Vom sinnvollen Umgang mit Helmut Zanders Quellenfunden

von Anna-Katharina Dehmelt

Erschienen in »Die Drei«, 4/2008, Forum Anthroposophie


Über Helmut Zanders 1800-Seiten-Werk Anthroposophie in Deutschland ist viel geschrieben worden. Von anthroposophischer Seite wurde seine Arbeit überwiegend abgelehnt.1 Der Hauptgrund dafür dürfte seine Weigerung sein, Anthroposophie aus sich heraus zu verstehen. Er möchte eine Außenperspektive einnehmen, aus der er sich auf historische Fakten stützt und nicht auf Erklärungsweisen der Anthroposophie aus Anthroposophie selbst heraus.2 Folgerichtig sind die Ergebnisse geistiger Forschung für Zander nichts, was vor seinem Historikerblick aus sich heraus Gültigkeit haben könnte. Das Werk Rudolf Steiners wird ihm so entweder zum Plagiat aus Quellen, die Rudolf Steiner vorgelegen haben oder vorgelegen haben könnten, oder zur Erfindung, deren Wirklichkeitsgehalt für Zander zumindest offen bleiben muss. Auch seine weiteren Schlussfolgerungen aus seinen Funden sind fragwürdig. Da er den Selbstzeugnissen Steiners nicht traut, wird Steiners schöpferische Potenz auf Macht- und Karrierestreben reduziert. Überhaupt geht bei Zander Individualität und geistige Leistung Rudolf Steiners in Umweltbedingungen und -einflüssen fast restlos unter. Die Weigerung Zanders, sich auf die Anthroposophie um ihrer selbst willen einzulassen, verbunden mit seinem angriffslustigen Schreibstil, machen die Lektüre seines Buches für Menschen, die mit der Anthroposophie verbunden sind, schwierig bis unerträglich.

In den Feuilletons der großen deutschen Zeitungen ist Zanders Arbeit hingegen überwiegend positiv aufgenommen worden. Der Versuch einer historischen Verortung der Anthroposophie wurde auch da begrüßt, wo Zanders Defizite im Verständnis der Anthroposophie durchaus gesehen werden.3 Offensichtlich gibt es in der intellektuellen Öffentlichkeit ein Bedürfnis nach historischer Verortung der Anthroposophie, würde sie dem akademischen Publikum doch eine Auseinandersetzung mit ihr ermöglichen, ohne sich dem Verdacht auszusetzen, einer Weltanschauungsgemeinschaft beigetreten zu sein.

Zanders Anliegen werden die Feuilletons weit besser gerecht als die Kritiken von anthroposophischer Seite. Denn es ist gar nicht seine Absicht, Anthroposophie aus sich heraus zu verstehen. Wiederholt betont er, über den geistigen Gehalt von Steiners Werk nicht urteilen zu wollen.4 Zanders Anliegen ist es, Material für eine historische Einordnung zusammenzutragen und es einer ersten Interpretation zu unterwerfen.5 Ihm ist wohl im Verlauf seiner Arbeit selbst klar geworden, auf wie dünnem Boden seine ohne wirkliches Verständnis gezogenen Schlussfolgerungen stehen, denn im Nachwort gesteht er mangelndes Verständnis ein und wünscht sich, dass von anthroposophischer Seite mit seinen Funden weitergearbeitet werde. In diesem Sinne, als Materialsammlung, ist seine Arbeit durchaus von Wert und kann unter dieser Perspektive auch für Menschen, die mit Anthroposophie verbunden sind, interessant sein.

Liest man Zanders Buch unter diesem Blickwinkel, so stößt man auf eine große Fülle an Informationen über Rudolf Steiners soziales und geistiges Umfeld. Man findet beispielsweise das Dramenschaffen zur Zeit der Entstehung der Mysteriendramen dargestellt, man wird bekannt gemacht mit den künstlerischen Bestrebungen in der Architektur oder den Bewegungskünsten (bis hin zur Wiederentdeckung der eurythmischen Ton-Laut-Konkordanzen bei J.M. Hauer), oder es werden Bestrebungen zur Gründung von Religionsgemeinschaften vorgestellt.6 Zwar ist vieles davon nicht neu, aber in dieser Dichte andernorts nicht leicht aufzufinden.

