen in das Leben, darauf kommt es an. Alles Reden über Mitgefühl ist der Rosenkreuzer-Weisheit sogar etwas Gefährliches, denn ihr erscheint ein fortwährendes Betonen von Mitgefühl wie eine Art astraler Wollust. Was das niedere Wollustgefühl ist auf dem physischen Plane, das ist auf dem astralen Plan diese Art, die immer nur fühlen will und nicht erkennen. Werktätige Erkenntnis, die eingreifen kann im Leben – allerdings nicht im materialistischen Sinne, sondern heruntergeholt von den spirituellen Planen –, die befähigt uns, praktisch zu wirken. Aus der notwendigen Erkenntnis, dass die Welt vorwärtskommen soll, fließt von selbst die Harmonie, und sie fließt umso sicherer, weil sie sich von selbst ergibt, wenn man erkennt. Von demjenigen, der ein Bein einrichten kann, könnte man sagen: wenn er kein Menschenfreund ist, lässt er vielleicht den liegen, der da liegt. –

Das ist bei der bloßen Erkenntnis auf dem physischen Plan möglich. Bei der spirituellen Erkenntnis aber ist dieser Einwand nicht möglich. Es kann keine spirituelle Erkenntnis geben, die nicht einfließen würde in das werktätige Leben.«

Hätte Zander nicht nur lustlos in dieser Vortragsreihe herumgeblättert, hätte er noch andere Ausführungen finden können, die ein Licht auf Steiners Verhältnis zur Adyar-Theosophie werfen. Zum Beispiel die folgenden im vierten Vortrag.

»Die Akasha-Chronik ist zwar zu finden im Devachan, doch sie erstreckt sich herunter bis in die astrale Welt, so dass man in dieser oft Bilder der Akasha-Chronik wie eine Fata Morgana finden kann. Sie sind aber oft unzusammenhängend und unzuverlässig, und das ist wichtig zu beachten, wenn man Forschungen über die Vergangenheit anstellt. Ein Beispiel soll die Gefährlichkeit dieser Verwechslungen an deuten. Wenn wir bei der Erdenentwickelung durch die Angaben der Akasha-Chronik zurückgeführt werden bis zu jenen Zeiten, wo die Atlantis bestand, ehe die große Flut kam und sie wegspülte, können wir die Vorgänge in dieser alten Atlantis verfolgen. Dieselben haben sich später in anderer Form noch einmal wiederholt. Lange vor der christlichen Zeit haben sich Ereignisse abgespielt in Norddeutschland, in Mitteleuropa, ostwärts von der Atlantis, bevor das Christentum von Süden heraufgezogen ist, die eine Wiederholung der atlantischen Ereignisse sind. Erst nachher, durch die Einflüsse, die von Süden kamen, ist die Bevölkerung selbständig geworden. –

Hier ein Beispiel, wie leicht man Irrtümern ausgesetzt ist. Wenn jemand verfolgt die astralen Bilder der Akasha-Chronik, nicht die devachanischen Bilder, dann kann ihm eine Verwechslung mit diesen Wiederholungen der alten atlantischen Vorgänge passieren. Das ist wirklich der Fall gewesen in den Angaben von Scott-Elliot über Atlantis, die zwar durchaus stimmen, wenn man sie prüft in bezug auf die astralen Bilder, doch nicht mehr, wenn man sie anwendet auf die devachanischen der wirklichen Akasha-Chronik. Das musste einmal gesagt werden. In dem Augenblick, wo man erkennt, wo die Quelle der Irrtümer ist, kann man leicht zur wahren Schätzung der Angaben kommen.« (S. 45)

Schließlich sind auch weitere Ausführungen Steiners erwähnenswert, durch die sich Zanders Vorwurf erledigt, Steiner sei »Rassist« gewesen.

»In den ersten atlantischen Rassen bestand noch ein starkes Zusammengehörigkeitsband, so dass die ersten Unterrassen sich auch nach der Farbe gliederten, und dieses Gruppenseelenelement haben wir noch in den verschiedenfarbigen Menschen. Diese Unterschiede werden immer mehr verschwinden, je mehr das individuelle Element die Oberhand gewinnt. Es wird eine Zeit kommen, wo es keine verschiedenfarbigen Rassen mehr geben wird. Der Unterschied in bezug auf die Rassen wird aufgehört haben, dagegen werden individuell die größten Unterschiede bestehen. Je weiter wir zurückgehen in alte Zeiten, desto mehr treffen wir das Übergreifen des Rassenelements an. Das richtig individualisierende Prinzip beginnt überhaupt erst in der späteren atlantischen Zeit. Bei den alten Atlantiern empfanden wirklich noch Angehörige der einen Rasse eine tiefe Antipathie gegen Angehörige einer anderen Rasse. Das gemeinsame Blut bewirkte die Zusammengehörigkeit, die Liebe. Es galt für unsittlich, einen Angehörigen eines anderen Stammes zu hei raten.« (S. 129)

