Manchmal belegt Zander seine Behauptungen auch schlicht durch fingierte Beweise. Auf diese Methode wissenschaftlichen Arbeitens, die sich bereits in »Anthroposophie in Deutschland« bewährt hat, verzichtet er auch nicht in seiner »Biografie«.

Auf S. 241-242 behauptet Zander:

»Eine einschneidende Veränderung betrifft Steiners Einstellung zu Atemübungen. In den ersten Jahren finden sich Hinweise, beim Ein- und Ausatmen Sprüche auf den Atem zu legen23, wobei diese Übungen nur unter der Kontrolle des Geheimlehrers erfolgen dürfen.«24

Anmerkung 23 verweist auf: Bd 267, S, 94; Anmerkung 24 auf: Bd 267, S. 39.

In GA 267 findet man auf S. 94 zwar ein Beispiel für eine Meditationsübung, die »Suche den Weg« der Einatmung, »Suche den Weg in der Versenkung« dem Atemhalten und »Suche den Weg, indem du kühn heraus aus dir selbst trittst« der Ausatmung zuordnet. Aber sowohl auf S. 94 als auch auf S. 39 sucht man vergeblich nach einem Hinweis auf die »Kontrolle durch den Geheimlehrer«. Dafür ist auf S. 39 in der Einleitung von Hella Wiesberger ein Zitat aus der Besprechung Steiners zu Besants Vorträgen »Der Pfad der Jüngerschaft« vom Mai 1905 abgedruckt, in der es unter anderem heißt, Besants Ausführungen seien für das indische Volk zwar richtig sind, der Pfad der Jüngerschaft müsse für den gegenwärtigen europäischen Menschen seiner Form nach jedoch ein anderer sein: »Das Wesen bleibt dasselbe; die Formen ändern sich auf diesem Gebiete. Deshalb muss es nur naturgemäß gefunden werden, dass in den Artikeln dieser Zeitschrift ›Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?‹ manches anders gesagt ist, als man es in den für das indische Volk gehaltenen Vorträgen Annie Besants angegeben findet. Der Weg, der in dieser Zeitschrift geschildert wird, ist derjenige, welcher in Anpassung an das Leben im Abendlande, an die Entwickelungsstufe des europäischen Menschen, als der richtige sich herausgebildet hat in den Geheimschulen Europas seit dem 14. Jahrhundert. Und der Europäer kann nur Erfolg haben, wenn er diesen ihm durch seine eigenen Geheimlehrer vorgezeichneten Weg wandelt.«

Was also hier als weiterer Beleg der Abgrenzung Steiners von Besant bereits 1905 dienen könnte, verwandelt sich in Zanders Bewusstsein auf wundersame Weise zu einem weiteren Beleg für Steiners Autoritarismus. Auf diese Weise wird aus Phantasie Wissenschaft.

Angeblich sollen unter der Steiners Anleitung in der Esoterischen Schule »Psychotechniken« angewendet worden sein, die zu seelischen Schäden führen konnten.

Auf S. 242 schreibt Zander:

»Steiner fürchtete ›gewisse Wirkungen auf den Menschen  ..., die das sofortige Eingreifen eines erfahrenen Geheimkundigen und jedenfalls dessen fortwährend Aufsicht nötig machen.‹25 Im Klartext: Bei Psychotechniken, wie sie in der Esoterischen Schule angewandt wurden, drohten seelische Schäden, allemal, kann man ergänzen, bei einem Meditationslehrer, dem es an Erfahrung mangelt.«

