Alles immer im Rahmen

Gespräch mit dem Historiker Helmut Zander | Achim Hellmich

Das Interview erschien am 6.7.2007 in der Zeitschrift »Goetheanum«, für deren Genehmigung zur Veröffentlichung ebenso wie für die des Autors hier gedankt sei.

Helmut Zander hat, wie es von manchen beschrieben wird, ein Opus über die Anthroposophie geschrieben, ein knapp 2000 Seiten starkes Buch in zwei Bänden, das erst dieser Tage im Verlag Vandenhoeck & Ruprecht erschien. Achim Hellmich hat sich sofort aufgemacht und Zander via E-Mail zum Interview ‹getroffen›. Im Gespräch berichtet Zander von seiner Motivation, seiner Einschätzung der Anthroposophie und von seiner Religiosität. Eins ist sicher: Das Buch wird für viel Gesprächsstoff sorgen. Wir fangen gleich hier an.

Wer ist dieser Dr. Helmut Zander, der ein zweibändiges Werk von knapp 2000 Seiten mit dem Titel: ‹Anthroposophie in Deutschland. Theosophische Weltanschauung und gesellschaftliche Praxis 1884–1945› vorlegt? Nach längerer Recherche werde ich fündig. Zander lehrt zurzeit an der Humboldt-Universität in Berlin Wissenschaftsgeschichte und hat den Forschungsschwerpunkt Religion und Politik, er pendelt beruflich zwischen Berlin und Bonn, dort wohnt er mit seiner Familie. Die Liste seiner Veröffentlichungen ist lang; darunter finden sich Titel wie ‹Geschichte der Seelenwanderung in Europa› (1999), ‹Reinkarnation und Christentum› (2000), oder auch ‹Religiöse Vielfalt in Nordrhein-Westfalen› (2007).

Wir telefonieren, können aber keinen gemeinsamen Gesprächstermin in Berlin finden und entscheiden, das Gespräch im Frage-Antwort-Vorgehen per Mail zu führen. Meine Fragen beantwortet Zander sehr stringent, die Nachfragen am Telefon führen zu Ergänzungen, seine Offenheit für Kritik und sein Hineindenken in die Argumente des Fragenden beleben unser Gespräch. Er ist, wie er betont, ein «Hardcore-Historiker», persönliche Erfahrungen lässt er bewusst aus, auch das Beurteilen bindet er immer wieder an den historischen Gesamtzusammenhang, er nennt es einmal «Kontextualisierung». So wird auch die Anthroposophie aus ihrem historischen Kontext heraus im engen Zusammenhang mit der Theosophie betrachtet und weniger als umfassend eigenständige geistige Kraft dargestellt.

Das übliche Interviewfoto verweigert er leider. Die visuelle Fixierung lehne er ab, der Text solle überzeugen. Nun gut, das ist allerdings ein starkes Argument.

Wie alles anfing

Ihr aktuelles Buch ist ein Werk von beinahe 2000 Seiten. Ich frage jetzt nicht, wer das lesen soll, sondern, wie Sie dazu kamen, dieses Buch zu schreiben. Wann ist Ihnen Anthroposophie zum ersten Mal begegnet, wie kam es zu der Idee, sich mit ihr gründlich auseinanderzusetzen?

Angefangen hat alles 1991 mit einem Forschungsprojekt der Universität Bayreuth. Dort hatte der Theologe Walter Sparn in einem Projekt zur protestantischen Theologie um 1900 einen Mitarbeiter für den Bereich der ‹okkultistischen› Gemeinschaften gesucht. Ich hatte zwar kaum Ahnung davon, aber da es damals noch keine Wissenschaftler mit entsprechenden Sachkenntnissen gab, reichte mein Inter­esse.

Was ist Ihr wissenschaftlicher Ansatz, was das Erkenntnisinteresse?

In diesem Buch bin ich ‹Hardcore-Historiker›. Ich gehe davon aus, dass Steiner für uns ein fremder Mensch ist, den es zu verstehen gilt. Das gelingt immer nur annäherungsweise; aus der Dialektik von Erkenntnis und Interesse gibt es kein Entkommen. Ein wichtiger Ansatz ist dabei die Kontextualisierung. Steiner ist wie ein Mikrokosmos der Zeit um 1900, ohne dieses Umfeld ist er nicht zu verstehen.

Sie betonen sie schon im Titel und stellen sie dann ausführlich dar, die Bedeutung der Theosophie in Steiners Denken. Er hat sich aber (später) ganz bewusst von den Theosophen abgewandt und auch die Theosophie als ‹spirituelles› Gedankengebäude verlassen. Die Gründung der Anthroposophischen Gesellschaft und die Ausarbeitung der Anthroposophie als eigenständige Disziplin geschah danach. Erkennen Sie darin einen eigenständigen Ansatz, der unabhängig von der Theosophie (wenn er auch oft die gleichen Begriffe für die Beschreibung der Phänomene benutzt) ist?