»Wir selber leben im fünften [nachatlantischen] Zeitalter. Wie drückt sich in ihm der Sinn der ganzen Entwickelung aus? Verschwunden ist die alte Autorität; der Mensch wird immer innerlicher, sein äußeres Schaffen wird immer mehr ein Abdruck seines Innern. Die Stammeszusammengehörigkeiten zerfallen, der Mensch wird immer mehr individualisiert. Daher der Keim zu der Religion, die da sagt: Wer nicht verlässt Vater und Mutter, Bruder und Schwester, der kann nicht mein Jünger sein –, das heißt: Alle Liebe, die auf Naturzusammengehörigkeit begründet ist, muss aufhören; der Mensch soll dem Menschen gegenüberstehen und Seele sich zu Seele finden.« (S. 135)

»Alles was der Mensch früher heruntergeholt hatte aus dem Geistigen, musste unter sich selbst heruntersteigen, um wiederum hinaufsteigen zu können. Damit hat aber auch unser Zeitalter seine Aufgabe bekommen. Floss im alten Menschen das Blut, das ihn zusammenband mit seinem Stamme, so ist heute die Liebe immer mehr zerklüftet, die noch im alten Blut geflossen ist. Eine Liebe, die geistiger Art ist, muss an ihre Stelle treten; dann können wir wiederum zum Geistigen hinauf. Dass wir vom Geistigen herabgestiegen sind, hat seine gute Berechtigung, denn die Menschen müssen diesen Abstieg durchmachen, um aus eigener Kraft wieder den Weg zur Geistigkeit hinauf zu finden, und die Mission der geisteswissenschaftlichen Strömung ist es, der Menschheit diesen Weg hinauf zu zeigen.« (S. 136)

»Daher hat das Christentum und haben alle diejenigen Richtungen, die wirklich religiöses Leben hatten, bewusst hingearbeitet auf eine Durchbrechung der alten Blutsverbände; und einen radikalen Satz hat das Christentum hingestellt, der lautet: ›Wer nicht verlässt Vater, Mutter, Weib, Kind, Bruder, Schwester, der kann nicht mein Jünger sein.‹ Das deutet auf nichts anderes hin, als dass treten muss an Stelle alter Blutsverbände das geistige Band zwischen Seele und Seele, zwischen Mensch und Mensch. Es fragt sich jetzt nur: Welches sind die Mittel und Wege, dass die Menschheit die Spiritualität, das heißt das Überwinden des Materialismus, und zu gleicher Zeit das, was man den Bruderbund nennen könnte, die Ausprägung der allgemeinen Menschenliebe, erlangt? Man könnte sich nun der Meinung hingeben, dass man nur recht gründlich die allgemeine Menschenliebe zu betonen brauchte, und dass dann diese Menschenliebe schon kommen müsste, oder man müsste Vereine gründen, die sich den Zweck der allgemeinen Menschenliebe zum Ziele setzen. Der Okkultismus ist niemals dieser Anschauung. Im Gegenteil! Je mehr der Mensch spricht von allgemeiner Bruderliebe und Menschlichkeit in dem Sinne, dass er sich daran berauscht, um so egoistischer werden die Menschen. Denn geradeso, wie es eine sinnliche Wollust gibt, gibt es eine Wollust der Seele; und es ist sogar eine raffinierte Wollust, zu sagen: Ich will sittlich höher und höher werden! Es ist im Grunde genommen ein Gedanke, der zwar nicht den gewöhnlichen alltäglichen Egoismus erzeugt, aber einen raffinierten Egoismus, der aus solcher Wollust entspringt.

Nicht dadurch, dass man Liebe und Mitgefühl betont, werden sie im Laufe der Menschheitsevolution erzeugt. Durch etwas anderes vielmehr wird die Menschheit geführt zu jenem Bruderbunde, und das ist die spirituelle Erkenntnis selber. Es gibt kein anderes Mittel, die allgemeine Menschenverbrüderung herbeizuführen, als die Verbreitung der okkulten Erkenntnisse in der Welt. Man rede immer von Liebe und Menschenverbrüderung, man gründe Tausende von Vereinen, sie werden nicht zu dem Ziele führen, zu dem sie führen sollen, so gut sie auch gemeint sind. Es kommt darauf an, das Richtige zu tun, zu wissen, wie man diesen Bruderbund begründet. Nur Menschen, die in der gemeinsamen, für alle Menschen gültigen okkulten Wahrheit leben, finden sich zusammen in der einen Wahrheit. Wie die Sonne die Pflanzen vereint, die ihr zustreben und deren jede doch eine Individualität ist, so muss die Wahrheit eine einheitliche sein, zu der alle hinstreben; dann finden sich alle Menschen zusammen. Aber energisch nach der Wahrheit arbeiten müssen die Menschen; dann erst können sie in harmonischer Weise zusammenleben.« (S. 141-142)

