Ein irreführendes Bild zeichnet Zander von der Bedeutung, die Karl Julius Schröer für Steiner hatte. Er soll nicht nur eine Art Vaterersatz für ihn gewesen sein, sondern auch sein Führer auf dem Weg in die idealistische Philosophie.

Auf S. 21-22 schreibt Zander:

»Schröer wurde Steiners Führer auf dem Weg in die idealistische Philosophie. ›Ich hörte mit der allergrößten Sympathie alles, was von Schröer kam‹, erinnert sich noch der 62-jährige Steiner, der längst selbst zum spirituellen Lehrer avanciert war.«

War Schröer Steiners Führer in die idealistische Philosophie? Auch dafür gibt es keinerlei Anhaltspunkte. Im Gegenteil. Unmittelbar an den von Zander – falsch – zitierten Satz (›Ich hörte mit der allergrößten Sympathie alles, was von Schröer kam‹) schließt sich in Steiners Autobiografie der folgende an (zuerst wird der falsch zitierte noch einmal richtig zitiert)

»Ich hörte geistig mit der allergrößten Sympathie alles, was von Schröer kam. Dennoch konnte ich nicht anders, als auch ihm gegenüber, das, wonach ich geistig intim strebte, in der eigenen Seele ganz unabhängig aufbauen« (GA 28, S. 69).

Das ist aber noch nicht alles. Der ganze weitere Absatz charakterisiert den Schröerschen »Idealismus« und führt aus, warum Schröer für Steiner kein »Führer« zu diesem Idealismus sein konnte. Steiner fährt nach den eben zitierten Sätzen fort:

»Schröer war Idealist; und die Ideenwelt als solche war für ihn das, was in Natur- und Menschenschöpfung als treibende Kraft wirkte. Mir war die Idee der Schatten einer volllebendigen Geisteswelt. [kurs. red.] Ich fand es damals sogar schwierig, für mich selbst den Unterschied zwischen Schröers und meiner Denkungsart in Worte zu bringen. Er redete von Ideen als von den treibenden Mächten in der Geschichte. Er fühlte Leben in dem Dasein der Ideen. Für mich war das Leben des Geistes hinter den Ideen, und diese nur dessen Erscheinung in der Menschenseele. Ich konnte damals kein anderes Wort für meine Denkungsart finden als ›objektiver Idealismus‹. Ich wollte damit sagen, dass für mich das Wesentliche an der Idee nicht ist, dass sie im menschlichen Subjekt erscheint, sondern dass sie wie etwa die Farbe am Sinneswesen an dem geistigen Objekte erscheint, und dass die menschliche Seele – das Subjekt – sie da wahrnimmt, wie das Auge die Farbe an einem Lebewesen ...

So hing ganz stark in der damaligen Zeit mein Erleben mit meinem Verhältnis zu Karl Julius Schröer zusammen. Was ihm aber ferner lag, und womit ich vor allem nach einer innerlichen Auseinandersetzung strebte, das waren die Naturwissenschaften. Ich wollte auch meinen ›objektiven Idealismus‹ im Einklange mit der Naturerkenntnis wissen« (GA 28, S. 69-70).

Schröer vermochte zu diesem »objektiven Idealismus« keinen Zugang zu finden, ebensowenig wie zu den Naturwissenschaften. Daher übertrug er auch die an ihn herangetragene Aufgabe, Goethes Naturwissenschaftliche Schriften herauszugeben, auf seinen 22-jährigen Studenten. Dieses biografische Ereignis, das für Steiners weitere geistige Entwicklung von entscheidender Bedeutung war, hatte tiefere Hintergründe. Laut einem Gespräch, das Walter Johannes Stein 1922 mit Steiner führte, wäre es tatsächlich Schröers Aufgabe gewesen, das naturwissenschaftliche Denken der damaligen Zeit zu spiritualisieren. Aber Schröer schreckte vor dieser Aufgabe zurück. Daher entschloss sich Steiner, diese Aufgabe Schröers zu übernehmen. Steiner soll gegenüber Stein geäußert haben: »Indem ich diesen Entschluss damals fasste, erlebte ich das Wesen der Freiheit. Ich konnte meine ›Philosophie der Freiheit‹ schreiben, weil ich erlebt hatte, was Freiheit ist« (W.J. Steiner/Rudolf Steiner. Dokumentation eines wegweisenden Zusammenwirkens, Dornach 1985, S. 296).