Als Beleg für seine Behauptung führt Zander Sätze aus »Wie erlangt man Erkenntnisse ...« an, die aber gerade das Gegenteil besagen, denn Steiner weist hier auf Techniken hin, die er explizit ablehnte und vor denen er warnte. Die wissenschaftliche Technik, durch aus dem Kontext gerissene Zitatfragmente den Eindruck zu erwecken, Steiner bestätige seine absurden Behauptungen, wird von Zander häufig angewandt. Das Satzfragment, das er zitiert, soll laut Anmerkung 25 in »Lucifer Gnosis Heft 18, November 1904, S. 16« stehen. In Wahrheit stehen die zitierten Worte auf S. 165 dieses Heftes. Steiner führt in diesem Aufsatz aus, wie notwendig es für den Geistesschüler ist, Geduld zu üben und nicht zu schnell Ergebnisse zu erwarten: »Du darfst nicht erwarten, dass du sogleich siehst und hörst in der Seelen- und Geisterwelt« (ebd., S. 164) In diesem Kontext spricht er von »anderen Wegen, die schneller zum Ziele führen«, vor denen er ausdrücklich warnt. Der Text im Zusammenhang:

»Außerdem durften hier nur solche Dinge mitgeteilt werden, die von keinerlei Art von Gefahren begleitet sind für die körperliche und seelische Gesundheit. Es gibt ja auch andere Wege, die schneller zum Ziele führen; aber diese dürfen nicht öffentlich besprochen werden, weil sie gewisse Wirkungen auf den Menschen haben können, die zuweilen das sofortige Eingreifen eines erfahrenen Geheimkundigen und jedenfalls dessen fortwährend Aufsicht nötig machen. – Da einiges von solchen Wegen doch immer wieder in die Öffentlichkeit dringt, so muss ausdrücklich davor gewarnt werden, sie ohne persönliche Leitung zu betreten. Aus Gründen, die nur der Eingeweihte verstehen kann, können diese Wege nie in ihrer wahren Gestalt öffentlich bekannt gemacht werden. Und die Bruchstücke, die dort und da erscheinen, könne zu nichts Gedeihlichem, wohl aber zur Untergrabung von Gesundheit, Glück und Seelenfrieden führen. Wer sich nicht ganz dunklen Mächten anvertrauen will, von deren wahren Wesen und Ursprung er nichts wissen kann, der vermeide es, sich auf solche Dinge einzulassen.« (ebd, S. 164-165) In späteren Auflagen lautete die Passage etwas emendiert: »Außerdem durften hier nur solche Dinge mitgeteilt werden, die von keinerlei Art von Gefahren begleitet sind für die körperliche und seelische Gesundheit. Es gibt ja auch andere Wege, die schneller zum Ziele führen; aber mit diesen hat, was hier gemeint ist, nichts zu tun, weil sie gewisse Wirkungen auf den Menschen haben können, die ein erfahrener Geheimkundiger nicht anstrebt. Da einiges von solchen Wegen doch immer wieder in die Öffentlichkeit dringt, so muss ausdrücklich davor gewarnt werden, sie zu betreten. Aus Gründen, die nur der Eingeweihte verstehen kann, können diese Wege nie in ihrer wahren Gestalt öffentlich bekanntgegeben werden. Und die Bruchstücke, die dort und da erscheinen, können zu nichts Gedeihlichem, wohl aber zur Untergrabung von Gesundheit, Glück und Seelenfrieden führen. Wer sich nicht ganz dunklen Mächten anvertrauen will, von deren wahrem Wesen und Ursprung er nichts wissen kann, der vermeide es, sich auf solche Dinge einzulassen.« (GA 10, S. 98-99).

Massive Fälschungen und Umdeutungen durchziehen auch Zanders Kapitel »Kriegszeit«. Hier steigert sich seine Unterstellung, Steiner sei Nationalist gewesen, sogar noch zur unsinnigen Behauptung, er sei ein Kriegsverherrlicher, ein Bellizist gewesen. Vorab jedoch wirft er ihm vor, er habe den Krieg nicht vorausgesehen.

Auf S. 331 schreibt Zander:

»Warum hatte er, der große Hellseher, diesen nicht vorhergesehen? ... Am 13. September 1914 gestand er offen, dass der Krieg für ihn ›überraschend ... hereingebrochen‹ sei, und erst langsam begann er, das Gegenteil zu behaupten. ›Dass diese Ereignisse kommen mussten, konnte man seit Jahren voraussehen‹ – aber da schrieb man schon den 30. September.«

Wie stets, wenn Zander von irgendwelchen »Geständnissen« Steiners spricht, kann man grundsätzlich davon ausgehen, dass es sich um eine Erfindung Zanders handelt. So auch in diesem Fall. Man vergleiche die beiden Vorträge, auf die Zander sich bezieht, im Original.