»Daher ist es die konkrete Aufgabe, die zerklüftete Menschheit, die aus den alten Bluts- und Stammesverbänden herausgerissen ist, zu verbinden durch die einheitliche okkulte spirituelle Weisheit.

So geht, indem wir uns vom fünften in das sechste und dann in das siebente Zeitalter hinüberentwickeln, der alte Zusammenhang in Stammes- und Blutsverbänden immer mehr verloren. Die Menschheit mischt sich, um sich von geistigen Gesichtspunkten aus zu gruppieren. Es war eine Ungezogenheit, in der Theosophie von den Rassen so zu sprechen, als ob sie immer bleiben würden. Der Begriff der Rasse verliert schon für die nächste Zukunft, womit allerdings Tausende von Jahren gemeint sind, seinen Sinn. Das ewige Reden, dass immer in der Welt sich sieben und sieben Rassen entwickelt hätten, das ist die spekulative Ausdehnung eines Begriffes, der nur für unser Zeitalter nach rückwärts und vorwärts gilt; von der Sehergabe, vom Okkultismus ist das nie gesagt worden. Wie alles entsteht, so sind auch die Rassen entstanden, und wie alles wieder vergeht, werden auch die Rassen wieder vergehen, und jene, die immer nur von Rassen gesprochen haben, die werden sich daran gewöhnen müssen, ihre Begriffe flüssig zu machen. Das ist nur eine Bequemlichkeit!« (S. 144)

Eine weitere Unterstellung Zanders betrifft Steiners Wissen von Christian Rosenkreuz. Natürlich weiß Zander viel besser Bescheid über diese zentrale Gestalt der abendländischen Esoterik als Steiner – Christian Rosenkreuz hat nämlich gar nicht existiert. Steiner war zu dumm, das zu erkennen.

Auf S. 217 schreibt Zander:

»Die historische Rosenkreuzerforschung ist erst am Ende des 20. Jahrhunderts zu einem akademischen Feld geworden. Und so konnte Steiner es sich leisten, den Gründer, Christian Rosenkreuz, für eine historische Figur zu halten ... Aber zumindest das hätte er bei der Vertiefung in die wissenschaftliche Literatur wissen können: Christian Rosenkreuz war eine fiktionale Gestalt, erfunden von einem Kreis reformorientierter Protestanten ... All diese Details waren 1907 im historischen Dunkel verschwunden, kaum einer wusste noch Genaues.«

Zunächst: Wie hätte Steiner aus der akademischen Forschung des ausgehenden 20. Jahrhunderts wissen können, was 1907 im historischen Dunkel verschwunden war? Entweder es war 1907 unbekannt oder nicht. Beides gleichzeitig ist nicht möglich.

Aber Steiner hat selbst – in seinem ersten Vortrag – auf die Unzulänglichkeit des historischen Wissens von Christian Rosenkreuz hingewiesen, und betont, dass der Zugang zur Rosenkreuzerweisheit nicht über die Literatur zu finden sei:

»Wer die Geschichte und namentlich die äußere Geschichte des Rosenkreuzertums kennt, wie sie in der Literatur niedergelegt ist, der weiß übrigens sehr wenig von dem wirklichen Inhalt der rosenkreuzerischen Theosophie. Was rosenkreuzerische Theosophie ist, das lebt seit dem vierzehnten Jahrhundert als etwas, was unabhängig von seiner Geschichte wahr ist, ebenso wie die Geometrie wahr ist und erkennbar, unabhängig von der Geschichte der Geometrie und ihrem allmählichen Auftreten. Es soll deshalb nur flüchtig auf einiges hingedeutet werden, was aus der Geschichte heraus zu wissen ist.«