Steiner selbst deutet diese Hintergründe in einem Vortrag an, den er am 23. September 1924 über Schröer und Plato hielt (Text hier).

Eine »ungebremste« Darstellung seines »damaligen Materialismus und Atheismus« findet Zander auch in einer »großen literarischen Hommage«, die Steiner Ende der 1890er Jahre an Haeckel verfasst haben soll.

Auf S. 107-108 schreibt Zander:

»Für eine große literarische Hommage an Haeckel ...nutzt er ... eine andere Zeitschrift ... Hier bringt er seinen damaligen Atheismus und Materialismus ungebremst zur Darstellung. Natürlich waren die ›Kirchenreligionen‹ veraltet, war das, ›was wir ’kurzweg’ menschliche Seele nennen‹, ein Ergebnis körperlicher Funktionen, und ›wenn der Mystiker durch Versenken in sein Inneres sich zur Anschauung Gottes zu erheben glaubt, so sieht er in Wirklichkeit nur seinen eigenen Geist, den er zum Gott macht‹.«

Einen Nachweis dieser »großen literarischen Hommage« sucht man in Zanders Buch vergeblich. Man muss schon zur Steiner-Harddisk (der elektronischen Gesamtausgabe) greifen, um fündig zu werden. Zander bezieht sich auf den Aufsatz »Haeckel und seine Gegner«, den Steiner 1899 in der Zeitschrift »Die Gesellschaft« veröffentlichte.

Unter anderem auf diesen Aufsatz blickte Steiner hin, als er etwa vier Monate vor seinem Tod in seiner Autobiografie schrieb: »... ich spreche [gegen Ende des Jahrhunderts] öfter davon, dass der ›Geist‹ aus dem Schoße der Natur ›hervorgehe‹. Was ist da mit ›Geist‹ gemeint? Alles das, was aus menschlichem Denken, Fühlen und Wollen die ›Kultur‹ erzeugt. Von einem andern ›Geiste‹ zu sprechen, wäre damals ganz zwecklos gewesen. Denn niemand hätte mich verstanden, wenn ich gesagt hätte: dem, was am Menschen als Geist erscheint, und der Natur liegt etwas zugrunde, das weder Geist, noch Natur ist, sondern die vollkommene Einheit beider. [kurs. red.] Diese Einheit: schaffender Geist, der den Stoff in seinem Schaffen zum Dasein bringt und dadurch zugleich Stoff ist, der ganz als Geist sich darstellt: diese Einheit wird durch eine Idee begriffen, die den damaligen Denkgewohnheiten so fern wie möglich lag. Von einer solchen Idee aber hätte gesprochen werden müssen, wenn in geistgemäßer Anschauungsart die Urzustände der Erd- und Menschheitsentwickelung und die heute noch im Menschen selbst tätigen geist-stofflichen Mächte hätten dargestellt werden sollen, die auf der einen Seite seinen Körper bilden, auf der andern das lebendig Geistige aus sich hervorgehen lassen, durch das er die Kultur schafft. Die äußere Natur aber hätte so besprochen werden müssen, dass in ihr das ursprünglich Geist-Stoffliche als erstorben in den abstrakten Naturgesetzen sich darstellt.

Das alles konnte nicht gegeben werden.