In seinem Vortrag vom 13. September 1914 sagte Steiner das Gegenteil von dem, was Zander behauptet: er sagte nicht, dass der Krieg für ihn überraschend hereingebrochen sei, sondern dass er über die Menschheit »scheinbar« überraschend hereingebrochen sei. Von sich selbst dagegen sagte er, er habe ihn lange vorausgesehen.

»Lange voraussehen konnte man dasjenige, was jetzt scheinbar so überraschend hereingebrochen ist über die, man muss ja wohl sagen, Erdenmenschheit. So überraschend ist es hereingebrochen, weil mitgewirkt haben bei diesem Ereignis auch, man darf schon sagen, okkulte Ursachen, die sich eigentlich erst seit dem 28. Juni allmählich nach und nach gezeigt haben.« (GA 174a, Dornach 1982, S. 12.)

Während das erste Zitat durch Auslassung schlicht gefälscht ist, wird auch das zweite nicht richtig wiedergegeben. Außerdem steht es in einem völlig anderen Kontext. Steiner führte am 30 September 1916 aus:

»Auch für den Okkultisten gab es Überraschungen in der letzten Zeit; und ich darf sagen, während meines Kursus in Norrköping konnte oder musste ich ein Wort sprechen, das auf solcher Überraschung beruht hat. Es ist wahr: Dass diese Ereignisse eintreten mussten, konnte man seit Jahren voraussehen, auch dass sie schicksalsgemäß in diesem Jahre kommen mussten. Aber Anfang Juli war nicht mehr zu sagen, als dass wir uns zum Münchner Zyklus versammeln würden, und dann, wenn wir auseinandergehen würden – so konnte man erwarten –, dann würden wir bedeutungsvollen Ereignissen gegenüberstehen. Da kam das Attentat von Sarajewo.

Wenn ich oft betont habe, wie anders die Dinge sind hier auf dem physischen Plane als auf dem geistigen Plane, wie oft das Gegenbild sich zeigt, so war es doch auch zu meiner Überraschung, als ich vergleichen konnte die Individualität, die durch dieses Attentat gegangen ist, vor und nach dem Tode. Etwas Eigenartiges ist da geschehen: Diese Persönlichkeit ist zu einer kosmischen Kraft geworden.

Ich erwähne dies, um darauf aufmerksam zu machen, wie die Dinge auf dem physischen Plan Symbolum für Geistiges sind, und wie, genau genommen, alle Ereignisse des physischen Planes erst erklärt werden, wenn man hindurchsieht nach dem geistigen Plane. Einige von Ihnen wissen von meinem früheren Ausspruch. Ich sagte: Das Schreckliche schwebte in der astralischen Welt, es konnte sich nur nicht niedersenken auf den physischen Plan, weil astralische Kräfte auf dem physischen Plan versammelt waren, Furchtkräfte, die ihm hindernd entgegenwirkten. –

Es war am 20. Juli, als ich wusste, dass die Furchtkräfte nun Kräfte des Mutes, der Kühnheit wurden. Eine unbeschreiblich großartige Tatsache: Die Kräfte der Furcht wurden zu Kräften des Mutes. Da war es nicht mehr unerklärlich, was auf dem physischen Plan als ein so einzigartiges Phänomen sich abspielte: jener Enthusiasmus. Das ist eine Tatsache, die mir einzigartig war, und soviel mir bekannt ist, auch keinem Okkultisten vorher bekannt war.

Nun, Sie alle sind ja Zeugen gewesen, wie dieser Enthusiasmus in einigen Tagen die Menschen ergriffen hat, die vorher wahrhaft friedliebende Menschen waren, wie eine Welle von Mut sich über sie ergoss.

