Tollkühner Versuch

Harald Schwaetzer

Zu Helmut Zander: Geschichte der Seelenwanderung in Europa

Aristoteles benutzt als Beispiel seiner Lehre von der goldenen Mitte die drei Begriffe Feigheit, Mut und Tollkühnheit. Während die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Thema Reinkarnation bisher eher unter Feigheit zu subsumieren wäre, hat Helmut Zander mit seinem umfangreichen Werk einen tollkühnen Versuch vorgelegt. Der Geschichtler, Politologe und Theologe, der bereits mit einer Arbeit zu Reinkarnation und Christentum. Rudolf Steiners Theorie der Wiederverkörperung im Dialog mit der Theologie (1995) hervorgetreten ist, trägt eine immense Fülle an Autoren und Schriften zum Thema Seelenwanderung von der Antike bis zur Gegenwart zusammen. Mit diesem beeindruckenden Panorama sowohl an Vertretern wie an Facetten und Varietäten der Seelenwanderungslehre ist dem Beginn einer ernsthaften Diskussion der Weg gebahnt. Welcher Stellenwert dem Thema bislang zugemessen wurde, verrät bereits die Verunstaltung der erwähnten Arbeit Zanders seitens des Verlages und der wissenschaftlichen Buchgesellschaft auf dem Schutzumschlag: »Reintegration [!] und Christentum«.

Gerade um seiner Vorzüge willen muss man auch auf die Probleme des Bandes hinweisen. Dazu gehört weniger die Selbstkritik, die der Verfasser bereits im Vorwort übt: dass ihm sicherlich Material entgangen sei und dass er keinen kulturgeschichtlich umfassenden Entwurf vorgelegt habe (14). Darin hat er zwar Recht, aber er hat ebenso Recht, das Fragmentarische seiner Arbeit zum Programm zu erklären; schließlich legt er erst den Grundstein für einen vollkommen vernachlässigten Bereich der Sozial- und Mentalitätsforschung.

Gravierend sind vielmehr die methodischen Mängel der Studie. a) Zander fällt häufig apodiktische und zumeist negative Urteile, die eine sachlich wie methodisch nicht gegebene Eindeutigkeit suggerieren. b) Ferner fehlt eine Aufarbeitung der Motivierung und Methodik der von ihm besprochenen Anschauungen; die Studie beschränkt sich allein auf die inhaltliche Seite, dass etwa jemand eine Verkörperung in Tiere gelehrt habe, nicht aber warum. Nicht zuletzt aus diesem Grunde kommt es bereits bei der Anordnung des Materials zu unangemessenen Gewichtungen. Es verwundert deshalb nicht, wenn der Autor selbst in ihm kein geistiges Band entdecken kann (12). c) Der Umgang mit den Quellen verletzt zum Teil elementare Grundbedingungen wissenschaftlichen und philologischen Arbeitens. Wenn die Mängel im Folgenden anhand von Beispielen, die für anthroposophisch interessierte Leser von Belang sind, belegt werden, dann sei vorab darauf hingewiesen, dass es sich um grundsätzliche, vom Beispiel unabhängige Probleme handelt.

a) Ein etwas allgemeineres Beispiel in der Geschichte der Seelenwanderung ist das bekannte Reizthema Lessing. Gleich in den ersten Sätzen der Einleitung weist Zander auf Lessings »vor seinem Tod übrigens wieder zurück-genommene« Seelenwanderungslehre hin (11). Durch die Formulierung wird die Meinung suggeriert, dass die Rücknahme de facto geschehen sei. Erst auf den Seiten 343ff erfährt der Leser unter der Überschrift: »Gotthold Ephraim Lessing. Die Seelenwanderungshypothese als biographisches Zwischenspiel«, dass die Zurücknahme ein kompliziertes Interpretationskonstrukt (eines Teils) der Lessingforschung ist, welches auf der Datierung bestimmter Fragmente und ihrem Verständnis sowie auf der ihrerseits strittigen Deutung, Lessing sei Determinist, beruht – eine Frage, die schon gute 200 Jahre schwelt und die Gemüter verschiedenster Epochen erhitzte. Weder die andere Deutung des Sachverhalts, dass also Lessing seiner Hypothese treu geblieben sei, noch die Determinismus-Problematik wird dem Leser vor Augen geführt, obwohl Zander sein Urteil jetzt auf ein »vermutlich« (352) reduziert. Man mag sagen, dies sei angesichts der zu verhandelnden Themenfülle an Aufarbeitung von Diskussionen nicht zu leisten gewesen; dem wäre sogar noch zuzustimmen, wenn andererseits auch die grob vereinfachenden und unnötigen Urteile unterblieben; warum kann man das »vermutlich« nicht auch im Vorwort verwenden?