Es gibt in einer Biographie höchst selten einen Einschnitt mit einem messerscharfen ‹davor› und ‹danach›. Sonst gäbe es vermutlich viele Schizophrene. Das gilt auch für Steiner. Er hat die Theosophie aufgesogen und sie dann in der Tat moduliert und erweitert. Aber er hat die theosophischen Grundlagen nie verlassen. Das allerdings widerspricht seiner Selbstdarstellung in ‹Mein Lebensgang›, aber dieses Buch steht halt auch unter der Überschrift ‹Dichtung und Wahrheit›.

Gibt es wirklich nichts Neues?

Als neue Dimension in der Theorie gilt Steiners Christologie. Ich habe deren Entstehung gegen die gängige Meinung gelesen, Steiner habe sich  gegen die theosophische Tradition gestellt. Das stimmt so sicher nicht; es gab in der Theosophie seit dem Ende des 19. Jahrhunderts intensive Versuche einer Re-Christologisierung – wie bei Steiner seit 1906. Aber wir brauchen weitere Forschungen, um Steiners Position in der Geschichte alternativer Christologien um 1900 zu bestimmen.

Auf der Praxisseite ist die Bilanz zumindest unter deutschen Theosophen klarer: Hier hat Steiner Neuland betreten. Aber in der internationalen Theosophie waren etwa Schulgründungen in Indien und Ceylon lange vor den Waldorfschulen etabliert. Doch wie das theosophische Profil dieser Schulen aussah, entzieht sich meiner Kenntnis. Allerdings: Steiner war in den Praxisfeldern auf Dauer viel erfolgreicher als alle seine theosophischen Konkurrenten.

Zusammengefasst und auf den Punkt gebracht: Wie definieren Sie ‹Theosophie›, wie ‹Anthroposophie›?

Beide Begriffe sind nachträglich angewandte, man könnte sogar sagen, es sind aufgeklebte Etiketten. Ich halte Versuche, Theosophie oder Anthroposophie über Definitionen dieser Begriffe zu verstehen, für Holzwege.

Neues Denken

Steiner betont immer wieder, das Geistige hinter den Phänomenen zu erkennen sei eine wesentliche Aufgabe des Menschen. Hierin bestehe auch die Selbsterkenntnis. Der Unterschied zu vielen religiös-spirituellen Richtungen besteht nach Steiner darin, bei der Suche, bei der ernsthaften Beschäftigung zur Geisterkenntnis, nicht das ICH zu trüben (etwa durch Trance) sondern durch Übungen zu stärken. Was halten Sie von diesem Ansatz, was von dem anthroposophischen Schulungsweg?

In diesem Buch arbeite ich als Historiker und müsste zuerst zurückfragen: Was hat Steiner wann zu ‹dem Geistigen› oder ‹dem Ich› gesagt? Zu klären wäre auch, wie sich der Schulungsweg mit seinen allgemein gehaltenen Regeln zu den individualisierten Anweisungen, die Steiner gegeben hat, verhält – und wie individuell diese wirklich waren. Bleiben wir beim ‹ungetrübten Ich›. In Steiners Buch ‹Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?› gibt es die Figur des Geheimlehrers. Steiner hat seine Rolle in den unterschiedlichen Auflagen zurückgeschnitten, ihn aber nie beseitigt. Deshalb gibt es die autoritären Zumutungen – und die können durchaus den personalen Freiraum (Sie würden vielleicht sagen: das Ich) einengen oder trüben, und es gibt die Aufforderungen zu eigener Erkenntnis. Die Forderungen nach Eigenständigkeit und der Akzeptanz von Autorität stehen in einem oft ungeklärten Verhältnis. Spannend ist für mich die Frage, unter welchen Bedingungen Anthroposophen und Anthroposophinnen aus Steiners Schulungsweg eher die Freiräume herauslesen und wann die autoritären Seiten. Aber die Rezeptionsgeschichte von Steiners Denken ist eine unerforschte ‹black box›.

Weiterhin fordert Steiner, die Erkenntnis höherer Welten durch exaktes quasi wissenschaftliches Vorgehen zu betreiben. Der Forscher steht aber nicht neutral ‹objektiv› neben dem zu Erforschenden, sondern ist subjektiv beteiligt oder betroffen. Dadurch stellt sich die Subjekt-Objekt-Frage neu. Wie sehen Sie diesen Ansatz?

Es gibt keine Erkenntnis außerhalb anthropologischer und sozialer Bedingungen. Ich halte objektive Erkenntnis für eine philosophische Utopie – und wenn jemand leichtfertig von objektiver Erkenntnis spricht, frage ich mich, ob er ideologisch denkt.

Kontroversen: Elixier der Wissenschaft

Im Unterschied zu vielen esoterischen Strömungen, die ‹Kopfgeburten› blieben, hat die Anthroposophie eine Vielzahl von Praxisfeldern aufgebaut. Nicht nur Wissenschaft (‹Goetheanismus›), Kunst und Architektur sind diese Gebiete, sondern auch Pädagogik, Medizin und Landwirtschaft. Auffallend ist, dass es echte Alternativen zu den gängigen Praktiken waren und sind. Wie sehen und beurteilen Sie diese Praxisfelder?