Es kamen bald die Zeiten, wo man mit Betrübnis hörte, welche ungeheuren Opfer dieser Krieg fordert. Und als ich in den ersten Tagen des September in Berlin war, zog tiefer Schmerz in meine Seele, als ich gewahr wurde, welche Blüten deutscher Seelen hingeopfert werden mussten auf dem Feld. Ich musste dem Schmerze nachhängen, und der erzeugt – nicht aus eigenem Verdienst – okkulte Forschung. In Schmerzen wird der Seele okkulte Erkenntnis geschenkt. Die bange Frage stand vor meiner Seele: Wenn insbesondere die Blüte der Führer der einzelnen Korpsmassen dahingerafft wird, was wird dann?

Und da konnte man sehen, wie die Gefallenen es waren, die nach dem Tode auf dem Schlachtfelde denen halfen, die nach ihnen zu kämpfen hatten. Das ergab die hellseherische Forschung. Wenn die Toten den Lebenden helfen, dann ist das inmitten des Schmerzes ein Trost. Meine lieben Freunde, hineingreifen muss das, was Geisteswissenschaft ist, in das Leben in den Momenten, wo jeder Trost unmöglich erscheint, wo die rechte Seelenstimmung nicht gefunden werden kann. Auch da vermag geistige Erkenntnis die rechte Seelenstimmung zu geben, sie kann auch da noch Trost gewähren. Ich weiß, es wird Seelen geben aus unserer Gemeinschaft, die Mut schöpfen werden aus solcher Erkenntnis inmitten der traurigen Ereignisse.« (GA 174b, 30. September 1914)

Steiner hat 1918 verschiedentlich darauf hingewiesen, dass eine Äußerung von ihm in einem Vortrag Anfang 1914 als eine verhüllte Prophetie auf den bevorstehenden Krieg hätte gedeutet werden können. Am 17. Februar 1918 führte er in München aus:

»Und noch im Frühling 1914 im Vortragszyklus zu Wien über das Leben zwischen Tod und neuer Geburt habe ich einen eindringlichen Satz gewagt, den Satz, dass das soziale Leben unserer Zeit in einem wahrhaftigen Sinne verglichen werden kann mit einer besonderen Krankheitsform, mit einem Karzinom, dass eine schleichende Krebskrankheit durch das soziale Leben geht. – Natürlich, diese Dinge können unter unseren gegenwärtigen Verhältnissen nicht anders als so gesagt werden, aber sie müssen verstanden werden.« (GA 174a, München, 17. Februar 1918, Dornach 1982, S. 230)

Etwas ausführlicher am 22. September 1918 in Dornach, in dem er aus jenem Wiener Vortragszyklus wörtlich zitiert:

»Es ist die wichtigste der gegenwärtigen sogenannten Kriegsursachen in diesem Satze enthalten; aber sie ist aus dem geistigen Leben abzuleiten.

›Es entsteht dadurch, dass diese Art von Produktion im sozialen Leben eintritt, im sozialen Zusammenhang der Menschen auf der Erde genau dasselbe, was im Organismus entsteht, wenn so ein Karzinom entsteht. Ganz genau dasselbe, eine Krebsbildung, eine Karzinombildung, Kulturkrebs, Kulturkarzinom! So eine Krebsbildung schaut derjenige, der das soziale Leben geistig durchblickt; er schaut, wie überall furchtbare Anlagen zu sozialen Geschwürbildungen aufsprossen. Das ist die große Kultursorge, die auftritt für den, der das Dasein durchschaut. Das ist das Furchtbare, was so bedrückend wirkt, und was selbst dann, wenn man sonst allen Enthusiasmus für Geisteswissenschaft unterdrücken könnte, wenn man unterdrücken könnte das, was den Mund öffnen kann für die Geisteswissenschaft, einen dahin bringt, das Heilmittel der Welt gleichsam entgegenzuschreien für das, was so stark schon im Anzug ist und was immer stärker und stärker werden wird. Was auf seinem Felde in dem Verbreiten geistiger Wahrheiten in einer Sphäre sein muss, die wie die Natur schafft, das wird zur Krebsbildung, wenn es in der geschilderten Weise in die Kultur eintritt ...‹