Am interessantesten dürften Zanders Funde aus dem theosophischen und okkultistischen Umfeld Rudolf Steiners sein. Man erfährt, wie man um die Jahrhundertwende über die Rosenkreuzer dachte7 oder wie ein freimaurerisches Ritual ausgestaltet war.8 Zander hat vieles über theosophische Lehrinhalte zusammengetragen,9 gipfelnd in der Zusammenstellung einer virtuellen Bibliothek, in der verzeichnet ist, welche theosophische Literatur Rudolf Steiner nachweislich gekannt hat.10

Auch wenn man Zanders Schlussfolgerungen aus seinen Funden nicht teilt, so zeigen sie doch, wie sehr Rudolf Steiner in seinen Fragestellungen und Bestrebungen an den Fragestellungen und Bestrebungen seiner Zeit und seines Umfeldes teilnahm. Würde man dieses Material – gestützt auf ein wirkliches Verständnis der Anthroposophie – nach und nach aufarbeiten, so würden daran die äußeren Entstehungsbedingungen der Anthroposophie ersichtlich. Nach hundert Jahren wird es für die weitere Pflege der Anthroposophie förderlich sein, ihre historischen Entstehungsbedingungen kennenzulernen und verwandelnd abzustreifen, ohne dabei ihr Wesen preiszugeben – so wie man auch die Lebensbedingungen einer vergangenen Inkarnation abstreift, ohne sich dabei zu verlieren. Die Entstehungsbedingungen, die mit dem Wachsen der Anthroposophie innerhalb der Theosophischen Gesellschaft einhergehen, sind noch weitgehend unbekannt. Gerade dafür stellt Zander reichhaltiges Material bereit.

Die Fahrzeuge der Atlantier

Es sei nun beispielhaft einem Fund Zanders, den er übrigens J.W. Hauer aus dem Jahre 1922 verdankt, nachgegangen, weil er in überschaubarer Weise Rudolf Steiners Umgang mit der vorliegenden theosophischen Literatur erhellen kann.11

In dem 1904 in der Zeitschrift Luzifer-Gnosis erschienenen Aufsatz »Unsere atlantischen Vorfahren« von Rudolf Steiner findet sich folgende Passage: »So wurden die in geringer Höhe über dem Boden schwebenden Fahrzeuge der Atlantier fortbewegt. Diese Fahrzeuge fuhren in einer Höhe, die geringer war als die Höhe der Gebirge der atlantischen Zeit, und sie hatten Steuervorrichtungen, durch die sie sich über diese Gebirge erheben konnten ... Die genannten Fahrzeuge der Atlantier wären in unserer Zeit ganz unbrauchbar. Ihre Verwendbarkeit beruhte darauf, dass in dieser Zeit die Lufthülle, welche die Erde umschließt, viel dichter war als gegenwärtig.«12

In William Scott-Eliotts 1896 erschienener Schrift Atlantis nach okkulten Quellen findet sich nach ausführlichen Schilderungen von Bauweise und maschinellen Vorrichtungen der atlantischen Luftfahrzeuge diese Passage: »Die Flughöhe belief sich nur auf einige 100 Fuß, so dass, wenn hohe Berge in der Fluglinie lagen, die Richtung gewechselt und der Berg umfahren werden musste, – die verdünntere Luft leistete nicht länger die nötige Stütze. Hügel von etwa 1000 Fuß Höhe waren das Höchste, was überfahren werden konnte.«13 Die Ähnlichkeiten springen ins Auge. Bezüglich der Um- bzw. Überfahrung der Gebirge sieht Zander einen Unterschied zwischen Scott-Elliot und Steiner, für dessen Erklärung er sich nach dem Stand der Flugtechnik und ihrer Veränderung zwischen 1896 und 1904 erkundigt hat. Er stellt fest, dass in der bei Steiner dargestellten Möglichkeit, höhere Berge zu überfliegen, sich genau der Fortschritt von ballonartigen Luftschiffen zu lenkbaren Motorflugzeugen mit Flügeln widerspiegelt. Ballonfahrzeuge sind in der Höhe durch die abnehmende Dichte der Luft begrenzt; Flügelfahrzeuge können dieses Problem bis in weit größere Höhen überwinden.