Es konnte nur angeknüpft werden an die naturwissenschaftliche Erfahrung, nicht an das naturwissenschaftliche Denken. In dieser Erfahrung lag etwas vor, das einem wahren, geisterfüllten Denken gegenüber die Welt und den Menschen lichtvoll vor dessen eigene Seele stellen konnte. Etwas, aus dem der Geist wiedergefunden werden konnte, der in den traditionell bewahrten und geglaubten Bekenntnissen verlorengegangen war. [kurs. red.] Die Geist-Natur-Anschauung wollte ich aus der Naturerfahrung herausholen. Sprechen wollte ich von dem, was im ›Diesseits‹ als das Geistig-Natürliche, als das wesenhaft Göttliche zu finden ist. [kurs. red.] Denn in den traditionell bewahrten Bekenntnissen war dies Göttliche zu einem ›Jenseits‹ geworden, weil man den Geist des ›Diesseits‹ nicht anerkannte und ihn daher von der wahrnehmbaren Welt absonderte. Er war zu etwas geworden, das für das menschliche Bewusstsein in ein immer stärkeres Dunkel untergetaucht war. Nicht die Ablehnung des Göttlich-Geistigen, sondern die Hereinstellung in die Welt, die Anrufung desselben im ›Diesseits‹ lag in solchen Sätzen [kurs. red.], wie dem in einem der Vorträge für die ›Freie literarische Gesellschaft‹: ›Ich glaube, die Naturwissenschaft kann uns in schönerer Form, als die Menschen es je gehabt haben, das Bewusstsein der Freiheit wiedergeben. In unserem Seelenleben wirken Gesetze, die ebenso natürlich sind wie diejenigen, welche die Himmelskörper um die Sonne treiben. Aber diese Gesetze stellen ein Etwas dar, das höher ist als alle übrige Natur. Dieses Etwas ist sonst nirgends vorhanden als im Menschen. Was aus diesem fließt, darinnen ist der Mensch frei. Er erhebt sich über die starre Notwendigkeit der unorganischen und organischen Gesetzmäßigkeit, gehorcht und folgt nur sich selbst.‹ (Die letzten Sätze sind erst hier unterstrichen, waren es noch nicht im ›Magazin‹. Vgl. für diese Sätze das ›Magazin‹ vom 12. Februar 1898.)« (Mein Lebensgang, S. 268-269)

Finden sich Spuren dieses »schaffenden Geistes«, »der den Stoff in seinem Schaffen zum Dasein bringt und dadurch zugleich Stoff ist, der ganz als Geist sich darstellt« in Steiners »literarischer Hommage« an Haeckel, die angeblich von Materialismus und Atheismus trieft, wie Zander meint? Ja, sie finden sich durchaus, selbst in diesem Artikel. Man muss ihn nur lesen.

Zuvor aber der Hinweis, dass das Zitatfragment: »Natürlich ... war das, ›was wir ’kurzweg’ menschliche Seele nennen‹, ein Ergebnis körperlicher Funktionen ...« nicht eine Aussage Steiners widergibt, sondern aus einem von Steiner zitierten Text Haeckels stammt. Steiner zitiert in seinem Aufsatz aus Haeckels Publikation »Der Monismus als Band zwischen Religion und Wissenschaft«:»Haeckel stellt (in ›Der Monismus als Band zwischen Religion und Wissenschaft‹) das Werden des Menschengeistes in folgender Weise dar: ›Wie unser menschlicher Körper sich langsam und stufenweise aus einer langen Reihe von Wirbeltierahnen herangebildet hat, so gilt dasselbe auch von unserer Seele; als Funktion unseres Gehirns hat sie sich stufenweise in Wechselwirkung mit diesem ihrem Organ entwickelt. Was wir kurzweg ’menschliche Seele’ nennen, ist ja nur die Summe unseres Empfindens, Wollens und Denkens, die Summe von physiologischen Funktionen, deren Elementarorgane die mikroskopischen Ganglienzellen unseres Gehirns bilden. [kurs. red.] Wie der bewunderungswürdige Bau dieses letzteren, unseres menschlichen Seelenorgans, sich im Laufe von Jahrmillionen allmählich aus den Gehirnformen höherer und niederer Wirbeltiere emporgebildet hat, zeigt uns die vergleichende Anatomie und Ontogenie; wie Hand in Hand damit auch die Seele selbst – als Funktion des Gehirns – sich entwickelt hat, das lehrt uns die vergleichende Psychologie ...« – um nach einigen weiteren Ausführungen folgenden Kommentar anzuschließen:

Wer wirklich vom Sinn der Haeckelschen Weltanschauung durchdrungen ist, »wird die Gesetze des geistigen Lebens niemals auf einem anderen Wege als durch innere Erfahrung, durch Selbstbeobachtung zu erforschen suchen. Die Gegner der naturwissenschaftlichen Denkungsart reden gerade so, als wenn deren Anhänger die Wahrheiten der Logik, Ethik, Ästhetik und so weiter nicht durch Beobachtung der Geisteserscheinungen als solcher, sondern aus den Ergebnissen der Gehirnanatomie gewinnen wollten. Das von solchen Gegnern selbstgeschaffene Zerrbild naturwissenschaftlicher Weltanschauung nennen sie dann Materialismus und werden nicht müde, immer von neuem zu wiederholen, dass diese Ansicht unfruchtbar sein muss, weil sie die geistige Seite des Daseins ignoriere oder wenigstens auf Kosten der materiellen herabsetze ...

