Zur Phänomenologie des Unverständnisses, Teil 1

Über Lorenzo Ravagli: »Zanders Erzählungen. Eine kritische Analyse des Werkes ›Anthroposophie in Deutsch­land‹«.

von Stefan Brotbeck

Erschienen in der Zeitschrift »Gegenwart«, Ausgabe 4/2009


Vorbemerkungen

Im Laufe der Lektüre von Ravaglis Buch sind mir so man­che Zusammenhänge aufgegangen, dass es mir lohnenswert erscheint, diese Rezension in eine Art freien Kommentar zu verwandeln mit mehreren Beiträgen. Es stehen Dinge in Frage und auf dem Spiel, die weit über die Zander-Debatte hinausgehen. Ravaglis Auseinandersetzung mit Zander – eine Klärungsarbeit, zu welcher auch schon Schriften und Beiträge von Jörg Ewertowski, Günter Röschert, Karen Swassjan und andere Wesentliches beigetragen haben – bietet zahlreiche Materialien und Befunde zu dem, was man als eine Phänomenologie des Unverständnisses oder als eine Negativhermeneutik bezeichnen könnte. Im Bild gesprochen: Unverständnis ist nicht ein Fehltritt, sondern ein verkarsteter Boden, auf dem nichts wirklich Wurzeln schlagen und wachsen kann. Es sind unfruchtbare Voraussetzungen im Spiel – eine eigenartige Form von «Witzlosigkeit», die im tiefsten Inneren Unernst ist. Es bedarf also einer Phänomenologie jener Geistlosigkeit, die unüberbietbar Kierkegaard formuliert hat: «Die Geist­losigkeit ist (...) dumm in dem Sinne, in wel­chem es vom Salz heißt: ‹wo nun das Salz dumm wird, wo­mit soll man’s salzen›? Eben darin liegt ihr Verderben, aber auch ihre Sicherheit, daß sie nichts geistig versteht, nichts als Auf­gabe erfaßt, ob sie es gleich ver­mag, mit ihrer schlei­chenden Mattheit alles zu betasten.»


Hier folgt der erste Beitrag. Fortsetzung folgt. Ich empfehle dem interessierten Leser, sich in der Zwischenzeit das Buch von Ravagli zu besorgen.

Philosophie als Quelle

Das Schwergewicht des Buches liegt auf der kritischen Auseinandersetzung mit Zanders Interpretationen der Grundschriften Steiners. Seine Kritik verbindet Ravagli mit Charakterisierungen der Methodologien und Grundgedanken der jeweiligen Schriften. Dadurch erreichen Ravaglis Ausführungen die Qualität von prägnanten Einführungen in «das Lebenswerk eines Menschen, der versucht hat, verschie­dene Wissensformen miteinander zu versöhnen: die Rationalität der Wissenschaft und die spirituelle Em­pirie.» (S. 18)

Eine orientierende Grundlage von Ravaglis Ausführungen bildet der Nachweis, dass eine Auseinan­dersetzung mit Steiner, welche die philosophischen Grundlagen vernachlässigt, keine Auseinander­setzung mit Steiner ist. Wenn wir die philosophische Sub­stanz des Steinerschen Denkens lediglich zum «Vorhäng­sel» der Anthroposophie erklären, haben wir kein Mehr-als-Philosophie, sondern bald einmal ein Weniger-als-Philosophie – und verlieren auch die Anthroposophie aus den Augen. Dass Steiners Philo­sophie von Steiner-Anhängern wie von Steiner-Gegnern immer wieder unterschätzt wird, liegt auch daran, dass gerade hier die Option zwischen Anhängerschaft und Gegner­schaft in die Irre führt, oder wie Walter Kugler in seinem Vorwort treffsicher formuliert: «Steiner braucht keine ‹Verteidiger›, aber kreative Rezi­pienten, die auf hohem Niveau mit seiner geistigen Substanz umzugehen verstehen.»

