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15.08.2012

Kein Etikettenschwindel


»Zanders These«, so Andreas Hantscher in »Anthroposophie in Geschichte und Gegenwart«, »läuft darauf hinaus, dass Steiner die Inhalte der Theosophie, wie sie von den Mitgliedern der 1875 gegründeten Theosophischen Gesellschaft vertreten wurden, über Jahre hinweg rezipierte und sie lediglich unter einem neuen Markenzeichen anbot, womit seine Gleichsetzung [von Theosophie und Anthroposophie] legitimiert würde. ... Ich bin anderer Meinung: Steiner hatte seine Geisteswissenschaft bereits vor seiner Bekanntschaft mit der Theosophie Blavatskyscher Prägung in nuce ausgeformt und vor dem Publikum der Theosophischen Gesellschaft  dann die Gelegenheit, sie in der Auseinandersetzung mit der Theosophie, deren Terminologie er zeitweise adaptierte, zu formen und auszugestalten. Dabei verdankt er der Theosophie einiges, verstand sich auch selbst als Theosoph, aber er stand in der Theosophie mit ebenso vielem in Konflikt. Zum Teil ist dies auf einen begrifflichen Irrtum zurückzuführen, da man in Europa, insbesondere auf dem Kontinent, unter Theosophie traditionell etwas anderes verstand, als in den angloamerikanischen Ländern.

Genau diese Konflikte und Missverständnisse führten schließlich zur anthroposophischen ›Unabhängigkeitserklärung‹, die man unmöglich ignorieren kann. Mit seiner europaweiten Vortragstätigkeit schuf Steiner eine eigene Schülerschaft, die bei ihm etwas gelehrt bekam, was von Anfang an anders war als das, was man von anderen Theosophen lesen und hören konnte. Je mehr Steiner deren Theosophieverständnis begriff, indem er sich in deren Lehren vertiefte, desto mehr wurde ihm seine eigene geistige Positioon und Eigenständigkeit bewusst, die er auch von Anbeginn an verteidigte. Diese wird gern an der Ost-West-Konfliktlinie festgemacht, aber der Bruch verläuft anders und besteht schon lange vor Steiners und Blavatskys Geburt: im Verständnis des von Steiner selbst gern beschworenen Rosenkreuzertums.

Während Steiner durch seine Goethe-Studien in einer lebendigen kontinentalen Tradition steht, gehen die angloamerikanischen Theosophen auf eine eigene Neuschöpfung des 19. Jahrhunderts zurück, die ihre Wurzeln nicht in der geistigen Erneuerung der Renaissance aus dem Erbe der Antike hat, sondern im Spiritismus.«

Anthroposophie in Geschichte und Gegenwart, S. 292-293