Man ist zunächst einmal frappiert von diesem Fund, lässt sich doch der Zusammenhang zwischen Steiner und Scott-Elliot nicht von der Hand weisen. Womit hat man es hier zu tun? Hat Rudolf Steiner abgeschrieben und nicht genau aufgepasst, so dass ihm einige Veränderungen unterliefen? Hat Rudolf Steiner selbständig geforscht, ist zu ähnlichen Ergebnissen wie Scott-Elliot gekommen, und die Parallelität mit der Flugtechnik-Entwicklung ist reiner Zufall? Wie sonst lassen sich Zusammenhang und Unterschied erklären?

Schauen wir etwas genauer, wie sich Rudolf Steiners Aufsatz zu dem Büchlein von Scott-Elliot verhält. Es handelt sich bei Steiners Aufsatz um seine erste schriftliche Äußerung zu dieser Thematik, und er gibt selbst, was auch Zander nicht verschweigt, Scott-Elliot als Quelle an: Vieles über Atlantis »kann der Leser in dem Büchlein Atlantis, nach okkulten Quellen von W. Scott-Elliot nachlesen. Hier sollen Mitteilungen gegeben werden über diese uralte Kultur, welche Ergänzungen bilden zu dem in jenem Buche Gesagten. Während dort mehr die Außenseite, die äußeren Vorgänge bei diesen unseren atlantischen Vorfahren geschildert werden, soll hier einiges verzeichnet werden über ihren seelischen Charakter und über die innere Natur der Verhältnisse, unter denen sie lebten.«14

Steiners damalige Leser dürften Scott-Elliots Buch gekannt haben. Nach der Lektüre von Steiners Aufsatz waren sie sich sicher, dass Steiner von genau derselben Atlantis spricht wie Scott-Elliot: Es gab sieben aufeinander folgende Völker mit bestimmten Namen, bestimmten gesellschaftlichen Formen und kulturellen Errungenschaften; diese Völker hatten noch kein Denkvermögen und begannen erst in der fünften Epoche allmählich, dieses auszubilden; Atlantis war untergegangen durch eine Flutkatastrophe in Folge des Missbrauchs der Beherrschung von Naturkräften. Dem damaligen Leser dürfte auch aufgefallen sein, dass Rudolf Steiners Schilderungen weit weniger detailliert sind. Die marginalen Abweichungen von Scott-Elliot in den Details dürften hingegen kaum aufgefallen sein, kennzeichnet sie doch Steiner wie bei den Luftfahrzeugen nicht ausdrücklich. Außerdem dürfte dem Leser aufgefallen sein, wie stark Steiner gleich im ersten Satz betont, dass die Atlantis völlig verschieden von der heutigen Kultur war. Bei Scott-Elliot hatte ihn doch vieles an die eigene Gegenwart erinnert, angefangen von der republikanischen Staatsform über den Übergang von Elementar- zu Hochschulen bis hin zu detailliert beschriebenen Kolonisationen. Insbesondere aber dürfte dem damaligen Leser aufgefallen sein, dass Steiner einen völlig neuen Begriff einführt: »Der logische Verstand ... fehlte den ersten Atlantiern ganz. Dafür hatten sie ein hochentwickeltes Gedächtnis.«15 Bei Scott-Elliot war nur ganz allgemein von »psychischen Fähigkeiten« die Rede gewesen, die er, ebenso diffus, mit Bulwer-Lyttons »Vril« und dem Keely-Motor in Verbindung brachte.16