Ravagli macht deutlich, dass Zanders Interpretationen der Philosophie Steiners so anspruchslos sind, dass sie nicht in der Lage sind, kontrovers zu sein: sie bringen es nicht einmal zur Fragwürdigkeit. Ravagli stellt bitter fest: «Entweder hat er [Zander] die ‹Philosophie der Freiheit› nicht gelesen, oder er hat sie schlicht nicht verstanden, vielleicht, weil er ‹in der Hetze› der Abfassung seines Mammutwerkes Details keine so große Aufmerksamkeit schenken konnte?» (S. 83) Indem Zander die orientierende, weil selbstkritische Kraft der Philosophie und die jedem Menschen zugängliche Denk- und Erkenntniserfahrung ausklammert, verschafft er sich Freiraum, um sich in von allen philosophischen Anfechtungen freien Verhältnissen seinem Hauptinteresse zu widmen: nämlich Steiners «Anthroposophie» als eine Art Ausstülpung der Theosophie angloindischer Provenienz zu «verstehen». Dies ist natürlich keine Erfindung Zanders. Sein originärer Beitrag zu dieser immer wieder geäußerten Behauptung besteht darin, die Einführung der Anthropo­sophie als eine Art machthungrige und egomanische Abnabelung oder Abspaltung von der theosophischen Gesellschaft darzustellen. Doch auch in diesem Fall dürfte der Preis für diese fa­tale Behauptung größer sein, als der Nutzen, den Zander daraus zieht: Denn sie gefährdet gerade das von Zander beschworene (wenn auch nicht wirklich wahrgenommene) Kontextualisierungsunternehmen. Indem sie nämlich die Traditionslinien ausdünnt, ja geradezu ausblendet, an die Steiner explizit und nachweislich anschließt.

Europäische, christlich-abendländische Quellen

Ein wiederkehrendes und in seiner Bedeutung gar nicht hoch genug zu schätzendes Motiv von Ravaglis Arbeit sind die weniger in ihrer Breite als in ihrer systematischen Betonung wirksamen Hinweise auf die abendländisch-europäischen und spezifisch christlich-theosophischen Quellen des Steinerschen Denkens. Sorgfältig gezeigt zu haben, dass der angloindische Schrumpf-Steiner einzig und allein das Produkt von interpretativen Aufblähungen durch Zander ist: dafür verdient Ravagli allergrößte Anerkennung. Die Zan­dersche Suchmaschine filtert genau das Spezifische, ja den ganzen «Witz» des Steinerschen Ansatzes heraus – und konserviert den Rest, ja schwemmt ihn förmlich auf.

Zanders Rückgriff auf orientalisierende, angloindische Kompendienliteratur verdunkelt, was zu erhellen wäre. Es liegt auf der Hand, weshalb Zander auch Steiners Hinweis ignoriert, dass sein Werk Theosophie zu denselben Erkenntnissen führe wie auf einem anderen Weg Die Philosophie der Freiheit: «Wenn diese Wahrheiten durch die ‹Philosophie der Freiheit› auch gefunden werden können, dann ist jede denkbare Herleitung dieser Wahrheiten aus einer Kenntnis angloindischer, ‹theosophischer Wahrheitstraditionen› von Grund auf verbaut, denn nicht einmal Zander dürfte es gelingen, solche ‹Traditionen› in der ‹Philosophie der Freiheit› zu finden.» (S. 178)

Doch die bittere Ironie ist: Zander, der die Unterschiede banalisiert oder bagatellisiert, auf die es gerade ankommt (nämlich die von Grund auf unterschiedlichen Ansätze bei der angloindischen und bei Steiners Theosophie), ist auch der Zander, der Steiner unterstellt, Unterschiede breitzuwalzen und zu skandali­sieren, auf die es sachlich gar nicht angekommen sei: um sein machtpolitisch motiviertes Abgrenzungs­bedürfnis von der Theosophischen Gesellschaft zu befriedigen, habe Steiner die «Christologie zu einer bruchfähigen Differenz ausgebaut». In sachlicher Hinsicht ist dies eine Behauptung, die der ganzen Arbeit Steiners ins Gesicht schlägt: nämlich in Form einer schöpferischen Aneignung des europäisch-abendländischen Erkenntnisringens und in kritischer Auseinandersetzung mit der östlichen Spiritualität und der westlichen Wissenschaft eine spezifisch christliche Spiritualität ins Bewusstsein ihrer existenziellen Bedeutung zu rücken – Ravagli spricht einmal sehr schön von «Weiterbildung und Neuschöpfung» (415). In struktureller Hinsicht handelt es sich um eine Falle. Zander spielt mit Steiner das Spiel: «Kopf: ich gewinne, Zahl: Sie verlieren.» Um ihn des angloindisches Mitläufertums zu überführen, nimmt Zan­der nicht ernst, was Steiner in philosophischer Hinsicht sagt. Und um ihn der Machtallüren zu überführen, nimmt Zander wiederum nicht ernst, was Steiner in theosophiekritischer Hinsicht sagt. In Zanders Blick hat Steiner keine Chance. Am Ende wird man vielleicht sagen müssen: zum Glück – für Steiner.