b) Zander widmet Leuten wie Christian Wagner, Heinrich Spitta oder Ernst Bloch ein eigenes, mit ihrem Namen überschriebenes Kapitel; Rudolf Steiner findet man im Inhaltsverzeichnis nicht; er wird auf vier Seiten (490-494) im Kapitel »Theosophie. Europäische Seele im indischen Gewand« behandelt (477ff). Wie auch immer man zur Qualität der Aussagen Steiners steht: quantitativ wie rezeptionsgeschichtlich kommt ihm in dieser Thematik ein bedeutenderer Platz zu als Ernst Bloch (der auch auf vier Seiten behandelt wird und dessen System nach eigenen Aussagen eine Synthese von Steiner und Husserl war, 563ff). Zander selbst dokumentiert dies nicht zuletzt dadurch, dass er Steiners Anschauung eine ganze Monographie gewidmet hat. Das in der Kapitelgliederung zum Ausdruck kommende Unverhältnis wird durch die Zuweisung Steiners zur Theosophie noch verschärft: Man kann zwar Steiner in ein Kapitel zur Theosophie einordnen, aber angesichts der unstrittigen Unterschiede wäre zumindest eine Reflexion über das Verhältnis angebracht. Dazu reicht ein zweiseitiger Hinweis auf allgemein theosophisches Traditionsgut in Steiners »Theosophie« nicht aus (490ff), zumal da Zander Unterschiede nicht nur nicht erwähnt, sondern schon die Abspaltung der Anthroposophie von der Theosophie nur im Nebensatz mitteilt (490) – ohne Angabe, weshalb sie erfolgte – man findet nur etwas später einen entstellenden Hinweis wie im Falle Lessings (494).