Wie es funktionieren konnte

Das hochentwickelte Gedächtnis wird nun in Steiners Aufsatz zum Schlüssel, aus dem die ganze atlantische Kultur herausentwickelt und dadurch erst verständlich wird. Bei Scott-Elliot handelt es sich um recht zusammenhanglose Einzelheiten; bei Steiner kommt Zusammenhang in die Details, sie werden erklärbar als Erscheinungsformen einer Kultur, die auf das Gedächtnis gebaut ist. Gemeineigentum, Ahnenkult und Erbfolge der Atlantier werden ebenso verständlich wie die parallel zur zunehmenden Denkkraft zunehmende Gesetzes- und Regeltreue.17 Insbesondere aber kann Steiner die Beherrschung der Lebens- und Naturkräfte erhellen: »Mit dem Wesen der einen menschlichen Kraft hängen immer andere zusammen. Das Gedächtnis steht der tieferen Naturgrundlage des Menschen näher als die Verstandes-kraft, und mit ihm im Zusammenhange waren andere Kräfte entwickelt, die auch noch denjenigen untergeordneter Naturwesen ähnlicher waren als die gegenwärtigen menschlichen Betriebskräfte. So konnten die Atlantier das beherrschen, was man Lebenskraft nennt.« Sie konnten das nicht nur bei sich selbst, sondern auch mit der Lebenskraft anderer Lebewesen, insbesondere von Pflanzen. »Man denke an ein Getreidesamenkorn. In diesem schlummert eine Kraft. Diese Kraft bewirkt ja, dass aus dem Samenkorn der Halm hervorsprießt. Die Natur kann diese im Korn ruhende Kraft wecken. Der gegenwärtige Mensch kann es nicht willkürlich. Er muss das Korn in die Erde senken und das Aufwecken den Naturkräften überlassen. Der Atlantier konnte noch etwas anderes. Er wusste, wie man es macht, um die Kraft eines Kornhaufens in technische Kraft umzuwandeln, wie der gegenwärtige Mensch die Wärmekraft eines Steinkohlenhaufens in eine solche Kraft umzuwandeln vermag.« Damit ist zwar keine Anleitung zur Beherrschung der Lebenskraft gegeben, aber doch ein Brücke für das Verständnis gebaut. Und so kann Steiner auch erklären, wie die atlantischen Luftfahrzeuge angetrieben wurden: »Wie wir Vorrichtungen haben, um die in den Steinkohlen schlummernde Kraft in unseren Lokomotiven in Bewegungskraft umzubilden, so hatten die Atlantier Vorrichtungen, die sie – sozusagen – mit Pflanzensamen heizten, und in denen sich die Lebenskraft in technisch verwertbare Kraft umwandelte. So wurden die in geringer Höhe über dem Boden schwebenden Fahrzeuge der Atlantier fortbewegt.«18 Bei Scott-Elliot hatte es dazu geheißen: »Aber die allerinteressanteste Frage dabei ist die nach der Triebkraft. Anfangs scheint persönliches Vril die Triebkraft geliefert zu haben ...; später aber wurde dieses durch eine Kraft ersetzt, welche, obgleich auf eine für uns unbekannte Weise erzeugt, nichtsdestoweniger durch bestimmte maschinelle Vorrichtungen arbeitete. Dieser durch die Wissenschaft noch nicht entdeckten Kraft kommt diejenige, welche sich Keely in Amerika anzuwenden bemüht, näher als die von Maxim benutzte elektrische. Sie war in der Tat von ätherischer Natur; aber, wenn wir auch der Lösung des Problems nicht näher gekommen sind, so kann doch die Methode ihrer Anwendung beschrieben werden.« Es folgt eine detaillierte, aber nichts erklärende Schilderung der maschinellen Vorrichtungen.19

Innere Konsistenz und Nachvollziehbarkeit

Der Vergleich macht Steiners Vorgehensweise deutlich. Für ihn steht weder die Korrektur noch die Erweiterung der detaillierten Schilderungen von Scott-Elliot im Vordergrund. Er integriert das überlieferte Material in einen gedanklichen Zusammenhang, der aus dem Begriff des Gedächtnisses heraus gestaltet wird und erweitert es nur in wenigen Punkten. Genannt sei die stark abweichende Schilderung einer atlantischen Ansiedlung, die bei Rudolf Steiner viel naturnäher ist als bei Scott-Elliot, und die veränderte Konsistenz von Luft und Wasser, die in der Atlantis dichter bzw. dünner war. Davon findet sich bei Scott-Elliot nichts; die Veränderung der Konsistenz trägt aber zur Erklärung sowohl der Flugtechnik wie auch der Wasserversorgung bei.20