Das gleiche erpresserische Muster wendet Zander auf seine Quellenfunde an. Was keine pure Erfindung ist, muss ein Plagiat sein – und was kein Plagiat ist, muss eine pure Erfindung sein. «Wo Zander ver­gleichbare Texte heranzieht, nämlich die theosophischen Literaturen, ist sein Vergleich von der Absicht beherrscht, den Nachweis einer Abhängigkeit, des Plagiats zu führen. Diese scheinbaren Beweise für Ab­hängigkeiten könnte man jedoch auch als weitgehende Übereinstimmungen, also Bestätigungen lesen. Eine solche Lesart zieht Zander jedoch nirgends in Betracht.» (S. 267)

Gerade mit Blick auf literarische und literarisch zugängliche Quellen kann uns Ravaglis Buch darauf aufmerksam machen: Nicht weniger, sondern mehr Kontextualisierung führt weiter. Der schöpferische Geist ist kein spiritueller Robinson, der alles aus sich selber schöpft – dies wäre nur das selbstsüchtige Zerrbild des freien Geistes. Nein: der freieste Geist ist vielmehr derjenige, der am intimsten mit allem verwoben ist, bis in die stillsten und verwinkelsten Winkel hinein. Unerschöpfliche Selbstmanifestation ist, ihrem Wesen nach, unermessliche Partizipationsfähigkeit. «Wenn wir den Mund aufmachen, reden immer zehntausend Tote mit», schreibt Hofmannsthal. Wenn Steiner den Mund aufmacht, redet die ganze Weltgeschichte des Denkens mit. Ganz für sich stehen kann nur, wer mit allem zusammenhängt.

»Zanders Erzählungen. Eine kritische Analyse des Werkes ›Anthroposophie in Deutsch­land‹«. Mit einem Vorwort von Prof. Dr. Walter Kugler, Berliner Wissenschafts-Verlag, Berlin 2009 (440 S., Fr. 64.- / € 39.-)


Zur Phänomenologie des Unverständnisses, Teil 2

Überlegungen im Anschluss an die Lektüre von Lorenzo Ravagli: Zanders Erzählungen. Eine kritische Analyse des Werkes «Anthroposophie in Deutschland», Berliner Wissenschafts-Verlag, Berlin 2009

von Stefan Brotbeck

Erschienen in der Zeitschrift Gegenwart, Ausgabe 2/2010


 «alle Geister sind Dem unsichtbar, der keinen hat: und jede Werthschätzung ist ein Produkt aus dem Werthe des Geschätzten mit der Erkenntnisssphäre des Schätzers.»

Arthur Schopenhauer [1]

Unverständnis bedeutet nicht einfach Nichtverstehenkönnen. Wenn wir uns einer Person verständlich machen möchten, die unsere Sprache nicht versteht, sagen wir nicht, dass wir auf Unverständnis gestossen sind. Wir sagen auch nicht, dass wir auf Unverständnis gestossen sind, wenn die Verständigung durch technische Schwierigkeiten erschwert oder sogar verunmöglicht wird (zum Beispiel durch Abbruch der Telefonleitung).

Wenn Unverständnis nicht einfach auf Nichtverstehenkönnen beruht, so entsteht die Frage: worauf denn dann? Auf Nichtverstehenwollen. Im Kern des Nichtverstehenwollens steckt Angst vor (Selbst-)Veränderung durch Verstehen. Verstehen ist kein behagliches Durchwinken – es kann Nebenwirkungen zeitigen, mit denen man nicht gerechnet hat. Manchmal sogar Wendungen und Bewegungen, die existenzielle Grundlagen umpflügen.

Verstehen bewegt sich jenseits von blindem Lob und blindem Tadel, von Anhängerschaft und Gegnerschaft, die ja beide nur zwei Formen sind, den Eigenwert des Zu-Verstehenden an die eigene Trägheit zu verspielen – wobei das Verteidigen der eigenen Trägheit keineswegs träge wirken muss, sondern, ganz im Gegenteil, sich in einem hektischen Aktivismus ergehen kann: Wir scheuen bekanntlich keine Anstrengung, uns zu verteidigen, wenn es unserer Bequemlichkeit an den Kragen geht.

Illusionen des Verstehens

Aufschlussreicherweise geben wir Nichtverstehenkönnen bereitwillig zu («bitte lauter sprechen!»), während wir Unverständnis in einer Wolke des Pseudo-Verstehens unsichtbar zu machen versuchen. Wir tun alles, um unser Unverständnis nicht als das erscheinen zu lassen, was es ist. Unverständnis und die Illusionen des Verstehens sind fast eines. Wie viele «Anhängerschaften» und «Gegnerschaften» beruhen auf diesen Illusionen?