c) Wer ein profundes Kapitel zu Steiners Ansatz erwartet, sieht sich getäuscht. Weder die Methode noch die »Theorie Steiners«, mit welcher der Autor doch vertraut ist, werden vorgestellt. Einzig wissenschaftlich unergiebige Anekdoten, etwa über die 50 Fälle einer wiedergeborenen Maria Magdalena werden berichtet, um darauf Steiner zu zitieren, der vor solchen Eitelkeiten der Spekulation gewarnt habe. Zander fährt dann fort: »Aber Steiner selbst hat sich an Spekulationen über die Filiationen historischer Persönlichkeiten (die in seinen Augen Realitätsfeststellungen waren) in den letzten Lebensjahren aufs intensivste beteiligt (wie oben dokumentiert)« (494). Das »wie oben dokumentiert« ist freilich ein Schuss, der nach hinten losgeht. Denn das, was Zander Steiner vorwirft, Inkarnations-Spekulationen unter wissenschaftlichem Realitätsanspruch, unterläuft ihm an der genannten Stelle selbst. Rudolf Steiner hat nach Zander nämlich folgendes gelehrt: »[...] ein ungeliebter Mensch allerdings, wie der erkenntniskritische Kant, muss unter die »degenerierten« (GA 105, 106) »Neger« reinkarnieren (GA 126,35) – ein schon im Vâhan gestricktes Muster« (492). Den Rassismus-Seitenhieb übergehe ich mit Stillschweigen; dazu ist inzwischen genug gesagt worden. Klären wir den Umgang mit der Quelle. Steiner diskutiert an der erwähnten Stelle in Okkulte Geschichte (GA 126, 34f) die Frage, in welchem Verhältnis so genannte alte Seelen (d.h. solche mit vielen Inkarnationen) und junge (mit wenigen Inkarnationen) zu »Philosophen- oder Gelehrtenseelen« stehen. Man könne meinen, es seien die alten, erfahrenen Seelen, die Philosophen seien. Dazu Steiner: »Die okkulte Forschung ergibt das gerade Gegenteil, so sonderbar es klingt, und es ist für den Okkultisten selbst überraschend, dass zum Beispiel in Kant eine junge Seele lebte. Ja, die Tatsachen sagen es, da ist nichts dagegen zu machen. Und man könnte nun darauf hinweisen, dass die jüngeren Seelen sich allerdings in der Mehrzahl in den farbigen Rassen verkörpern, dass also die farbigen Rassen, namentlich die Negerrasse, vorzugsweise jüngere Seelen zur Verkörperung bringen.« Nirgendwo steht, dass Kant ein »ungeliebter« Mensch ist, dass er »unter die degenerierten Neger« reinkarnieren muss, ja dass er zu der Mehrzahl der jungen Seelen gehört, die sich in den »farbigen Rassen« verkörpern, oder gar dass er zu dieser Mehrzahl gehört, die in der »Negerrasse« wiedergeboren wird. Wenn sich der Autor bereits im Vorwort (14) für eventuelle Fehler entschuldigt, dann ist dies sehr ehrenhaft; es ist sogar verständlich, wenn sie ihm bei der Fülle des Materials, in dem er sich nicht überall auskennen kann, unterlaufen. Aber bei dem obigen Text handelt es sich um ein Gebiet, in dem Zander ausgewiesener Spezialist ist; es handelt sich um einen Text, der von einer Deutlichkeit ist, dass man auch jedem, der ohne wissenschaftlichen Anspruch schriebe, eine solche Zusammenfassung vorwerfen müsste.

Durch diese Mängel leidet das an sich verdienstvolle Unterfangen in einer Weise, die seinen wissenschaftlichen Wert wesentlich reduziert. Geboten wird ein eklektisch ausgewähltes Material, wobei die Prinzipien der Auswahl nicht reflektiert und nicht immer sachlich fundiert sind. Dieses Material wird stellenweise entstellend umgedeutet, und die Interpretation macht aus einem hypothetischen »vermutlich« an anderer Stelle ein »es ist so«. Es bleibt einem nichts anderes übrig, als von vorne bei den Quellen zu beginnen.

Zanders Studie ist ein tollkühner Versuch – so tollkühn, dass er sich damit übernommen hat. Vielleicht hätte er besser daran getan, sich auf einen bestimmten Zeitabschnitt zu beschränken und diesen dafür nicht nur gründlich, sondern auch zuverlässig zu bearbeiten. Dann hätte sein begrüßenswertes Schlussvotum einiges mehr an Gewicht gehabt: »Dass ich für alle verbleibenden Schwächen des Buches allein einstehe, versteht sich von selbst. Ich hoffe, dass an den Stellen, wo der dünne Firnis meines Wissens die Darstellungen und Deutungen fragwürdig werden lässt, zumindest Anregungen für weitere Forschungen herausspringen. Für eine Fortführung der Arbeiten kann ich mir die weitergehende Kooperation vorstellen, an der es bis dato gemangelt hat« (651). Jetzt kann man nur hoffen, dass das tollkühne Scheitern nicht ein größeres Maß an Feigheit nach sich zieht. Hoffen wir auf eine grundlegend überarbeitete zweite Auflage. Das Buch wäre sie wert.

Zander, Helmut: Geschichte der Seelenwanderung in Europa. Alternative religiöse Traditionen von der Antike bis heute. Primus-Verlag / Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt 1999. 869 Seiten, DM 98,–.