Echte Alternativen – ja, aber immer im Rahmen von gerade in Deutschland breiten und schon älteren Alternativbewegungen. In der Beurteilung der aktuellen Situation der Praxisfelder will ich mich zurückhalten. Immerhin hat ‹Weleda›-Heil­salbe einen festen Platz in unserem Haushalt... Bei jeder Bewertung ist für mich entscheidend, dass die Praxisfelder an Steiners Ambivalenz partizipieren: In der Medizin stehen Bleigaben neben homöopathischen Mitteln, in der Heilpädagogik kann die Fürsorge, so wie ich höre, entmündigen oder auch Menschen eine Lebenschance geben. Wir brauchen dringend selbstkritische Debatten, von Anthroposophen wie von Kritikern, jenseits von stiernackiger Selbstbelobigung und blinder Polemik.

Anthroposophie ist eine weltweite Bewegung. Kann sie ohne Festlegung ihrer Wesensmerkmale überleben? Führt das zu einer notwendigen Dogmatisierung? Wenn ich Steiner richtig verstanden habe, fordert er das nicht. Sondern er fordert ein freies Schöpfertum, ein forschendes Interesse und eigene Erkenntnisse. Daraus wäre eine kontinuierliche Erneuerung und Weiterentwicklung der Anthroposophie abzuleiten. Doch auch dies nicht als Dogma, sondern als offener Prozess. Genauer: Ist die Wahrheit, die Erkenntnis überhaupt zu dogmatisieren? Wie sehen die Grundlagen, wie die Umsetzung aus? Gibt es anthroposophische Dogmen? Welche? Wie sind sie aufzuheben?

Ich habe eine soziologische Außenpers­pektive: Die Anthroposophie besitzt ein Profil und erkennbare Außengrenzen. Dies liegt an konsensfähigen Positionen, die in der Anthroposophischen Gesellschaft Geltung besitzen oder denen Geltung zugesprochen wird. Das sind, mit anderen Worten, ‹Dogmen›, gemeinsame Lehren. Dass solche Lehrgehalte nicht den Namen ‹Dogmen› führen dürften, ist so anthroposophisch, dass es außerhalb der Gesellschaft praktisch niemand nachvollziehen kann. Das härteste Dogma ist die Bindung an Steiners Werk, sowohl methodisch als auch hinsichtlich der Inhalte. Steiners Werk ist der entscheidende hermeneutische Schlüssel. Und dazu zählen auch Inhalte: Steiner hat beispielsweise der Reinkarnation und ihrer Erkenntnis eine zentrale Rolle zugewiesen. Natürlich weiß ich, dass mir dann entgegengehalten wird, das sei für Anthroposophen nicht verbindlich und die Anthroposophie kenne keine Lehrtafel und so weiter. Aber faktisch halten solche Dogmen die Anthroposophie zusammen. Deshalb ist es nicht sinnvoll, sie aufzuheben. Das Problem des Dogmas der Dogmenlosigkeit liegt meines Erachtens an einer anderen Stelle: Man braucht Verfahren, über Dogmenfragen zu streiten, denn wenn man Dogmen bestreitet, entwickelt man auch keine entsprechende Streitkultur.

Die Gesellschaft ist heute von einer großen Entwicklungsbeschleunigung ergriffen, sollten sich die Anthroposophen politisch engagieren?

Natürlich. Mein Herz schlägt, offen gesagt, für die Anthroposophen, die geistige Erkenntnis und politisches Engagement verbinden wollen und nicht für jene, die Politik mit spitzen Fingern anfassen.

Verfolgen Sie das Thema Anthroposophie weiter? Würden Sie sich zum Beispiel für Gespräche einladen lassen?

Ich bin jetzt erstmal auf Kritik gespannt. Von Anthroposophinnen und Anthroposophen, die mehr Details kennen, die andere Deutungsperspektiven aufwerfen. Es ist doch klar: Irgendwann sind wir alle in unseren Vorurteilen gefangen, das geht Steiner nicht anders als mir. Überraschende Kritiken und neue Interpretationswege: Das stelle ich mir vor wie Weihnachten. Und einladen lasse ich mich natürlich gern. Ich freue mich über Auseinandersetzungen. Kontroversen, nicht Erkenntnis oder dicke Bücher sind das Elixier der Wissenschaft.

Was halten Sie von Steiners Reinkarnationsauffassung?

Als Historiker kann ich nur sagen: Sie ist ein typisches Produkt der neuzeitlichen europäischen Religionsgeschichte. Sie codiert die Logik der Reinkarnation von Strafe auf Fortschritt um. Damit bewegt sie sich aus einer fundamentalen christlichen Tradition hinaus. Denn der Schwerpunkt, und nun formuliere ich leicht prosaisch, liegt nun nicht mehr auf der Anarchie eines geschenkten Glücks, sondern auf der religiösen Eigenleistung.

Ich will nicht fragen, ob Sie ‹gläubig› sind, sondern, ob Sie eine (eigene) Vorstellung vom ‹Nachtodlichen› haben.

Ja, die habe ich, aber hier müssen Sie mit einem kleinen Geheimnis leben.