Es ist bitter, eine Sicht zu «teilen», die man zu verstehen glaubt, aber in Wirklichkeit gar nicht versteht. Noch bitterer ist es, eine Sicht abzulehnen, die wir nicht einmal in ihren Anfangsgründen erfasst haben. Hinzu kommt, dass beide Illusionstypen fast immer in Personalunion vorkommen. Wie viele Steiner-Anhänger glauben bei Steiner das zu finden, was faktisch mit dem zu tun hat, was sie – wiederum unter Berufung auf Steiner – ablehnen zu müssen glauben. Konkret: Wie viele glauben, in Steiner jenes höhere Medium zu finden, was vielmehr mit jener spiritistischen Seichtigkeit zu tun hat, die man wiederum unter Berufung auf (aber ohne Verständnis für) Steiner dezidiert ablehnt.

Wer stehen bleibt, kann nicht verstehen. Stehen bleiben können wir auf ganz verschiedene Arten.  Ich möchte zwei Verfahren skizzieren, die unser Nichtverstehenwollen gleichsam mit einem guten Gewissen versehen:

– Statt den Horizont des Anderen kennenzulernen, unterstellen wir ihm, was wir bereits kennen, wobei wir dem Anderen justament das unterstellen, was uns selber in den Gliedern sitzt.

– Statt ein Phänomen zu profilieren, entwerten wir es, indem wir es auf eine ihm fremde Ebene ziehen und hier negativ aufladen und zum Objekt unserer Sorge machen.

Unterstellungen

Die Unterstellung gehört zu den beliebtesten Selbstkaschierungstechniken des Unverständnisses. Es handelt sich um Voraussetzungen, die wir in die Auseinandersetzunge mit einem Werk hineintragen, wobei wir alles versuchen, dass eben diese Voraussetzungen durch die Auseinandersetzung mit dem Werk keine Veränderung erfahren. Eben dadurch verhärten sich die Voraussetzungen zur systematischen Voreingenommenheit, die eine fruchtbare, weiterführende, kreative Auseinandersetzung mit einem Werk und dem von ihm ins Spiel gebrachten Welt- und Selbstverständnis verhindern. Wir liegen gleichsam auf der Lauer, um von ja nichts überrascht zu werden, was unsere Voraussetzungen übersteigt oder auch nur in Frage stellt. Wir haben keine offenen, sondern geschlossene Erwartungen – Fixierungen.

Ravagli spricht wiederholt von «fixen Ideen», die das Profil des Zanderschen Menschenbildes prägen: Hierzu gehört vor allem «die ubiquitäre Anwendung der Machtkategorie» (S. 33), autoritäre Neigungen, Unwahrhaftigkeit und dergleichen mehr. «Erkenntnisdifferenzen werden in Machtkämpfe, und Unvereinbarkeiten von Ideen in persönliche Animositäten und Rivalitäten umgedeutet.» (S. 65) Die Unbedarftheit dieser Unterstellungen kontrastiert auf schmerzliche Weise mit dem Aufwand ihrer Verschleierung. Als Wattierungsmaterial dienen die häufig nur assoziativ herbeigerafften «Quellen» (Seiten 184, 189, 203, 306, 315 u.a.) Diese Quellen erinnern zuweilen an Staubaufwirbelungen zur Ablenkung von den ernüchternden Grundlagen, die offensichtlich den Motivationshorizont des Interpreten umreissen: «Zanders Denken ist vom Streben nach Macht und der Wahrnehmung sozialer Beziehungen als Konkurrenzbeziehungen beherrscht. Da diese Denkstruktur als ontologische oder lebensweltliche Voraussetzung in den Forschungsprozess eingeht, lenkt sie sowohl seinen Blick auf die Fakten als auch seine kategoriale Deutung des aufgefundenen Materials. Die unaufgeklärten Voraussetzungen wandern in die Rekonstruktion des Gegenstandes und seine Interpretation ein und lassen ein Bild entstehen, in dem sich der vorurteilsbehaftete Blick des Forschers widerspiegelt.» (S. 37)

Zanders Auseinandersetzung mit Steiner hat es darauf angelegt, zu ruinieren, womit sie sich schmückt, nämlich eine wissenschaftliche, nüchterne, unvoreingenommene oder vielmehr die eigene Perspektive reflektierende Auseinandersetzung mit Steiners Denken. Mit Blick auf diesen von Ravagli immer wieder angesprochenen Mangel an Selbstreflexion und «die fehlende selbstkritische Reflexion über die hermeneutischen Kategorien und ihre Rechtfertigung» (S. 22) möchte man an Hegels glänzende Ergänzung eines französischen Sprichworts erinnern: «Es gibt keinen Helden für den Kammerdiener; nicht aber weil jener nicht ein Held, sondern weil dieser – der Kammerdiener ist» [2] Natürlich hat das mit dem zu tun, was wir als Projektion bezeichnen. Ravagli spricht denn auch geradewegs von «Projektionen Zanders» (S. 248). Wer projiziert, sieht die eigenen Antriebe in andere Menschen hinein und verfolgt und bekämpft sie hier.