Kein naturwissenschaftlicher Denker wird je der Meinung sein, dass darüber, was im logischen Sinne wahr oder falsch ist, die körperlich-organischen Gründe Aufschluss geben können. Die geistigen Zusammenhänge können nur aus dem geistigen Leben heraus erkannt werden. Was logisch berechtigt ist, darüber wird immer die Logik, was künstlerisch vollkommen ist, darüber wird das ästhetische Urteil entscheiden. Ein anderes aber ist die Frage: Wie entsteht [kurs. red.] das logische Denken, wie das ästhetische Urteil als Funktion des Gehirnes? Über diese Frage allein spricht sich die vergleichende Physiologie und Gehirnanatomie aus. Und diese zeigen, dass das vernünftige Bewusstsein nicht für sich abgesondert existiert und das menschliche Gehirn nur benutzt, um sich durch dasselbe zu äußern, wie der Klavierspieler auf dem Klavier spielt, sondern dass unsere Geisteskräfte ebenso Funktionen der Form-Elemente unseres Gehirns sind, wie ›jede Kraft die Funktion eines materiellen Körpers ist‹ (Haeckel, Anthropogenie).«

Mit anderen Worten: Das Vorhandensein des menschlichen Geistes ist eine unbestreitbare, unhintergehbare Erfahrungstatsache. Man kann den Inhalt dieses Geistes nicht aus materiellen Vorgängen ableiten, die lediglich die Erscheinungsbedingungen dieses Geistes sind. Steiner fährt fort: »Wenn ich einen äußeren Vorgang, zum Beispiel die Bewegung einer elastischen Kugel, die durch eine andere gestoßen worden ist, erklären will, so kann ich nicht bei der bloßen Beobachtung stehen bleiben, sondern ich muss das Gesetz suchen, das Bewegungsrichtung und Schnelligkeit der einen Kugel durch Richtung und Schnelligkeit der anderen bestimmt. Ein solches Gesetz kann mir nicht die bloße Beobachtung, sondern nur die gedankliche Verknüpfung der Vorgänge liefern. Der Mensch entnimmt also aus seinem Geiste die Mittel, um das zu erklären, was sich ihm durch die Beobachtung darbietet. Er muss über die Beobachtung hinausgehen, wenn er sie begreifen will. Beobachtung und Denken sind die beiden Quellen unserer Erkenntnisse über die Dinge. Das gilt für alle Dinge und Vorgänge, nur nicht für das denkende Bewusstsein selbst. Ihm können wir durch keine Erklärung etwas hinzufügen, was nicht schon in der Beobachtung liegt.

Es liefert uns die Gesetze für alles andere, es liefert uns zugleich auch seine eigenen ... Über die Richtigkeit des Denkens entscheidet nur das Denken selbst. So ist es das Denken, das uns bei allem Weltgeschehen über die bloße Beobachtung, nicht aber über sich selbst hinausführt.«

»Wäre die menschliche Vernunft nur Abbild einer ewigen, dann könnte sie ihre Gesetzmäßigkeit nimmermehr durch Selbstbeobachtung gewinnen, sondern sie müsste sie aus der ewigen Vernunft heraus erklären. Wo immer aber eine solche Erklärung versucht worden ist [zum Beispiel durch Schopenhauers »Willen« oder Hartmanns »unbewussten Geist«], ist stets einfach die menschliche Vernunft in die Welt hinaus versetzt worden. Wenn der Mystiker durch Versenken in sein Inneres sich zur Anschauung Gottes zu erheben glaubt, so sieht er in Wirklichkeit nur seinen eigenen Geist, den er zum Gott macht, und wenn Eduard von Hartmann von Ideen spricht, die sich der Naturgesetze als Handlanger bedienen, um den Weltenbau zu bilden, so sind diese Ideen nur seine eigenen, durch die er sich die Welt erklärt. Weil Beobachtung der Geistesäußerungen Selbstbeobachtung ist, deshalb spricht sich im Geiste das eigene Selbst und nicht eine äußere Vernunft aus.

