< Reduktionistisches Zerrbild
14.01.2012

Denktabus und Argumentationsverbote


Günter Röschert schreibt im Sammelband »Anthroposophie in Geschichte und Gegenwart«: »Aus Sicht einer im Aufbau begriffenen geisteswissenschaftlichen Hermeneutik sind die historisch-kritischen Forschungsmethoden im Grundsatz anzuerkennen. Abzuweisen sind aber die Versuche, eigene Vorbehalte und Argumentationsverbote, zum Beispiel den normativen Hinweis auf das naturwissenschaftliche Weltbild oder den wissenschaftlich durchaus nicht unbestrittenen literaturwissenschaftlichen Reduktionismus, unter dem Deckmantel der Forderung nach Textkritik einzuführen. Die Rückführung von Texten auf andere Texte, die ihrerseits rückzuführen wären zur Feststellung vermuteter Abhängigkeiten, ist ein iteratives Verfahren, das schon wegen seiner Endlosigkeit nicht zu verwertbaren Ergebnissen führen kann. Was steht am Ende einer diachronen Textabfolge? An dieser Stelle ist nochmals auf Zander zurückzukommen.

Gegen die von ihm geforderte Kontextualisierung ist prinzipiell nichts einzuwenden, da ja Ort und Zeit von Aussagen gerade bei der besonderen Art der Werksentwicklung bei Steiner selbstverständlich wichtige Hilfsgrößen darstellen. Außer der Binnenperspektive darf auch der äußere Kontext nicht übersehen werden. Aber auch dieses Prinzip kann totgeritten werden, wenn es nicht begleitet wird von der Wahrheitsfrage. Diese fehlt bei Zander zur Gänze. Die Aufdeckung von Kontexten steht bei ihm derart im Vordergrund, dass die Wahrheitsfrage intentional verschwindet. Wenn zwei Autoren nahezu dasselbe oder Ähnliches sagen, so muss nicht unbedingt ein Abhängigkeitsverhältnis der banalsten Art vorliegen, vielmehr können sie beide in ihrer Art an ein und derselben Wahrheit Anteil haben.

Daraus ergibt sich ein abschließender Gesichtspunkt, der nicht nur Helmut Zander betrifft, sondern den wohl überwiegenden Teil derjenigen Autoren und anderen öffentlichen Personen, die sich für wissenschaftlich befähigt halten, über das Werk Rudolf Steiners und über diesen selbst zu befinden. Man geht davon aus und ist sich vielleicht sogar sicher, dass es die geistige Welt, von der Rudolf Steiner (und natürlich nicht er allein) spricht, gar nicht gibt. Gibt es sie aber nicht, so kann sie auch nicht erkannt werden. Vergessen wird dabei, dass es ebenso wenig einen Beweis für die Nichtexistenz einer geistigen Welt geben kann wie einen solchen für ihre Existenz. Das international wirkende Denkkollektiv der scientific community hat ein Denktabu errichtet, wonach von der Existenz einer wirklichen, von Wesenheiten höheren Bewusstseins erfüllten geistigen Welt nicht gesprochen werden darf, unter Androhung der Verstoßung aus dem Denkkollektiv. Helmut Zander, der sich natürlich nicht am Tabu versündigen möchte ... behilft sich mit der Konstruktion semantischer Unklarheiten und mit der Apostrophierung aller Formeln, die auf einen tatsächlichen Zugang zur geistigen Welt schließen lassen könnten. Damit reiht er sich ein in die Reihe neuerer Wissenschaftler, die trefflich über esoterische Bestrebungen der Vergangenheit zu berichten wissen, aber sofort verstummen, wenn sie explizit auf die Wahrheitsfrage und im Besonderen auf die aktuelle anthroposophische Esoterik angesprochen werden ...

Die Vorgabe des alten Paradigmas, es gebe keine geistige Welt, weshalb sie auch nicht erkannt werden könne, ja jede Rede von einer geistigen Welt sinnlos sei, ist nicht allgemein begründbar.«