Er verwies also auf eine metahistorische Ebene, aus der heraus das wirkliche Wissen vom Rosenkreuzertum geschöpft werden muss. Da für Zander diese Ebene nicht existiert, kann er sie nur als fiktiv betrachten. Steiners Bezug auf das Rosenkreuzertum ist stets ein Bezug auf diese metahistorische Ebene, von der die akademische Forschung nichts weiß. Er verwies aber auf Offenbarungen dieser Rosenkreuzerweisheit, die in der Geschichte des Abendlandes greifbar sind – auf Lessings »Erziehung des Menschengeschlechts«: »Man muss diese Schrift nur zwischen den Zeilen lesen, dann wird man in ihrem eigentümlichen Ausklange — zwar nur als Esoteriker — erkennen, dass sie ein äußerer Ausdruck rosenkreuzerischer Weisheit ist« (S. 12-13), – auf Goethes Gedicht »Die Geheimnisse«, »das die intimsten Freunde Goethes als eine seiner tiefsten Schöpfungen bezeichnet haben, und es ist in der Tat so tief angelegt, dass Goethe niemals die Kraft wiederfinden konnte, zu diesem Fragmente den Schluss zu gestalten«, – auf sein »Märchen von der grünen Schlange und der schönen Lilie«, »eine der tiefsten Schriften der Weltliteratur; wer sie in richtiger Weise zu interpretieren vermag, der weiß viel von der rosenkreuzerischen Weisheit.« (S. 13)

Von diesem metahistorischen Christian Rosenkreuz sprechen auch die für Edouard Schuré im September 1907 verfassten Dokumente von Barr:

»Christian Rosenkreutz ging in der ersten Hälfte des fünfzehnten Jahrhunderts nach dem Orient, um den Ausgleich zu finden zwischen der Initiation des Ostens und jener des Westens. Eine Folge davon war die definitive Begründung der Rosenkreuzerrichtung im Westen nach seiner Rückkehr. In dieser Form sollte das Rosenkreuzertum die streng geheimgehaltene Schule sein zur Vorbereitung dessen, was der Esoterik öffentlich als Aufgabe zufallen müsse um die Wende des 19. und 20. Jahrhunderts, wenn die äußere Naturwissenschaft zur vorläufigen Lösung gewisser Probleme gekommen sein werde.

Als diese Probleme bezeichnete Christian Rosenkreutz:

1) Die Entdeckung der Spektralanalyse, wodurch die materielle Konstitution des Kosmos an den Tag kam.

2) Die Einführung der materiellen Evolution in die Wissenschaft vom Organischen.

3) Die Erkenntnis der Tatsache eines anderen als des gewöhnlichen Bewusstseinszustandes durch die Anerkennung des Hypnotismus und der Suggestion.

Erst wenn diese materiellen Erkenntnisse innerhalb der Wissenschaft ausgereift wären, sollten gewisse rosenkreuzerische Prinzipien aus dem Geheimwissenschaftlichen in die öffentliche Mitteilung eintreten.

Für die Zeit bis dahin wurde die christlich-mystische Initiation in der Form dem Abendlande gegeben, in der sie durch den Initiator, dem ›Unbekannten aus dem Oberland‹ erfloss in St. Victor, Meister Eckhart, Tauler usw.

Als ein ›höherer Grad‹ wird innerhalb dieser ganzen Strömung die Initiation des Manes angesehen, der 1459 auch Christian Rosenkreutz initiierte: sie besteht in der wahren Erkenntnis von der Funktion des Bösen. Diese Initiation muss mit ihren Hintergründen noch für lange vor der Menge ganz verborgen bleiben. Denn wo von ihr auch nur ein ganz kleiner Lichtstrahl in die Literatur eingeflossen ist, da hat er Unheil angerichtet, wie durch den edlen Guyau, dessen Schüler Friedrich Nietzsche geworden ist.« (Dokumente von Barr)

Was Christian Rosenkreuz als »Erfindung protestantischer Theologen« anbetrifft, so machte Steiner bei anderer Gelegenheit deutlich, dass man von Johann Valentin Andreae kein Verständnis dessen erwarten dürfe, was er selbst geschrieben hatte, da es sich schon damals um eine »Inspiration« handelte. »Es ist eine sehr interessante Sache, wenn man sieht: Johann Valentin Andreae hat diese Geschichte der ›Chymischen Hochzeit des Christian Rosenkreutz‹ hingeschrieben als siebzehnjähriger Junge.

Siebzehn Jahre war er, unreif mit seiner Außenintelligenz; und später hat er sie bekämpft. Denn der pietistische Theologe Andreae, der später geschrieben hat, schreibt eigentlich alles mögliche andere, womit man das, was in der ›Chymischen Hochzeit‹ steht, bekämpfen kann. Es ist sehr interessant: Das Leben des Andreae zeigt, dass er keine Spur von Verständnis hat für das, was er in der ›Chymischen Hochzeit‹ hingeschrieben hat. Die geistigen Welten wollten der Menschheit eben etwas offenbaren, was allerdings mit dem ganzen Empfinden der damaligen Zeit zusammenhängt.« (GA 181, 16.7.1918, S. 358)