< Keine »Konversion vom Atheisten zum Theosophen« bei Steiner
08.05.2012

Zanders okkulter Sumpf


In seiner »Anthroposophie in Deutschland« stellt Helmut Zander die provokante Frage zur Steiner-Biographie: »Wie kam der ›seriöse‹ Goethe-Deuter und Philosoph Dr. Steiner in den ›okkulten Sumpf‹ der Theosophie?« Es geht ihm bei dieser Frage um die Aufklärung des bislang geheimnisvollen Kapitels in Steiners Biographie in den Jahren 1900-1904. Sein »kriminalistischer« Spürsinn führt Zander unmittelbar in die geistigen Zentren und zu den damaligen Autoritäten des »okkulten Sumpfs« in Europa: Blavatsky, Leadb[r]eater und andere.

Was Zander dabei entgangen ist, das ist die bereits längere Geschichte »höherer Erkenntnisse« und Analyse divinatorischer Fähigkeiten sowie der damit zusammenhängenden Phänomene auf dem Gebiet der Philosophie und Literatur. Auf Steiner ist unter anderem über Schillers »Der Geisterseher«, Kants »Träume eines Geistersehers«, Fichtes »Tagebuch über den animalischen Magnetismus« oder Schopenhauers »Versuch über Geistersehen« eine nicht unbeträchtliche Tradition zu diesem Thema gekommen, die eben nicht einen »okkulten Sumpf«, sondern ein wissenschaftlich philosophisches (Grenz)Gebiet bezeichnet. Das heißt, wenn es um die Erklärung der weltanschaulichen »Wende« zur Theosophie bei Steiner gehen soll, dann ist zwingend erforderlich – insbesondere unter Berücksichtigung von Steiners wissenschaftlichem und philosophischem Interesse – , diese Traditionslinie der philosophischen Geschichte der Esoterik im Blick zu behalten. Denn durch sie wird leicht erklärlich, warum sich Steiner einerseits so vehement gegenüber bestimmten Strömungen der Theosophie und dem Spiritismus abzugrenzen versucht, dabei aber andererseits den hier erörterten Phänomenen sein forschendes Interesse nicht entzogen, sondern im Gegenteil, sich mit ihnen »geisteswissenschaftlich« auseinander gesetzt hat.

Sehen wir dabei auf die unmittelbaren Einflüsse dieser Tradition auf Rudolf Steiner im Zeitraum um die Jahrhundertwende, dann kommen wir um I.H. Fichtes großes Kapitel über das »Hellsehen und die Ekstase« in seiner »Anthropologie« nicht herum. Neben der kritischen Auseinandersetzung mit den unterschiedlichsten philosophischen und literarischen Autoren, die sich mit dem Thema Hellsehen und Ekstase befasst haben, zeichnet dieses Kapitel ein klarer philosophischer Begriff und eine ebensolche Theorie des Hellsehens aus. Hellsehen, nach Fichte, ist in erster Linie keine Fähigkeit, mit der nur besonders privilegierte Geister begabt sind. Vielmehr ist das Hellsehen lediglich die Spitze einer Erkenntnislinie, auf der auch die Stationen künstlerisch-produktiver Phantasie, Intuitionen, Träume und andere Bereiche geistiger Bildekraft liegen ...

Was Steiner hier in den ersten Jahren seiner geistigen Umorientierung zur Theosophie bei I.H. Fichte vorgefunden hat, sind offensichtlich keine sirenenhaften Verlockungen, die ihn auf schlüpfrigem Pfad in den Abgrund eines »theosophischen Sumpfs« ziehen, sondern es sind klare Denkangebote, die ihn in seinem Interesse unterstützen, auch den virulenten Phänomenen des Okkulten auf dem geraden Weg wissenschaftlichen und philosophischen Forschens nachzugehen.

Hartmut Traub in »Philosophie und Anthroposophie. Die philosophische Weltanschauung Rudolf Steiners - Grundlegung und Kritik«, Stuttgart 2011, S. 994-995.