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11.09.2017

Zander im Urteil Christian Clements


In seiner Einleitung des Bandes 6 der kritischen Steinerausgabe (Schriften zur Anthropologie) entlarvt Clement Zanders schlampige Arbeitsweise.

Unter der Überschrift »Kritische Literatur zu Steiners Anthroposophie« schreibt er (S. XLVII-XLVIII):

»Während zur Theosophie zum gegenwärtigen Zeitpunkt wenigstens einige alternative Deutungsansätze vorliegen, findet sich die bisher einzige kritische Analyse des Anthroposophie-Fragments von 1910 in dem dieser Schrift gewidmeten Kapitel von Helmut Zanders Anthroposophie in Deutschland. Diese nimmt allerdings, obwohl es sich um Steiners erste und einzige schriftliche Darstellung seines Anthroposophiebegriffs und mit Sicherheit um einen der schwierigsten bzw. anspruchsvollsten Texte aus Steiners Feder handelt, bei Zander nur knappe zwei Seiten ein. Seine Lektüre endet in der These, dass der im Fragment entwickelte Begriff von ›Anthroposophie‹ mit der gleichnamigen, von Steiner nach 1914 entwickelten Welt- und Menschenanschauung »nichts zu tun« habe (AiD, 675). Das konzediere nicht nur der Herausgeber des entsprechenden Bandes der Gesamtausgabe, Cornelius Bohlen, sondern das sei auch Steiners eigene Auffassung gewesen: »Auch Steiner war der Meinung«, schreibt Zander, »dass er erst später die eigentliche Anthroposophie gegeben‹ habe (GA 322, 106)«. Die Schrift sei nicht als theoretischer Neuansatz gegenüber der Theosophie zu sehen, sondern als ein weiterer Versuch Steiners, sich innerhalb des theosophischen Rahmens zu profilieren. Ihre Fertigstellung sei daher 1913, nach der Abspaltung von der Theosophical Society, überflüssig geworden.

Wer allerdings die Vortragsnachschrift in GA 322 konsultiert, sucht vergeblich nach der von Zander zitierten Aussage. Steiner spricht in diesem rückblickenden Vortrag vom 2. Oktober 1920 in keiner Weise davon, dass er eine »eigentliche Anthroposophie«, die in dem Fragment von 1910 noch nicht enthalten gewesen wäre, erst später »gegeben« hätte. Vielmehr erhebt er den umgekehrten Anspruch: dass er nämlich die »eigentliche Anthroposophie bereits 1909 in der dem Buch vorausgegangenen Vortragsreihe Anthroposophie umrissen habe, und dass es ihm später nicht gelungen sei, diese damals mündlich entfaltete »eigentliche Anthroposophie« auch in dem ein Jahr später geschriebenen Buch adäquat darzustellen [...]. –

Ein weiterer Blick in GA 45 zeigt, dass der Herausgeber des Bandes, Cornelius Bohlen, keineswegs der Ansicht ist, dass der Text von 1910 mit Steiners späterer Anthroposophie »nichts zu tun habe«. Vielmehr schreibt Bohlen:

So kam es, dass die bereits weitgehend gedruckte Schrift liegen blieb. Wie in den Selbstzeugnissen am Ende dieser Ausgabe nachzulesen, sollte es dabei bleiben: auf der einen Seite war die Darstellung nicht in eine gültige Form zu bringen, auf der anderen Seite bezeichnete Steiner sie [die Darstellung von 1910, C.C.] noch 1920 /21 als die ›eigentliche Anthroposophie‹, die immer noch zu Ende zu schreiben sei.

Darüber hinaus formuliert Zander ein grundsätzliches Urteil über den Stil und die Originalität der Schrift. Er moniert eine auch in anderen Schriften zu konstatierende »Tendenz zur additiven Verfertigung von Büchern«, erkennt die im Text formulierte Theorie von zehn menschlichen Sinnen nicht als originale Gedankenschöpfung Steiners an und diskutiert eine Reihe von möglichen Quellen, ohne allerdings ein konkretes Vorbild ausmachen zu können: »Die Herkunft dieser Sinneslehre ist unklar« so Zanders Fazit, »sie dürfte aber aus der Physiologie des 19. Jahrhunderts stammen und hangt möglicherweise mit Konzepten Franz Brentanos oder Herbarts zusammen.«

Eine inhaltliche und stilistische Analyse bestätigt die steinersche Selbsteinschätzung, dass in den Ansätzen von 1909 und 1910 in der Tat schon die »eigentliche Anthroposophie« dargestellt worden ist, die dann später breit entfaltet wurde; sicherlich nicht formvollendet und inhaltlich nur in Ansätzen, aber doch ihrem eigentümlichen Charakter nach. Bei aller Fragmentarität der Anthroposophie scheint das Charakteristische anthroposophischer Gedankenentwicklung, mit dem Steiner sich substantiell über das theosophische Denken hinaus entwickelt hat und das den Vortragsstil seiner späteren Zeit in unverkennbarer Weise prägt, an verschiedenen Stellen des Fragmentes deutlich auf.