Dass in der heutigen Gesellschaftsordnung eine Summe von Krebsgeschwüren waltet, das wurde dazumal ausgesprochen – die Vorträge sind datiert vom 9. bis 14. April 1914 –, aber nur ausgesprochen als zusammenfassend dasjenige, was im Grunde genommen unsere ganze anthroposophische Entwickelung hindurch von mir in den verschiedensten Formen gesagt wurde, um die Menschheit auf den Zeitpunkt vorzubereiten, wo das soziale Krebsgeschwür seine besondere Krisis erreichen würde, 1914!« (GA 184, 22. September 1918, Dornach 1983, S. 186-187.)

Wieder einmal erweist sich ein Vorwurf Zander, Steiner habe »massiv gelogen« bei näherer Betrachtung als – massive Lüge.

Auf S. 339 schreibt Zander,

Steiner habe massiv gelogen, weil er behauptete, er habe bei seiner Überarbeitung der 1900 erschienenen »Welt- und Lebensanschauungen im 19. Jahrhundert«, nur unwesentliche Änderungen vorgenommen, Widersprüche zu früheren Positionen seien dadurch nicht entstanden.

Zander findet in der Erstausgabe eine »radikale Kritik am Idealismus«, die zu den »prononciertesten Aussagen seines damaligen Atheismus« zähle, eine Kritik, die Steiner bei seiner Überarbeitung um 180 Grad gewendet habe. Um welche Passage handelt es sich?

Bei Zander lautet sie wie folgt: »Ich erschaffe eine Ideenwelt, die mir als das Wesen der Dinge gilt. Die Ideen erhalten durch mich ihr Wesen ... Im Erkennen der Ideen enthüllt sich nun gar nichts, was in den Dingen einen Bestand hat. Die Ideenwelt ... ist in keiner anderen Form vorhanden als in der von mir erlebten.« Diese Stelle soll sich laut Anmerkung im ersten Band auf Seite II finden.

Man muss in der Erstausgabe schon reichlich herumsuchen, bevor man fündig wird: eine Seite II sucht man jedenfalls vergeblich. Fündig wird man auf S. 188 des zweiten Bandes, im Kapitel »Ausblick«.

Lesen wir nach, was Steiner schreibt:

»Wenn ich mit meinen Gedanken die Dinge durchdringe, so füge ich also ein seinem Wesen nach in mir Erlebtes zu den Dingen hinzu. Das Wesen der Dinge kommt mir nicht aus ihnen, sondern ich füge es zu ihnen hinzu. Ich erschaffe eine Ideenwelt, die mir als das Wesen der Dinge gilt. Die Dinge erhalten durch mich ihr Wesen. Es ist also unmöglich, nach dem Wesen des Seins zu fragen. Im Erkennen der Ideen enthüllt sich mir gar nichts, was in den Dingen einen Bestand hat. Die Ideenwelt ist mein Erlebnis. Sie ist in keiner anderen Form vorhanden, als in der von mir erlebten.«

Unterstrichen wurde eine wirklich gravierende Textänderung (siehe linke Spalte), aber die stammt von Zander, nicht von Steiner. Kursiv gesetzt wurde oben das richtige Zitat.

Nicht die Ideen empfangen bei Steiner ihr Wesen vom denkenden Menschen, sondern die Dinge. Steiner legt 1900 Wert darauf, die Ideen als freie Hervorbringungen des Menschengeistes zu kennzeichnen, die nicht aus den bloß wahrgenommenen Dingen oder einem Ding an sich herausgeholt werden können, sondern vom Menschen jeweils neu hervorgebracht werden müssen.