Entwertende Umdeutungen

Die Unterstellungsarbeit kann so weit gehen, dass das «Interpretandum» (die Sache, die zu verstehen wäre) mit einer Reihe von manipulativen Techniken dem Bild angepasst wird, das man von ihm hat (in psychodynamischer Hinsicht spricht man von projektiver Identifizierung). Wir müssen deshalb die Kritik der Unterstellung als Entwertungs- und Diskreditierungstechnik spezifizieren.

Wir bringen ein Phänomen in ein schiefes Licht, indem wir es begrifflich zum Gegenpol eines positiv besetzen Phänomen auf einem anderen Feld machen. Das Heimtückische dieses Verfahrens besteht darin, dass dem diskreditierten Phänomen eben dadurch die ganze Semantik des Gegenpols zum positiv besetzten Begriff angehängt wird. Exemplarisch gesprochen: Wir diskreditieren den erkenntnisbasierten Freimut, indem wir ihn zum Gegenpol demokratischer Diskussionen erklären. Resultat: Ein freimütiger Mensch wird da zum elitären Anti-Demokraten.

Das Zandersche Entwertungs- und Diskreditierungsverfahren lässt keine Steiner-Schriften aus, nicht einmal die philosophischen Frühschriften: «Warum interpretiert Zander in die frühen Steinerschriften einen essentialistischen Intuitionismus hinein, der auf nicht-empirischem Weg zur Schau des Wesens der Dinge gelangen will? Weil er diese systematische Position benötigt, um später daraus die angeblichen Absolutheitsansprüche der theosophischen Erkenntnis abzuleiten. Essentialismus und Intuitionismus wie Zander sie versteht, sind für ihn mit Abwertung der Erfahrung der Sinneswelt, mit autoritären politischen Vorstellungen, mit Dogmatismus, kurz, dem ganzen Katalog politischer Unkorrektheiten verbunden, der auf Steiner abgeladen werden soll, um ihn und die Anthroposophie zu diskreditieren.» (60)

Devotion erscheint dann plötzlich als autoritäres Motiv, personales Vertrauen als Blauäugigkeit, Selbstbestimmung als Selbstgerechtigkeit, Wahrheitstreue als Rechthaberei, Anregung durch andere Quellen als Plagiat, Offenherzigkeit als Aufdringlichkeit (und so weiter und so fort). Der Umdeutungsfuror macht all die Zwangsmaskierungen sichtbar, mit denen Zander seinem Interpretandum auf den Leib rückt.

Doch wie die Unterstellungen den Untersteller verraten, so auch die Umdeutungen den Umdeuter. Wer institutionelle Sicherheit sucht (und sich hinter Namen versteckt), wird nicht müde, als selbstgerechte Allüren zu diskreditieren, was auf eigenen Füssen steht. Wer von Misstrauen gegen die Selbstbestimmungsfähigkeit der Menschen erfüllt ist, wird nicht müde, als unzuverlässige Blauäugigkeit zu diskreditieren, was auf personalem Vertrauen beruht.  Wer gar nicht damit rechnet, dass einer etwas zustande bringt, was nicht bereits anderswo steht, wird nicht müde, als blosse Erfindung abzutun, was nicht bereits anderswo seht. Und wer gar nicht damit rechnet, dass das Studium von Schriften zu originären Gedanken anregen kann, wird nicht müde, als Plagiat zu entwerten, was auf sie Bezug nimmt. Und wer von Ressentiment gegen die Freiheit erfüllt ist, wird nicht müde, als Machtgehabe zu diskreditieren, was Ausdruck der (letztlich alle Aufklärung begründenden) Autorität des Denkens ist.


[1] Parerga und Paralipomena. In: Werke in zehn Bänden. Zürcher Ausgabe. Zürich 1977, Bd VIII, 488. [Zurück zum Text]

[2] Georg Friedrich Wilhelm Hegel: Phänomenologie des Geistes (1807). Frankfurt a.M. 1973, 489. [Zurück zum Text]


Zur Phänomenologie des Unverständnisses, Teil 3

Überlegungen im Anschluss an die Lektüre von Lorenzo Ravagli: Zanders Erzählungen. Eine kritische Analyse des Werkes «Anthroposophie in Deutsch­land». (Berliner Wissenschafts-Verlag, Berlin 2009)

von Stefan Brotbeck

Erschienen in der Zeitschrift Gegenwart, Ausgabe 3 / 2010


Deutungsblindheit

Ravaglis Untersuchungen machen eine Deutungsblindheit sichtbar, die zugleich ihre Blindheit verschleiert, indem sie sich zum System erhebt und als «Vorurteilslosigkeit» erklärt. «Im Falle Zanders erweist sich die behauptete Vorurteilslosigkeit als eine besondere Form des Vorurteils.» (S. 22) Worin besteht diese Deutungsblindheit? Es handelt sich um die Verniedlichung und Entkernung des existenziellen Erkenntnis- und Wahrheitsanspruchs eines Werkes im Namen seiner zeitgeschichtlichen Kontextualisierung.