Im vollen Einklänge mit der Tatsache der Selbstbeobachtung steht aber die monistische Entwickelungslehre. Hat sich die menschliche Seele langsam und stufenweise mit den Seelenorganen aus niederen Zuständen entwickelt [kurs. red.], so ist es selbstverständlich, dass wir ihr Entstehen von unten her naturwissenschaftlich erklären, dass wir aber die innere Wesenheit dessen, was sich zuletzt aus dem komplizierten Bau des menschlichen Gehirns ergibt, nur durch die Betrachtung dieser Wesenheit selbst gewinnen können [kurs. red.]. Wäre Geist in einer der menschlichen Form ähnlichen immer vorhanden gewesen und hätte sich zuletzt nur im Menschen sein Gegenbild geschaffen, so müssten wir den Menschengeist aus dem Allgeist ableiten können; ist aber der Menschengeist im Laufe der natürlichen Entwickelung als Neubildung entstanden, dann begreifen wir sein Herkommen, wenn wir seine Ahnenreihe verfolgen; wir lernen die Stufe, zu der er zuletzt gekommen ist, kennen, wenn wir ihn selbst betrachten [kurs. red.].«

Die »menschliche Seele« hat sich also langsam und stufenweise zusammen mit den Seelenorganen aus niederen Zuständen entwickelt, ihr Entstehen von unten her lässt sich naturwissenschaftlich erklären, aber eine Erkenntnis der »inneren Wesenheit dessen«, »was sich zuletzt aus dem komplizierten Bau des menschlichen Gehirns ergibt«, kann »nur durch die Betrachtung dieser Wesenheit selbst« gewonnen werden.

Geist und Stoff haben sich durch eine Reihe von Stufen in gegenseitiger Wechselbeziehung entwickelt, Geist war immer schon im Stoff anwesend, war immer schon in der Natur enthalten, aber um in der Form erscheinen zu können, die er im menschlichen Bewusstsein annimmt, musste erst jener komplizierte Bau des menschlichen Gehirns, musste erst die menschliche Gesamtorganisation entstehen, durch die dieser Geist menschliche Gestalt annehmen konnte.

Der »schaffende Geist«, »der den Stoff in seinem Schaffen zum Dasein bringt und dadurch zugleich Stoff ist, der ganz als Geist sich darstellt« wird schon in Haeckels »Zellseele« vorausgesetzt. »Die Gesamtheit menschlicher Seelentätigkeiten« so Steiner, »die in dem einheitlichen Selbstbewusstsein ihren höchsten Ausdruck findet, entspricht dem komplizierten Bau des menschlichen Gehirnes ebenso wie das einfache Empfinden und Wollen der Organisation des Urtieres.«

Ein weiterer Hinweis auf dieses geist-stoffliche Urwesen, aus dem sich die menschliche Naturorganisation und der menschliche Geist gleichermaßen entwickelt haben, findet sich in Steiners Kritik an Du Bois-Reymonds »Ignorabimus«-Rede, wenn er schreibt: »Wer aber heißt Du Bois-Reymond erst aus der Materie den Geist auszutreiben, um nachher konstatieren zu können, dass er nicht in ihr ist! Die einfache Anziehung und Abstoßung des kleinsten Stoffteilchens ist Kraft, also eine von dem Stoff ausgehende geistige Ursache. Aus den einfachsten Kräften sehen wir in einer Stufenfolge von Entwickelungen sich den komplizierten Menschengeist aufbauen. Wir begreifen ihn aus diesem seinem Werden.«

Anziehung und Abstoßung sind Äußerungen von Kraft, einer vom Stoff ausgehenden und in ihm wirkenden geistigen Ursache. Bereits in der physikalischen Welt wird der Geist in Gestalt der Kraft greifbar. Die Aufgabe des Menschen besteht darin, den Geist im Stoff, im Diesseits zu finden, nicht ihn in eine jenseitige Welt hineinzuprojizieren. Denn im Diesseits, in der einheitlichen Welt, ist er für das menschliche Erkennen auffindbar. »Sprechen wollte ich«, so Steiner 1924, »von dem, was im ›Diesseits‹ als das Geistig-Natürliche, als das wesenhaft Göttliche zu finden ist.« Denn schon 1886 (in den »Grundlinien ...«) hatte sich der »Weltengrund vollständig in die Welt ausgegossen« und »trieb sie seither von innen« und trat »im Denken des Menschen« »in seiner höchsten Form« in Erscheinung.