Das ist auch mit der Formulierung gemeint, im Erkennen der Ideen enthülle sich nichts, »was in den Dingen einen Bestand« habe: das ideelle Wesen der Dinge besteht nicht schon vor dem Erkennen in den Dingen, in der Form, in der es im menschlichen Bewusstsein zur Erscheinung kommt.

Diese Beobachtung findet sich bereits in den »Grundlinien einer Erkenntnistheorie ...« von 1883, die ja nach Zander eine völlig andersgeartete Position vertraten. Der Gedankengehalt der Welt erscheint für Steiner 1883 einerseits durch die »Tätigkeit des menschlichen Bewusstseins« und zugleich als »in sich bestimmter ideeller Inhalt« und er betont schon damals, dass das Feld der Gedanken »einzig das menschliche Bewusstsein« sei, was der »Objektivität« ihres Inhalts keinen Abbruch tue.

Was aber an der Auffassung, die Ideen seien ein freies Erzeugnis des Menschengeistes und dieser füge den Dingen der Wahrnehmungswelt durch seinen Geist ihr Wesen hinzu, radikale »Kritik am Idealismus« und zugleich »Atheismus« sein soll, ist völlig schleierhaft.

Auch über die politische Gestaltungsidee der sozialen Dreigliederung, die Steiner seit dem Sommer 1917 auf verschiedenen Plattformen darstellte, vermag Zander nur Verwirrendes und Entstellendes zu verbreiten.

Auf S. 306 behauptet er:

»Zuerst hatte er [Steiner] 1917 eine Aufteilung in ein ökonomisches, ein unbewusstes und ein moralisches Gebiet vorgesehen, wobei in Letzteren das Rechtsleben eingeschlossen sein sollte.«

Zander verweist auf die Fundstelle GA 73, 14.11.1917

Der Vortrag vom 14.11.1917 ist keineswegs die erste Darstellung der Dreigliederungsidee.

Diese erste Darstellung findet sich in seinem ersten Memorandum vom Juli 1917. Die Memoranden verfasste Steiner für Graf Otto Lerchenfeld und Graf Ludwig Polzer-Hoditz, die ihre Beziehungen zu deutschen und österreichischen Regierungskreisen einsetzen wollten, um diese Ideen an einflussreiche Persönlichkeiten heranzutragen. Graf Lerchenfeld wandte sich u. a. an den deutschen Staatssekretär Kühlmann, Graf Polzer an seinen Bruder Arthur Polzer Hoditz, Kabinettschef Kaiser Karls von Österreich.

In seinem ersten Memorandum unterschied Steiner die politisch-staatliche (demokratisch zu organisierende), die ökonomische (opportunistisch zu organisierende) und die geistig-kulturelle (freiheitlich durch Selbstbestimmung zu organisierende) Sphäre:

»1. Dass man einsehe: Gegenstand einer demokratischen Volksvertretung können nur die rein politischen, die militärischen und die polizeilichen Angelegenheiten sein. Diese sind nur möglich auf Grund des historisch gebildeten Untergrundes. Werden sie vertreten für sich in einer Volksvertretung und verwaltet von einer dieser Volksvertretung verantwortlichen Beamtenschaft, so entwickeln sie sich notwendig konservativ. Ein äußerer Beweis dafür ist, dass seit dem Kriegsausbruche selbst die Sozialdemokratie in diesen Dingen konservativ geworden ist. Und sie wird es noch mehr werden, je mehr sie gezwungen wird, sinn- und sachgemäß dadurch zu denken, dass in den Volksvertretungen wirklich nur politische, militärische und polizeiliche Angelegenheiten der Gegenstand sein können. Innerhalb einer solchen Einrichtung kann sich auch der deutsche Individualismus entfalten mit seinem bundesstaatlichen System, das nicht eine zufällige Sache ist, sondern das im deutschen Volkscharakter enthalten ist.