Wir können geradezu von einem theoretizistischen Fehlschluss sprechen, der den akademisch verwertbaren Zugang mit dem Gehalt seines Gegenstandes verwechselt. In einem Bild gesprochen, das zugleich mehr als ein Bild sein dürfte: Die Tatsache, dass wir Mahlzeiten auch in Form von Speisekarten darstellen können, verführt am Ende zur Ansicht, wir würden uns von Speisekarten ernähren.

Wir wissen dann zum Beispiel Un­mengen über Dinge (oder vielmehr: über das Vorkommen von Ausdrücken, die im besten Falle für Dinge stehen), die für andere Personen Hand­lungsideen waren. Nicht, dass wir uns nicht auch auf theoretische Weise mit einem von Grund auf praktisch orientierten Denken wie dem Steinerschen beschäftigen dürften. Ihren Gegenstand verfehlen diese Analysen aber immer dann, wenn sie vergessen machen, dass sie von dem zehren und profitieren, was andere nährt und bereichert. Wir hätten ja nicht einmal die Möglich­keit, die Handlungsideen anderer Menschen zu unserem Gegentand zu ma­chen, wenn für andere Menschen die Handlungsideen auch lediglich zitierbare Sätze und nicht vielmehr existenzielle Überzeugung gewesen wären. Eine existenzielle Überzeugung aber wäre keine existenzielle, wenn sie nicht in der Wahrheitsfrage stünde. Wer also von diesen Überzeugungen profitiert (zum Beispiel als Material für akademische Selbstprofilierungsprosa), ohne sie in ihrem Wahrheitsanspruch ernst zu nehmen, verfehlt den Gegenstand seiner Untersuchung viel peinlicher, als dies durch unzählige Zitier- und andere Fehler der Fall sein könnte. Weshalb betont Steiner, dass Anthroposophie als bloße Theorie eine Anthroposophie ohne Anthroposophie ist?

Worauf Steiner als Anregung zur existenziellen Aufklärung hinweist, erscheint nun als bloßer Gegenstand, am Ende sogar nur als Wort, das wir gewissermaßen mit einer Suchmaschine herausfiltern und diskursiv aufschwemmen können. Zanders zeitgeschichtliche Kontextualisierung erinnert an «eine Oberflächenkunde, die sich an sprachlichen Assoziationen und zeitlichen Koinzidenzen entlang bewegt» (S. 122). Gerade die Oberflächlichkeit der Steiner-Auseinandersetzung verrät: Es gibt Dinge, die man nur mit der Arbeit des Denkens, nicht mit purem Fleiß des Zusammenlesens und Zusammenzitierens leisten kann (dass Betriebsamkeit zwar zu oberflächlicher Produktivität führen, fehlende Denk- und Gestaltungsanstrengung aber nicht wettmachen kann, hätte Zander ja für einmal durchaus der anthroposophischen Sekundärliteratur entnehmen können).

Auf dem Trockenen

Wie man uns zuweilen Rettungsringe zuwirft die uns am Schwimmen hindern, so gibt es auch eine Quellenforschung, die sich selber das Wasser abträgt und ad absurdum führt. Das Grundproblem aller auf sich selbst kurzgeschlossenen Kontextualisierungen ist, dass sie sich auf das berufen, womit sie ihren eigenen Voraussetzungen nach gar nicht rechnen dürfen. Wenn unsere Überzeugungen einfach das sind, was wir durch die Kiemen unserer Sozialisation aufnehmen, bliebe bald nichts mehr von dem übrig, was wir durch die Kie­men unserer Sozialisa­tion aufnehmen könnten. Damit hängt ein besonders dankenswertes Moment von Ravaglis Untersuchungen zusammen. Ravagli macht darauf aufmerksam, dass Zanders Quellensuche offensichtlich ständig von dem zehrt, was sie stillschweigend bestreitet – wobei sich womöglich gerade aus diesem Widerspruch die Verbissenheit des Quellensuchers erklärt, die «zwanghafte Suche nach äußerlichen Erklärungen für die inneren Zusammenhänge in der systematischen Entwicklung der Darstellungen Steiners.» (S. 169)

Worin besteht dieser Widerspruch? Ravagli bringt ihn folgendermaßen auf den Punkt: «Das Grundproblem des Forschungsansatzes, dem Zander folgt, besteht darin, dass er diese intuitiven Evidenzen, die sich aus dem denkenden Nach-, Mit- und Neuvollzug begrifflicher Denkinhalte ergeben, systematisch ignoriert. Um die Beweiskraft eines ideellen Inhaltes verstehen zu können, ist erforderlich, dass dieser ideelle Inhalt durch eigene Denkaktivität erst hervorgebracht wird. [...] Wo dieser ideelle Quellgrund ausgeblendet wird, muss nach anderen Quellen gesucht werden, die jedoch wieder vor dasselbe Problem stellen wie jene, denen man die Authentizität abspricht.» (S. 188 f.)