Rudolf Steiners Beitrag ist nicht auf Bildhaftigkeit, Detailreichtum und Sensation gerichtet, sondern auf Nachvollziehbarkeit, innere Stimmigkeit und Verständnis – das wird gerade im Vergleich mit Scott-Elliots Büchlein deutlich. Steiner schöpft aus einer anderen geistigen Sphäre als Scott-Elliot. Dessen Angaben entstammen der Imagination, sie sind in ihrer detailverliebten Zusammenhanglosigkeit geradezu ein Paradebeispiel für Imaginationen, hinter denen keine bewussten Inspirationen und Intuitionen stehen.21 Rudolf Steiners Beitrag kommt hingegen aus der Sphäre der Intuition. Er schmilzt den geistigen Gehalt der Atlantis in den Begriff des Gedächtnisses um und gestaltet diesen Gehalt als sich selbst tragenden Zusammenhang inspirativ aus. Für die weitere Umschmelzung in Imaginationen gibt es dann Gestaltungs-Spielräume. Dabei möge man sich vor Augen halten, dass solche Imaginationen ja keine sinnlich-gegenständliche Abbildung äußerer Vorgänge sind. Die Akasha-Chronik ist kein Kinofilm. In ihr ist zu »schauen, was an den Ereignissen nicht sinnlich wahrnehmbar ist, was keine Zeit von ihnen zerstören kann.«22 Die Imaginationen, in die die Eintragungen in der Akasha-Chronik gegossen werden, bringen geistige Vorgänge zum Ausdruck, die dem Sinnlich-Gegenständlichen als lebendiger Bildeprozess vorausgehen. Die Frage bei ihrer Ausgestaltung ist dann: Helfen sie, den geistigen Gehalt und Bildeprozess für ein gewöhnliches Bewusstsein greifbar zu machen? Unter diesem Gesichtspunkt kann sowohl eine Anpassung an aktuelle Vorstellungen wie auch die Anknüpfung an Traditionen angebracht sein. Beides scheint mir im Beispiel der atlantischen Luftfahrzeuge der Fall zu sein. Und warum sollte Rudolf Steiner nicht an Traditionen anknüpfen und diese in eine zeitgemäße Form gießen, wenn er sie für zutreffend erachtete und mit ihnen die Vorstellungswelt seines mit der Tradition vertrauten Publikums erreichen konnte? Selbstverständlich hat Rudolf Steiner auch Imaginationen ausgestaltet, die keine Anlehnung an Traditionen aufweisen, beispielsweise im fünften Evangelium. Viele Imaginationen haben jedoch einen traditionellen Hintergrund, man denke etwa an das Rosenkreuz. Vordergründig betrachtet hat Rudolf Steiner es der Tradition entnommen. Jedoch übernimmt er diese Imagination nicht einfach in der vorgegebenen Gestalt, sondern er entwickelt sie, modifiziert ihre Gestalt sinngemäß, macht sie durchsichtig für Inspiration und Intuition und dadurch erst verständlich. Löst man sie von diesem Hintergrund ab, betrachtet sie gar als eigentlichen Inhalt, so wird ihre Deutung als Plagiat immerhin nachvollziehbar. Sieht man sie jedoch als Ausdruck von Inspiration und Intuition, als Hilfe, um geistige Vollzüge selbst auszuüben, so mag man in einer historisch-kritischen Gesamtausgabe ihre Herkunft durchaus aufdecken, ohne damit die geistige Größe Rudolf Steiners zu mindern. Denn die liegt in erster Linie darin, dass er aus seinem Darinnenstehen in Inspiration und Intuition »das Erschaute in die Gestalt von Gedanken zu kleiden« vermochte, »die es anderen ermöglichen, es im eigenen Denken nachzuvollziehen.«23 Dafür ist sein Aufsatz über die Atlantis ein eindrucksvoller Beleg – das wird im Vergleich mit Scott-Eliott besonders deutlich. Abschließend sei eine in weitgehend unerschlossenes Gelände führende Frage gestellt. Dass Rudolf Steiner die Anthroposophie im Rahmen der Theosophischen Gesellschaft ausgestaltet hat, gehört zu ihren karmischen Entstehungsbedingungen. Sie müssen nicht für alle Zukunft beibehalten werden. Wie aber würde eine Anthroposophie aussehen, die nicht in das Gewand theosophischer Traditionen gekleidet wäre, sondern sich ohne Umweg an die mitteleuropäische Geistesentwicklung anschließen würde? Die Frage ist natürlich zunächst hypothetisch. Aber sie fördert das Verständnis der Anthroposophie. Und daran hat Rudolf Steiner jederzeit ein Interesse.

Anna-Katharina Dehmelt, geb. 1959, studierte Musik, Anthroposophie und BWL und verdient mit letzterem den Großteil ihres Lebensunterhaltes. Seit vielen Jahren in Zweigen und Arbeitszentren der Anthroposophischen Gesellschaft engagiert. Mitbegründerin der Firma für Anthroposophie. Forschungsschwerpunkt: Anthroposophische Meditation und Schulung. – Kontakt: Anna-Katharina Dehmelt, Möthengasse 16, 53347 Alfter,  AKDehmelt@gmx.de.