2. Alle wirtschaftlichen Angelegenheiten werden geordnet in einem besonderen Wirtschaftsparlamente. Wenn dieses entlastet ist von allem Politischen und Militärischen, so wird es seine Angelegenheiten rein so entfalten, wie es diesen einzig und allein angemessen ist, nämlich opportunistisch. Die Verwaltungsbeamtenschaft dieser wirtschaftlichen Angelegenheiten, innerhalb deren Gebiet auch die gesamte Zollgesetzgebung liegt, ist unmittelbar nur dem Wirtschaftsparlamente verantwortlich.

3. Alle juristischen, pädagogischen und geistigen Angelegenheiten werden in die Freiheit der Personen gegeben. Auf diesem Gebiete hat der Staat nur das Polizeirecht, nicht die Initiative. Es ist, was hier gemeint ist, nur scheinbar radikal. In Wirklichkeit kann sich nur derjenige an dem hier gemeinten stoßen, der den Tatsachen nicht unbefangen ins Auge sehen will. Der Staat überlässt es den sach-, berufs- und völkermäßigen Korporationen, ihre Gerichte, ihre Schulen, ihre Kirchen und so weiter zu errichten, und er überlässt es dem einzelnen, sich seine Schule, seine Kirche, seinen Richter zu bestimmen. Natürlich nicht etwa von Fall zu Fall, sondern auf eine gewisse Zeit. Im Anfange wird dies wohl durch die territorialen Grenzen beschränkt werden müssen, doch trägt es die Möglichkeit in sich, auf friedlichem Wege die nationalen Gegensätze - auch andere - auszugleichen. Es trägt sogar die Möglichkeit in sich, etwas Wirkliches zu schaffen an Stelle des schattenhaften Staaten-Schiedsgerichts. Nationalen oder anderweitigen Agitatoren werden dadurch ihre Kräfte ganz genommen. Kein Italiener in Triest fände Anhänger in dieser Stadt, wenn jedermann seine nationalen Kräfte in ihr entfalten könnte, trotzdem aus selbstverständlichen opportunistischen Gründen seine wirtschaftlichen Interessen in Wien geordnet werden, und trotzdem sein Gendarm von Wien aus bezahlt wird.«

Auch in seinem von Zander herangezogenen Vortrag vom 14. November 1917 sprach er von diesen drei Sphären:

»Drei soziale Lebensgebiete treten einem entgegen. Das erste soziale Lebensgebiet, das dem Menschen entgegentritt und auf das das Anwendung findet, was ich eben charakterisiert habe, das ist das ökonomische Gebiet ...

Ein zweites Gebiet des sozialen Lebens ist das moralische, die moralische Struktur, der moralische Impuls, der sich in einer Gesamtheit auslebt. Wieder taucht man hinunter in alle möglichen unbewussten Gebiete, wenn man jene Impulse erforschen will, die in den menschlichen moralischen – im weitesten Sinne moralischen – Aspirationen zutage treten ...

Und weiter: ein drittes Gebiet, das uns im sozialen Leben entgegentritt, ist dasjenige, das wir das Rechtsleben benennen. Aus ökonomischem, moralischem und Rechtsleben besteht im wesentlichen die soziale Struktur einer Gesamtheit ...« (GA 73, 14.11.1917)

Das ökonomische und das rechtliche Gebiet bieten keinerlei Anlass für Missverständnisse, das moralische schließt hier alle individuellen geistigen Impulse des Menschen ein, die sich in einer Gesamtheit ausleben. Zu diesen moralischen Impulsen gehören die religiösen, wissenschaftlichen, pädagogischen Motive und Triebfedern, kurz, die Gesamtheit des geistigen Lebens einer Gesamtheit von Menschen.

Die Zusammenfassung, die Zander bietet kann man nur als krud und verworren bezeichnen. Nirgends unterscheidet Steiner ein »ökonomisches, ein unbewusstes und ein moralisches Gebiet, das wiederum das Rechtsleben« einschlösse. Stattdessen spricht er von einem ökonomischen Gebiet, einem moralischen – in dem auch unbewusste Gebiete erforscht werden müssen, die in moralischen Aspirationen zu tage treten – und einem davon unabhängigen Rechtsleben.