Ravagli erkundigt sich lakonisch, «aus welchen Quellen denn die christliche, hinduistische und mahayana-buddhistische Literatur und alle anderen spirituellen Traditionen geschöpft haben. Haben deren Autoren denn auch alle voneinander abgeschrieben oder konnten und können sie bis heute vielleicht auf authentische spirituelle Erfahrungen zurückgreifen?» (S. 189) Oder: «die Skepsis ist nur dann nicht selbstwidersprüchlich, wenn sie sich auf alle Quellen erstreckt. Um im Bild zu bleiben: alle denkbaren Zuflüsse müssten wiederum aus anderen Zuflüssen abgeleitet werden, es gibt keine aus sich selbst fließende Ursprungsquelle. Die Frage, wo das Wasser letztlich herkommt, bleibt dann natürlich unbeantwortbar.» (S. 259)

Quellen-Phänomenologie

Wir haben bereits das erpresserische Muster erwähnt, welches Zander auf seine Steiner-Lektüren anwendet. Wenn Steiner etwas sagt, wofür Zander keine Quelle findet, haben wir die Quelle einfach noch nicht gefunden, oder es handelt sich um das «quellenlose» Phantasieprodukt einer Ein-Mann-Wissenschaft, und wenn sich für das, was Steiner sagt, Quellen finden lassen, ist es auch nicht recht, sondern ein Plagiat.

«Wo Zander vergleichbare Texte heranzieht, nämlich die theosophischen Literaturen, ist sein Vergleich von der Absicht beherrscht, den Nachweis einer Abhängigkeit, des Plagiats zu führen. Diese scheinbaren Beweise für Abhängigkeiten könnte man jedoch auch als weitgehenden Übereinstimmung, also Bestätigungen lesen. Eine solche Lesart zieht Zander jedoch nirgends in Betracht.» (S. 267)

Eines ist es, historische Quellen zu finden, die Dinge ansprechen, die man aus eigener Erfahrung kennt oder in der eigenen Erfahrung nachvollziehen kann (das Quellenstudium bedarf also intensivster Hingabe und Denkanstrengung). Ein anderes ist es, sich auf Quellen zu berufen, ohne daran zu denken, einen individuell-existentiellen Zugang zu dem zu suchen, was sie ansprechen (man beruft sich dann auf Quellen wie auf eine Autorität). «Die entscheidende Frage ist (...), ob Steiner an diese Diskurse und ihre Inhalte anknüpfte, um mit Hilfe der in der Theosophischen Bewegung vertrauten, gedanklichen und sprachlichen Traditionen seine eigenen Erfahrungen und Erkenntnisse zu illustrieren, oder ob er gar keine eigenen Erfahrungen und Erkenntnisse besaß, sondern sich diese erst aus der theosophischen Literatur aneignen musste, um später unter Ableugnung dieser Tatsache das Angelesene und Angeeignete als eigenständige Schöpfung auszugeben.» (S. 124)

Doch wir haben nicht nur die Wahl zwischen Quellen, die lediglich dazu dienen, eigene Erfahrungen zu illustrieren (als im Prinzip überflüssige Wiederholungen dessen, was wir auch ohne diese Quellen entdeckt haben), und Quellen, die uns Dinge vermitteln, die nicht auf eigener Erfahrung beruhen (die wir uns also gewissermaßen «anlesen»).