»Haeckel und seine Gegner«, Die Gesellschaft 1899, XV. Jg., Bd. III, Heft 4-6 (GA 30 S. 152-200)

Im lediglich drei Seiten langen Kapitelchen über die »Mystik im Aufgang des neuzeitlichen Geisteslebens ...« schreibt Zander seine Konversionsgeschichte fort. Hier entdeckt er zwei »Standardelemente des christlichen Konversionsformulars«: »Passivität und Licht«.

Auf S. 150-151 schreibt Zander, das von Steiner in der Einführung dargelegte Credo laute nunmehr: »›Die von uns unabhängige Welt lebt für uns dadurch, dass sie sich unserem Geiste mitteilt.‹ Das ... ist umstürzlerisch, wenn man sich erinnert, dass Steiner zweieinhalb Jahre zuvor noch verkündet hatte: ›Ich erschaffe eine Ideenwelt, die mir als das Wesen der Dinge gilt.‹«

Geht man dem Nachweis für den zitierten Satz »Ich erschaffe eine Ideenwelt ...« nach, sucht man vergeblich. Er findet sich nicht in der ersten Auflage der »Welt- und Lebensanschauungen im neunzehnten Jahrhundert«; die S. II, auf dem er stehen soll, gibt es nicht.

Von Ehrgeiz, Geltungssucht und Größenwahn getrieben erscheint Steiner als esoterischer Lehrer in Zanders Darstellung. Um seine Unterstellungen zu untermauern schreckt er auch vor Zitatfälschungen nicht zurück.

Auf S. 237 schreibt Zander:

» ... im April schrieb er seiner künftigen Geliebten [sic!] Marie von Sivers ›fleißigste Meditationsarbeit‹ vor ... und er verlangt von ihr, › es mit Deiner Meditation, wie wir es besprochen haben‹ zu halten.«

Zander zitiert aus zwei Briefen Steiners an Marie von Sivers, die im Abstand eines halben Jahres verfasst wurden. Der erste Brief enthält keine Vorschriften für Marie von Sivers und der zweite ebensowenig.

Im ersten Brief vom 16. April 1903 berichtet Steiner Marie von Sivers von einer Sitzung der Schlaraffen, in die er nach einem Vortrag in Weimar geschleppt worden sei.

»Diese Schlaraffia ist über ganz Mitteleuropa verbreitet und hat überall ihre Mitglieder, die sich gradweise in ›Pilger‹, ›Junker‹, ›Ritter‹ und ›Herrlichkeiten‹ gliedern. Ob es noch höhere Grade gibt, ist ein Mysterium, zu dem ich noch nicht gedrungen bin. Nun ist aber die Grundlage der ganzen Gesellschaft die Trivialität. Es schmerzte, die Reden zu hören, die da in einem eigenen Schlaraffendialekt gehalten wurden. Meine Erfahrung ist, dass es solches gibt, und dass Tausende von Menschen in Deutschland und Österreich in der Schlaraffia etwas sehen, wo sie ihr Bestes suchen. Man muss so etwas sehen, um zu wissen, was alles in Menschengemütern an Strebungen lebt, die von der Richtung zum Höheren, zum Geistigen abzieht. Man weiß sonst oft gar nicht, wo der Quellpunkt gewisser astraler Vibrationen liegt, die einem mit Macht entgegentreten, und deren Ursprung in den Orten unter der Oberfläche unseres sozialen Daseins zu suchen ist. An solchen Orten versammeln sich die Kräfte, die der Theosophie widerstreben; sie treiben da unter den merkwürdigsten Masken ihr Spiel. Man lernt sie da besonders als Schmeichler kennen, die sich mit einer ganz eigenen Herzenssprache in die Menschenseelen schleichen. Es geht ganz feierlich zu. ›Herrlichkeit‹ sitzt auf einem ›Thron‹, zur einen Seite vom ›Kanzler‹, zur andern vom ›Marschall‹ umgeben. Man hat Kopfbedeckungen, die die Würden symbolisch zum Ausdruck bringen. Man hat Namen, die einen ganz abtrennen von allem ›Profanen‹. Man verbringt die ganze ›Sippung‹ (deutsch: Sitzung) in zeremoniellen Formen. Es ist notwendig, den Zauber jeglicher Zeremonie zu kennen, wenn man die bestimmende Gewalt dieser ›Sippungen‹ auf die Menschen durchschauen will. Viele der Dinge, die uns in unserem Streben entgegenwirken, führen, wenn man ihre Fäden verfolgt, an solche und ähnliche Orte, die sich dem gewöhnlichen Beobachter entziehen. Die Menschen, die vor uns sitzen, sind oft recht wenig bei uns, weil sie von Kräften dirigiert werden, die da und dorthin lenken. Solchen Dingen kann nur durch die wirklichen Theosophen entgegengewirkt werden, die dies ganz sind, und die deshalb Akkumulatoren von Astralkräften darstellen, die auf eine Besserung des Empfindens und Fühlens wirken. Ich weiß, dass jeder Gedanke, wenn er auch unausgesprochen bleibt und nur seine Richtung in der theosophischen Linie hat, eine Kraft ist, die gegenwärtig viel bedeutet. Ohne einen Grundstock von wahren Theosophen, die in fleißigster Meditationsarbeit, das Gegenwart-Karma verbessern, würde die theosophische Lehre doch nur halbtauben Ohren gepredigt.« (GA 262, S. 52-53)