Anmerkungen

1 Siehe Karen Swassjan: Aufgearbeitete Anthroposophie, Dornach 2007. Dort Anm. 70 mit einem Überblick über ablehnende Rezensionen, dem noch der Beitrag von Jörg Ewertowski: Der bestrittene geschichtliche Sinn in Anthroposophie IV/2007 hinzuzufügen ist.

2 Dass er dabei die anthroposophische Sekundärliteratur wegen ihres Sinnstiftungsinteresses (S. 4) nur in wenigen Auszügen einbezieht, dürfte die anthroposophische Kritik auch nicht freundlicher gestimmt haben.

3 Siehe z.B.: Jenseits von Legende und Geheimwissenschaft von Lucian Hölscher in der Süddeutschen Zeitung vom 25. Oktober 2007.

4 Helmut Zander: Anthroposophie in Deutschland. 2 Bde, Göttingen 2007, z.B. S. 619.

5 A.a.O., S. 4.

6 A.a.O., Kap. 11, 12, 13 oder 18.

7 A.a.O., Kap. 8.4.2.

8 A.a.O., Kap. 10.

9 A.a.O., Kap. 7.

10 A.a.O., S. 686.

11 A.a.O., S. 642ff. 1

2 Aus der Akasha-Chronik, GA 11, 1986, S. 29f.

13 Atlantis nach okkulten Quellen, 1903, S. 67.

14 Aus der Akasha-Chronik, S. 24.

15 A.a.O., S. 26.

16 Atlantis nach okkulten Quellen, S. 38, 58f, 66. Scott-Elliots Buch hat ein Vorwort von Percy Sinnett, in dem Sinnett auf intelligente Weise den Begriff des astralen Hellsehens über eine Ausweitung des Begriffs des Gedächtnisses vom persönlichen Gedächtnis zum Gedächtnis der Natur entwickelt. Hier könnte ein innerer Zusammenhang bestehen, der uns jedoch an dieser Stelle nicht weiter interessieren muss.

17 Atlantis nach okkulten Quellen, S. 74, 75, 38f, 44; Aus der Akasha-Chronik, S. 31, 36, 37, 42.

18 Aus der Akasha-Chronik, S. 28f.

19 Atlantis nach okkulten Quellen, S. 66. Von Luftschiffen der Atlantier spricht bereits Blavatsky in der Geheimlehre (Verlag J.J. Couvreur, Den Haag, o.J., vermutlich 1899) und gibt dort als Quelle für die »Vimana Vidya« genannte »Kenntnis des Fliegens in Luftfahrzeugen« das Mahabharata an, in das die Kenntnisse der Atlantier eingeflossen seien (II, S. 444) Der Antrieb der Luftschiffe durch Vril bzw. dem Keely-Motor ähnliche Kräfte findet sich ebenfalls in der Geheimlehre (I, S. 614). Über Atlantis hatte innerhalb der Theosophischen Gesellschaft auch Sinnett im Geheimbuddhismus geschrieben; Luftschiffe kommen dort allerdings nicht vor.

20 Aus der Akasha-Chronik, S. 31 und S. 30, Atlantis nach okkulten Quellen, S. 55.

21 Daneben muss allerdings offen bleiben, ob Scott-Elliot nicht (auch) exoterische Quellen benutzt hat. Vgl. außerdem Die Theosophie des Rosenkreuzers, GA 99, 71985, S. 45: »Die Akasha-Chronik ist zwar zu finden im Devachan, doch sie erstreckt sich herunter bis in die astrale Welt, so daß man in dieser oft Bilder der Akasha-Chronik wie eine Fata Morgana finden kann. Sie sind aber oft unzusammenhängend und unzuverlässig ... Das ist wirklich der Fall gewesen in den Angaben von Scott-Elliot über Atlantis, die zwar durchaus stimmen, wenn man sie anwendet in bezug auf die astralen Bilder, doch nicht mehr, wenn man sie anwendet auf die devachanischen der wirklichen Akasha-Chronik.«

22 Aus der Akasha-Chronik, S. 22.

23 Ernst Lehrs: Gelebte Erwartung, Stuttgart 1979, S. 321.