Wenn sich Ravagli – völlig zurecht – gegen die Kompilatoren- und Plagiatorenvorwürfen wendet, so scheint mir andererseits seine Einschätzung der Fruchtbarkeit von Quellen eine Spur zu reserviert auszufallen. Ravagli weist wiederholt darauf hin, dass Steiner Elemente aus der Tradition nicht als «Quelle» für seine «Ansichten», sondern lediglich als «eine Referenz» auffasst, «an der er eigene, analoge Anschauungen illustriert.» (118; vgl. 113, 158, 161) Doch es gibt auch eine dritte Möglichkeit, die gerade für Steiners Gebrauch der Quellen charakteristisch ist: Historische Quellen als geistesgeschichtliche Anstoßgeber, die unsere Geisteskräfte wachrufen und eben dadurch zu Inspirationsquellen werden. Diese Quellen stehen nicht im Gegensatz zu originärer Erfahrung und autonomer Gedankenbildung, sondern rufen diese wach, ja fordern sie wegweisend heraus. Bei den Quellen, die weder autoritativ noch bloß illustrativ sind, verhält es sich wie mit der Situation in der Philosophie der Freiheit: Der situative Lebenszusammenhang kann moralische Intuitionen anstoßen – er wirkt als Frage, die uns zu intuitiven Antworten (den Handlungsideen) anregt, die wir wiederum als liebevolle Frage an die Situation ins Leben rufen. Wir bezeugen intutiv, was sich situativ zeigt, um wiederum situativ zu bezeugen, was sich intuitiv zeigt.

Das Anknüpfen an Bestehendes und an vielfältige Traditionen ist nicht nur ein von Steiner geduldetes Verfahren, das er sozusagen in Kauf genommen hat, sondern ein von Steiner sorgfältig gepflegtes Interesse. Wo immer es ihm möglich war, knüpfte Steiner an: «Es ist unmöglich, in irgendein Gebiet hineinzukommen, ohne sich zuerst zu verbinden mit dem, was schon von den älteren Brüdern der Menschheit erforscht und geschaut worden ist. Es ist in der geistigen Welt gesorgt, dass keiner ein sogenannter Eigenbrötler werden und sagen kann: Ich kümmere mich nicht um das, was schon vorhanden ist, ich forsche für mich allein. (...) Dieses Gesetz begründet zuinnerst eine universelle Brüderlichkeit, eine wahre Menschenbruderschaft.» [1] Die Referenz (das Bezugnehmen auf eine Quelle) ist dann immer auch eine Empfehlung und Einladung zur Auseinandersetzung mit dieser Quelle, und man erweist mit dieser Referenz auch der Tradition seine Reverenz (Ehrbezeugung).

Wie wir uns nur auf das einlassen können, wovon wir nicht abhängig sind, so können wir auch nur aus Quellen schöpfen, wenn wir selber schöpferisch sind. Quellen können uns nur dann etwas sagen, wenn unsere Erkenntnisse sich nicht in dem erschöpfen, was sie uns sagen. Nicht das Arbeiten mit Quellen ist also das Problem, sondern deren Instrumentalisierung zur Vergleichgültigung des Wahrheitsanspruchs eines wahrhaft quellenträchtigen Werkes.

Es geht nicht darum, Unfruchtbares zu bekämpfen. Es geht darum, Unfruchtbares zu durchschauen und der eigenen Blindheit ein Stückchen Klarsicht abzuringen. Hierzu trägt auch die Frage bei, wie weit wir aus einer Auseinandersetzung Motive existenzieller Selbsterkenntnis schöpfen können. Kritik, die nicht den Kritiker verändert, ist ein ebenso besserwisserisches wie leeres Spiel und kommt über das Niveau eines höheren Tontaubenschießens nicht hinaus.

Dieses Selbsterkenntnismotiv ist um so wichtiger, als wir uns ja immer und immer wieder fragen müssen: Zu welcher Art von Quelle gehört für uns Steiners Werk? Ist sie für uns eine bloße Autoritätsquelle? Oder ein bloßes Schmuckwerk zur Bestätigung von eigenen Erfahrungen? Oder ist sie wirklich eine Inspirationsquelle, eine schöpferische Quelle für schöpferische Geister?

An Dringlichkeit und Fruchtbarkeit gewinnen diese Fragen gerade vor dem Hintergrund der denkwürdigen Aussage, mit welcher ich diese skizzenhafte Beiträge abschließen möchte: es ist die Aussage, «dass man Anthroposophie, insoweit sie im geschriebenen und gesprochenen Wort Steiners Gestalt angenommen hat, nicht als abgeschlossen betrachten kann, sondern nur als Fragment. Die gesamte Anthroposophie ist in diesem Sinn Fragment, unabgeschlossener Entwurf, nicht nur das Fragment namens Anthroposophie (GA 45). Das Bewusstsein, das der Flüssigkeit des von Steiner hinterlassenen Wortkorpus Rechnung trägt, ist durch diese Eigenart der Steinerschen Logoi vor Dogmatisierung geschützt und aufgerufen, das unvollendete Projekt weiter zu führen.» (S. 369 f.)


 

[1] R. Steiner: Das Prinzip der spirituellen Ökonomie im Zusammenhang mit Wiederverkörperungsfragen. Ein Aspekt der geistigen Führung der Menschheit. GA 109 (1965), 168 (Vortrag 4. Juni 1909) [Zurück zum Text]