Kein Wort also von einer Vorschrift, die an Marie von Sivers gerichtet wäre.

Der zweite Brief vom 21. November 1903 enthält ebenfalls keine »Vorschrift«, sondern offensichtlich eine Ermutigung oder Ermunterung, wenn Steiner schreibt: »Sei frisch, liebe Vertraute, sieh manchmal in Deinen Papieren nach und halte es mit Deiner Meditation, wie wir es besprochen haben.« (GA 262, S. 62).

Ein weiteres Beispiel für eine Zitatfälschung stellen angebliche Vorschriften dar, die von Zander angeführt werden, um die Behauptung zu untermauern, Steiner habe den »theosophischen Meditationsrahmen mit vielen Details« angefüllt und in der esoterischen Schule rigoros sein autoritäres Regiment durchgesetzt.

Auf S. 245 schreibt Zander:

»Den theosophischen Meditationsrahmen füllte er [Steiner] mit vielen Details. Meditiert wurde mit gekreuzten Beinen und ›mit den zwei Handflächen nach unten auf den Knien‹ ...

Dazwischen ›muss‹ der Schüler ›wenigstens eine halbe Stunde täglich ein Buch aus der beigefügten Liste studieren‹. Jeder ›muss‹ einer Ortsgruppe angehören oder mit ihr korrespondieren, eine Abwesenheit ist schriftlich zu entschuldigen. Der ›Zögling‹ ›muss‹ ein Meditationstagebuch führen ...«

Einen Beleg für all diese Behauptungen führt Zander nicht an. Die Recherche nach Quellen lässt uns in GA 264 fündig werden. Hier wurden die »Regeln der Esoteric School of Theosophy der T.S. zur Zeit von Rudolf Steiners Anschluss« abgedruckt. In diesen heißt ein Unterkapitel »Regeln der allgemeinen resp. raja-yoga Disziplin«. Darin finden sich die von Zander zitierten Vorschriften. Von diesen Vorschriften gilt, was Steiner in seinem »Lebensgang« ausführt: »Dass ich innerhalb der ›Esoterischen Schule‹ der Mrs. Besant hätte etwas Besonderes lernen können, lag schon deshalb außer dem Bereich der Möglichkeit, weil ich von Anfang an nicht an Veranstaltungen dieser Schule teilnahm, außer einigen wenigen, die zu meiner Information, was vorgeht, dienen sollten.

Es war ja in der Schule damals kein anderer wirklicher Inhalt als derjenige, der von H.P. Blavatsky herrührt, und der war ja schon gedruckt.

Außer diesem Gedruckten gab Mrs. Besant allerlei indische Übungen für den Erkenntnisfortschritt, die ich aber ablehnte.« (Kapitel 32)

Entscheidend ist, dass Steiner bereits esoterische Schüler auf deren ausdrücklichen Wunsch unterrichtete, bevor er im Mai 1904 als Landesleiter der Esoterischen Schule autorisiert wurde und zwar seit der Begründung der Deutschen Sektion der Theosophischen Gesellschaft im Oktober 1902. Diesen Schülern gab er konkrete, individuelle Meditationsanweisungen, die auf die jeweilige Person zugeschnitten waren. Dokumente dazu finden sich in GA 264, S. 157 f. Erst durch die offizielle Autorisierung ergab sich die Notwendigkeit, sich mit den »Regeln« der ES auseinanderzusetzen, die Steiner sofort in charakteristischer Weise umzuformen begann. (Siehe GA 264)

Die Regeln der ES, die Zander fälschlicherweise als Steiners »Vorschriften« ausgibt, sind die folgenden.

»1. Der Angehörige der Schule soll zu einer bestimmten Zeit aufstehen (entsprechend seiner Gesundheit und seinen Familienverhältnissen) und soll, nachdem er gebadet hat, sich der Meditation zuwenden, bevor er Nahrung zu sich genommen hat.

2. Jeder Angehörige der Schule soll wenigstens eine viertel Stunde an die ihm gegebene Meditation wenden; mittags muss er den Satz sagen, der ihm gelehrt wird; bevor er zu Bett geht, muss er eine Rückschau auf den Tag halten und sein eigenes Verhalten einem Urteil unterwerfen.

3. Jeder Angehörige der Schule muss wenigstens eine halbe Stunde täglich ein Buch aus der beigefügten Liste studieren.

4. Jeder Angehörige der Schule muss einer lokalen Gruppierung angehören oder durch Korrespondenz an sie angeschlossen sein, und muss die Arbeiten mitmachen, welche von der Gruppe beschlossen werden. Die Gruppe wird von einem Sub-Warden (Gruppenleiter) betreut.

5.  Die  Gruppe soll zu  bestimmten Zeiten zusammenkommen, die vom Sub-Warden bestimmt werden, und Mitglieder am Ort müssen regelmäßig teilnehmen bzw. im Falle von unvermeidlicher Abwesenheit sich schriftlich entschuldigen. Der Sub-Warden führt eine Anwesenheitsliste. Korrespondenz-Mitglieder müssen in Verbindung stehen mit einem Gruppenteilnehmer, der sie auf dem Laufenden hält über Angelegenheiten von Interesse sowie von Beschlüssen, die gefasst werden.

6. Jeder Angehörige der Schule muss ein Tagebuch führen über seine Beobachtung der Regeln 2 und 3, und muss dem Sub-Warden an der ersten Zusammenkunft des Monats eine schriftliche Bescheinigung geben, dass er die Regeln befolgt hat, oder, wenn dies nicht der Fall war, welche Unterlassungen er begangen hat, und aus welchem Grunde. Nachlässige Schüler werden nach drei Verwarnungen aufgefordert, ihre Papiere zurückzugeben und gelten nicht mehr als Mitglieder der Schule.

7.  Die Diät betreffend: Wein, überhaupt alle alkoholischen Getränke so wie jede  narkotische oder giftige Droge sind strengstens verboten. Wenn dies nicht beachtet wird, gibt es keinen Fortschritt und die Bemühungen des Lehrers sowohl wie des Schülers sind nutzlos. Alle solche Substanzen haben eine geradezu vernichtende Wirkung auf den Verstand, und besonders auf die Zirbeldrüse.

8.  Fleisch ist nicht verboten, aber wenn der Schüler ohne es auskommen kann,   wird empfohlen, darauf zu verzichten. Enthaltsamkeit von Fleisch und Fisch ist obligatorisch vom ersten Grad an. Fleischessen stärkt die Leidenschaftsnatur und das Bedürfnis, Besitzungen anzuhäufen und macht den Kampf mit der niederen Natur des Menschen zu einem schwereren.

9. Der Hörer, in dieser Disziplin Shravaka genannt, muss seinem Sub-Warden eine hinreichende Kenntnis von zweien der für das Studium vorgeschriebenen Bücher nachweisen, bevor er in den ersten Grad aufsteigen kann.«

Auch die Anweisungen zur Meditationshaltung (»gekreuzte Beine« etc) stammen aus diesem Dokument und werden hier unter der Zwischenüberschrift »Die tägliche Praxis des Shravaka« ausgeführt.